Archaische Rache
Auge um Auge – Zug um Zug. Pearl Harbour um Atombombe. Boeing um Predator. Nine Eleven um Tora Bora. „Nur auf zwei Wegen endet eine Blutfehde“, schrieb Constanze Kindel 1989 in Geo-Epoche. „Wenn Vermittler eine Versöhnung der beiden Familien aushandeln“ oder „wenn in einer Familie keine Männer mehr übrig sind. Denn hier im Norden Albaniens folgt die Rache uralten Regeln.“ So wie auf Netflix. Und bei Melville? Ahab hat ein Bein verloren (und „vermutlich noch etwas anderes“), aber wie sollte er Moby-Dick ein Bein nehmen? Seine Rache muss asymmetrisch sein.
Melville selbst hat Moby-Dick ein „wicked book“, ein boshaftes Buch genannt. Geht es darin um das Böse als solches oder als etwas geschichtlich Wirkendes, Zeitliches? Und wer ist der Bösewicht – der „Schiffe versenken“ spielende Wal oder doch eher der von Rache getriebene Kapitän Ahab? Nehmen wir an, er wäre im Kampf mit dem weißen Wal Sieger geblieben – hätte ihm das gereicht? Oder hätte er weitergemacht, bis der letzte Wal aus den Ozeanen verschwunden gewesen wäre? Wir haben es beinah so weit gebracht ... Auf der Gegenseite jedoch ist eine derartige Verbissenheit kaum vorstellbar. Wale, die Walfänger ausrotten, tauchen in keinem biologischen oder literarischen Horizont auf, nicht dass ich wüsste.
Luzifer war als Engel geschaffen, heißt es im Bartholomäusevangelium. Doch als Gott den Menschen machte und Michael ihm sagte, er solle das nach dem Bilde Gottes entstandene Wesen anbeten, wollte er nicht. Der Mensch sei aus Erde und Lehm, erwiderte er verächtlich, wohingegen er selbst, Luzifer, „Feuer vom Feuer“ sei. Er glaubte nicht, dass Gott deshalb zornig werden könnte, scheint selbst aber zornig gewesen zu sein: „Ich werde meinen Thron gegenüber seinem Thron errichten und sein wie er.“ Bald darauf wurde er zusammen mit 660 Getreuen von Gott in die Tiefe gestürzt. – Ist Luzifers Wirken seitdem unter dem Aspekt der Rache zu sehen?
Es kann wohl keinen zweiten Thron geben, keine Ewigkeit im Wirken. Jakob Böhme schrieb über Luzifer: „Er begehrte ein Künstler zu seyn, er sahe die Schöpfung und verstund den Grund, darinnen wollte er ein eigener Gott seyn, und mit der Centralischen Feuers=Macht in allen Dingen herrschen und sich mit allen Dingen bilden, das er wäre, was er wollte, und nicht was der Schöpfer wollte“. (Ich zitiere nach Peter-André Alt, Die Ästhetik des Bösen.) Alt selbst stellt folgende These auf: „Der Ursprung des Bösen liegt in der Möglichkeit des Andersseins.“ Woher aber diese Möglichkeit kommt, bleibt unbeantwortet.
War Ahab ein Künstler? War Ismael anders? Warum heuerte der depressive Bibliothekar ausgerechnet auf der Pequod an? Wenn Ahab bereits aus dem Himmel geworfen war, wie sein falsch steifes Bein besagt, warum war es noch nicht genug, warum brauchte es ein Wesen der Tiefe? Um ihn noch weiter, endgültig hinabzuziehen? Soll die Rache hier Nähe schaffen? Wie mag sich Moby-Dick gefühlt haben mit dem an ihn gebundenen Mann, dem mit der Harpunenleine an ihm festgebundenen Mann ...
Weitere Kapitel:
Auge um Auge – Zug um Zug. Pearl Harbour um Atombombe. Boeing um Predator. Nine Eleven um Tora Bora. „Nur auf zwei Wegen endet eine Blutfehde“, schrieb Constanze Kindel 1989 in Geo-Epoche. „Wenn Vermittler eine Versöhnung der beiden Familien aushandeln“ oder „wenn in einer Familie keine Männer mehr übrig sind. Denn hier im Norden Albaniens folgt die Rache uralten Regeln.“ So wie auf Netflix. Und bei Melville? Ahab hat ein Bein verloren (und „vermutlich noch etwas anderes“), aber wie sollte er Moby-Dick ein Bein nehmen? Seine Rache muss asymmetrisch sein.
Melville selbst hat Moby-Dick ein „wicked book“, ein boshaftes Buch genannt. Geht es darin um das Böse als solches oder als etwas geschichtlich Wirkendes, Zeitliches? Und wer ist der Bösewicht – der „Schiffe versenken“ spielende Wal oder doch eher der von Rache getriebene Kapitän Ahab? Nehmen wir an, er wäre im Kampf mit dem weißen Wal Sieger geblieben – hätte ihm das gereicht? Oder hätte er weitergemacht, bis der letzte Wal aus den Ozeanen verschwunden gewesen wäre? Wir haben es beinah so weit gebracht ... Auf der Gegenseite jedoch ist eine derartige Verbissenheit kaum vorstellbar. Wale, die Walfänger ausrotten, tauchen in keinem biologischen oder literarischen Horizont auf, nicht dass ich wüsste.
Luzifer war als Engel geschaffen, heißt es im Bartholomäusevangelium. Doch als Gott den Menschen machte und Michael ihm sagte, er solle das nach dem Bilde Gottes entstandene Wesen anbeten, wollte er nicht. Der Mensch sei aus Erde und Lehm, erwiderte er verächtlich, wohingegen er selbst, Luzifer, „Feuer vom Feuer“ sei. Er glaubte nicht, dass Gott deshalb zornig werden könnte, scheint selbst aber zornig gewesen zu sein: „Ich werde meinen Thron gegenüber seinem Thron errichten und sein wie er.“ Bald darauf wurde er zusammen mit 660 Getreuen von Gott in die Tiefe gestürzt. – Ist Luzifers Wirken seitdem unter dem Aspekt der Rache zu sehen?
Es kann wohl keinen zweiten Thron geben, keine Ewigkeit im Wirken. Jakob Böhme schrieb über Luzifer: „Er begehrte ein Künstler zu seyn, er sahe die Schöpfung und verstund den Grund, darinnen wollte er ein eigener Gott seyn, und mit der Centralischen Feuers=Macht in allen Dingen herrschen und sich mit allen Dingen bilden, das er wäre, was er wollte, und nicht was der Schöpfer wollte“. (Ich zitiere nach Peter-André Alt, Die Ästhetik des Bösen.) Alt selbst stellt folgende These auf: „Der Ursprung des Bösen liegt in der Möglichkeit des Andersseins.“ Woher aber diese Möglichkeit kommt, bleibt unbeantwortet.
War Ahab ein Künstler? War Ismael anders? Warum heuerte der depressive Bibliothekar ausgerechnet auf der Pequod an? Wenn Ahab bereits aus dem Himmel geworfen war, wie sein falsch steifes Bein besagt, warum war es noch nicht genug, warum brauchte es ein Wesen der Tiefe? Um ihn noch weiter, endgültig hinabzuziehen? Soll die Rache hier Nähe schaffen? Wie mag sich Moby-Dick gefühlt haben mit dem an ihn gebundenen Mann, dem mit der Harpunenleine an ihm festgebundenen Mann ...