Grenzen der Beobachtung
Begegnungen mit unseren großen Verwandten stellen offensichtlich eine Attraktion dar. In Kanada erreicht der St.-Lorenz-Strom, der vom Ontario-See in den Atlantik führt, an seinem Unterlauf eine Breite von über 50 Kilometern. Ein starker Gezeitenhub lässt ihn an- und abschwellen, sein Wasser wird, je näher man der Mündung kommt, desto salziger. Wale schwimmen ein paar hundert Kilometer den Fluss hinauf. Boote bieten Walbeobachtungstouren an. An vielen Plätzen der Welt hat man inzwischen wieder gute Chancen, den Meeressäugern zu begegnen. Auch in europäischen Gewässern: vor Norwegen, um die Kanaren und Azoren, sogar im östlichen Mittelmeer soll man Pottwale sichten können. Nur wer schaut hier wen an?
Im Kapitel 118 des Moby-Dick steuert die Handlung bereits mit voller Fahrt auf die Katastrophe zu. Kapitän Ahab beobachtet die Sonne durch ein Navigationsinstrument – einen Quadranten. „Schließlich war die Operation beendet, und Ahab kritzelte mit einem Bleistift Zahlen auf sein Knochenbein, um ihre genaue Breite zu diesem Zeitpunkt zu berechnen ... [Ahab fragt sich:] Wo ist Moby Dick? Just in diesem Augenblick musst du auf ihn herabschauen! Meine Augen blicken genau in das Auge, das gleichzeitig ihn gewahrt – aye, genau in das Auge, das gleichzeitig alles gewahrt, was jenseits von dir liegt, oh Sonne, auf der uns unbekannten Seite!“
In Kapitel 132 ist Moby-Dick gesichtet. Der erregte Ahab lässt Boote klar machen. Zu Starbuck sagt er: „Komm her, komm her zu mir, Starbuck, und lass mich in ein Menschenauge blicken; das ist besser, als auf die See oder den Himmel zu starren, es ist besser als Gott anzustarren. – Beim grünen Land! Beim heiter heimeligen Herd! Dies ist der wahre Zauberspiegel, Mann: Ich seh mein Weib und Kind in deinem Auge. Nein, nein – bleib nur an Bord, an Bord! Geh du nicht auch ins Boot, wenn Ahab, der Gezeichnete, Jagd macht auf Moby Dick.“ – Wie wir wissen, muss kurz darauf der sympathische Starbuck dennoch sein Leben lassen.
Kapitän Ahab hat gewissermaßen die Leinen losgemacht. Die Wissenschaft, hier in Gestalt der Nautik, gibt ihm nicht, was er benötigt, keinen Wink für seine (nach Rache) dürstende Seele, auch keinen moralischen Kompass. Es ist das Auge, das dies leistet, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Die Menschlichkeit im Auge Starbucks gemahnt Ahab an seine eigene Menschlichkeit.
Was sehen Wale, wenn sie uns anschauen, ist es ihre Walartigkeit? Oder sehen sie in uns, was wir sind? In der WELT online vom 10. Februar 2008 schreibt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf über seine Begegnung mit Grauwalen bei einer Whale-Watching-Tour vor Baja California: „Sekunden später steigt direkt am Schlauchboot ein riesiger Kopf meterhoch empor. Ein faustgroßes Auge richtet sich auf uns. Wen die Walmutter ansieht, der spiegelt sich darin. Denn kaum eine Armlänge trennt uns von ihr. Im fassungslosen Staunen erfasst mich ein merkwürdiges Gefühl. Hier schaut, taxiert uns eine dem Menschen fremde Intelligenz, während ich noch ein letztes Foto zu machen versuche, bevor ich, wie hypnotisiert, dazu nicht mehr in der Lage bin. Das Auge blickt minutenlang auf die Menschen – ruhig, aber bestimmend. Dann gleitet der Kopf ins Wasser zurück.“
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Begegnungen mit unseren großen Verwandten stellen offensichtlich eine Attraktion dar. In Kanada erreicht der St.-Lorenz-Strom, der vom Ontario-See in den Atlantik führt, an seinem Unterlauf eine Breite von über 50 Kilometern. Ein starker Gezeitenhub lässt ihn an- und abschwellen, sein Wasser wird, je näher man der Mündung kommt, desto salziger. Wale schwimmen ein paar hundert Kilometer den Fluss hinauf. Boote bieten Walbeobachtungstouren an. An vielen Plätzen der Welt hat man inzwischen wieder gute Chancen, den Meeressäugern zu begegnen. Auch in europäischen Gewässern: vor Norwegen, um die Kanaren und Azoren, sogar im östlichen Mittelmeer soll man Pottwale sichten können. Nur wer schaut hier wen an?
