Die Highlander

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Clipper „Houqua“, ca. 1850

1849 schrieb Melville den Roman, dem man allgemein nachsagt, nah an seiner eigenen Biografie zu sein. Wellingborough Redburn hat früh seinen Vater verloren, die Familie ist sozial abgestiegen. Da er an Land keine Arbeit findet, beschließt der Siebzehnjährige zur See zu fahren und heuert auf einem Handelsschiff von New York nach Liverpool an. Als Greenhorn muss er einiges erdulden und sich in die raue Welt der Seemänner erst einfinden. Auch das Schrubben der Decks und Ausmisten des Schweinekobens, das gefährliche Klettern in die Takelage sind neu für ihn. – Das alles passt gut zu dem jungen Melville, der zehn Jahre zuvor tatsächlich auf der gleichen Route zum ersten Mal zur See gefahren war.

Dass bereits zu Beginn der Reise ein Mann in suizidaler Absicht über Bord gegangen und untergegangen wäre, lässt sich im Roman, jedoch nicht in den erhaltenen Aufzeichnungen über die reale Reise finden. Solches geschah jedoch, seinem Tagebuch zufolge, als Melville nach dem Verfassen von Redburn (und dem schnell hinterhergeschobenen Weißjacke) zum ersten Mal als Passagier über den Atlantik reiste. Eindrücklich schildert er dort, wie er jenem jungen Mann ein Seil zuwirft, dieser es auch nimmt, nur um es wieder loszulassen und aus freien Stücken unterzugehen. Von Anfang an hält das Meer für Melville Schrecken und Lust zugleich bereit:

Als nun der Befehl kam, das Skysegel loszumachen, trat ein alter holländischer Matrose zu mir und sagte: „So, Knopp, Jung, nu is höchste Tied, dat du ook mol wat deist ... sühst du dat lütte Ding do boven? Do, dschüst hinner dem Stag do? Also, nu enter man fix op, Knopp, sag ik, un mak em los – fix ab mit di, Knopp!“

[...] Es war ein langer Weg, zwei Stiegen hinauf, und ich begann zu keuchen und nach Luft zu schnappen, ehe ich es zur Hälfte geschafft hatte. Aber ich hielt mich dran, bis ich zur Jakobsleiter kam. Die hatte ihren Namen zu Recht, denn sie führte mich fast in die Wolken, und zum Schluss fand ich mich zu meiner eigenen Überraschung an dem Skysegel hängen, wobei ich mich aus Leibeskräften am Mast anklammerte und meine Füße um das Takelwerk schlang, als wären sie ein zweites Paar Hände.

Einige Augenblicke stand ich ergriffen und stumm da. Auf das Meer hinaus konnte ich wegen der Dunkelheit der Nacht nicht weit sehen, und von meinem hohen Sitz sah die See aus wie ein großer schwarzer Golf, der ringsherum von emporragenden Felsenklippen umsäumt war. Es war mir, als sei ich völlig allein und wandere durch die mitternächtlichen Wolken, und jeden Augenblick erwartete ich zu fallen – fallen – fallen, wie ich es schon empfunden hatte, wenn ich in einem Albtraum lag.

[...] als alles fertig war, sang ich aus, so wie mir aufgetragen war: „Klar zum heißen!“ Und dann hissten sie, und zwar gleichzeitig mich samt Rahe und Segel, denn ich hatte keine Zeit gehabt, davon runterzukommen, so unerwartet eilig hatten sie es damit. Es schien wie ein Zauber: da hing ich und stieg immer höher.

Später jedoch erlebt er die Seefahrt so:

Als ich das Meer jetzt so ruhig und sonnig sah, konnte ich nicht umhin, mich an das Gesicht meines kleinen Bruders zu erinnern, wie er als kleines Kind in der Wiege lag. Genauso glücklich, sorglos und unschuldig sah er aus, und jede heitere kleine Welle schien Sprünge zu machen wie ein unbekümmertes Zicklein auf einer Weide und im Vorbeigehen einem ins Gesicht zu blicken, als wolle es getätschelt und geliebkost werden. Es war so, als seien es lebendige mit Herzen begabte Wesen, die zu fühlen vermochten, und ich war beinahe traurig, als wir so in sie hineinsegelten, sie unter unserem breiten Bug zu sprühendem Gischt zerschlugen und über sie hinwegliefen wie ein großer Elefant über eine Lämmerherde.

Aber was mir vielleicht als das Seltsamste von allem vorkam, war ein gewisses erstaunliches Heben und Senken des Meeres. Ich meine nicht die Wogen selbst, sondern etwas wie ein weites Steigen, Schwellen und Sinken über den ganzen Ozean hin. Es war etwas, was ich nicht zu beschreiben vermag, aber ich weiß sehr wohl, was es war und wie es mich berührte. Ich wurde fast schwindlig, wenn ich es beobachtete, und doch konnte ich den Blick nicht davon wenden, so überaus seltsam und wunderlich schien es mir.

Dem Fanzine Jacob's Ladder zufolge, das bis in die Nuller-Jahre ausschließlich fotokopiert und per Post zu beziehen war, machte auch Robert Smith, der spätere Kopf der Band The Cure, seine erste Reise als Schiffsjunge auf der Highlander. Dass er dabei ganz ähnliche Empfindungen hatte wie der junge Redburn, jedenfalls solche der dunkleren Art, sollen einige Zeilen aus seinen Songs belegen: „I've been watching me fall for it seems like years“, sang er zur Jahrtausendwende, und achtzehn Jahre zuvor bereits: „Fall, fall, fall, fall / Into the walls / Jump, jump out of time / Fall, fall, fall, fall / Out of the sky / Cover my face as the animals cry.“

Ist es da nicht naheliegend, dass Smith sich die Hanging Gardens (so der Song-Titel), in der Takelage eines Segelschiffs vorstellte, über das Meer gleitend wie ein vertikaler Wald (Bosco verticale), wie er vor einigen Jahren in Mailand, freilich an Land und immobil, errichtet wurde? Noch näherliegend scheint, dass jede gewohnte Chronologie von Lebensläufen, Texten und Ereignissen beim Sinnen über derlei Dinge völlig sinnlos und nicht zu begründen wäre. Melville soll, wie mir eine schottische Freundin anvertraute, Smith nach dem Besuch eines The Cure-Konzerts ein wütendes Telegramm geschrieben haben: „Stop! Es kann nur einen geben! Stop“ –

Verfasst von: Thomas Lang