Im Kapitel 118 des Moby-Dick steuert die Handlung bereits mit voller Fahrt auf die Katastrophe zu. Kapitän Ahab beobachtet die Sonne durch ein Navigationsinstrument – einen Quadranten. „Schließlich war die Operation beendet, und Ahab kritzelte mit einem Bleistift Zahlen auf sein Knochenbein, um ihre genaue Breite zu diesem Zeitpunkt zu berechnen ... [Ahab fragt sich:] Wo ist Moby Dick? Just in diesem Augenblick musst du auf ihn herabschauen! Meine Augen blicken genau in das Auge, das gleichzeitig ihn gewahrt – aye, genau in das Auge, das gleichzeitig alles gewahrt, was jenseits von dir liegt, oh Sonne, auf der uns unbekannten Seite!“
In Kapitel 132 ist Moby-Dick gesichtet. Der erregte Ahab lässt Boote klar machen. Zu Starbuck sagt er: „Komm her, komm her zu mir, Starbuck, und lass mich in ein Menschenauge blicken; das ist besser, als auf die See oder den Himmel zu starren, es ist besser als Gott anzustarren. – Beim grünen Land! Beim heiter heimeligen Herd! Dies ist der wahre Zauberspiegel, Mann: Ich seh mein Weib und Kind in deinem Auge. Nein, nein – bleib nur an Bord, an Bord! Geh du nicht auch ins Boot, wenn Ahab, der Gezeichnete, Jagd macht auf Moby Dick.“ – Wie wir wissen, muss kurz darauf der sympathische Starbuck dennoch sein Leben lassen.
Kapitän Ahab hat gewissermaßen die Leinen losgemacht. Die Wissenschaft, hier in Gestalt der Nautik, gibt ihm nicht, was er benötigt, keinen Wink für seine (nach Rache) dürstende Seele, auch keinen moralischen Kompass. Es ist das Auge, das dies leistet, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Die Menschlichkeit im Auge Starbucks gemahnt Ahab an seine eigene Menschlichkeit.
Was sehen Wale, wenn sie uns anschauen, ist es ihre Walartigkeit? Oder sehen sie in uns, was wir sind? In der WELT online vom 10. Februar 2008 schreibt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf über seine Begegnung mit Grauwalen bei einer Whale-Watching-Tour vor Baja California: „Sekunden später steigt direkt am Schlauchboot ein riesiger Kopf meterhoch empor. Ein faustgroßes Auge richtet sich auf uns. Wen die Walmutter ansieht, der spiegelt sich darin. Denn kaum eine Armlänge trennt uns von ihr. Im fassungslosen Staunen erfasst mich ein merkwürdiges Gefühl. Hier schaut, taxiert uns eine dem Menschen fremde Intelligenz, während ich noch ein letztes Foto zu machen versuche, bevor ich, wie hypnotisiert, dazu nicht mehr in der Lage bin. Das Auge blickt minutenlang auf die Menschen – ruhig, aber bestimmend. Dann gleitet der Kopf ins Wasser zurück.“