Jörg Schröder und Barbara Kalender – MÄRZ in Bayern

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Jörg Schröder und Barbara Kalender 1992. Foto: Bernd Hohlen

Als „eine Institution literarischer Gegenkultur in Deutschland“ bezeichnet Frank Schäfer den MÄRZ Verlag in der Zeit vom 30. November 2011. Willi Winkler schreibt in der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Todes von Jörg Schröder am 13. Juni 2020 über den Verleger, der mit seinem März-Verlag längst in die Literaturgeschichte eingegangen ist:

Bei März erschienen Bücher, die, wie der jugendbewegte Karl Heinz Bohrer in der Frankfurter Allgemeinen donnernd verkündete, „eine Epoche begründeten“ (und die seinem Nachfolger Marcel Reich-Ranicki naturgemäß ein Gräuel waren): Günter Amendts Aufklärungsbuch Sexfront gehört dazu, die von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebene Anthologie Acid, Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater, Ken Keseys Roman Einer flog übers Kuckucksnest und Valerie Solanas' Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer.

1990 entwickelten der MÄRZ Verleger Jörg Schröder und seine Partnerin Barbara Kalender ein radikal neues und bisher einmalig gebliebenes Verlagsvertriebskonzept, mit einer am Desktop produzierten Reihe, Schröder erzählt. 1990 erschien eine erste Folge Glückspilze im neu gegründeten März Desktop Verlag (Inh. Barbara Kalender). Die erste Lieferung wurde in der Hauptstraße 29 in Fuchstal-Leeder hergestellt, wo sie sich 1988 niedergelassen hatten.

Thomas Palzer berichtet im Oktober 1990 im Bayerischen Rundfunk:

Folgt man dem Ruf, der jemand vorauseilt, gelangt man paradoxerweise zu der Quelle, der der Ruf entsprang. Irgendwo hinter dem Ammersee fließt der Lech, und irgendwo hinter dem Lech finden sich noch Reste der römischen Handelsstraße Via Claudia. Hinter der Via Claudia liegt Fuchstal-Leeder, ein Dorf, wie es nur in Bayern ausgebrütet werden kann. An der Mitte des Dorfes ragt eine Kirche hoch empor, und nahe der Kirche steht ein Haus, eine Villa besser gesagt, und in der Villa, sind wir erst mal drinnen, findet sich auch die Quelle, und drinnen sprudelt Jörg Schröder.

Ein Erzähler und eine Zuhörerin sind die Autoren von Schröder erzählt: Der in Berlin geborene Verleger, Schriftsteller, Buchgestalter, Grafikdsigner Jörg Schröder und die im hessischen Stockhausen geborene Verlegerin, Buchgestalterin, Schriftstellerin, Bloggerin Barbara Kalender.

Jörg Schröders Erzählungen werden aufgenommen, abgeschrieben und von beiden gemeinsam redigiert. Autobiographische Stränge werden verknüpft mit Ereignissen aus dem öffentlichen Leben, die Erzählungen handeln also von realen Figuren. Es werden „Ross und Reiter“ genannt, nichts wird verfremdet. So hat es Jörg Schröder immer gehalten und zwangsläufig gerichtliche Auseinandersetzungen provoziert. Bereits das 1972 erschienene Buch Siegfried wurde mit zahlreichen einstweiligen Verfügungen und Unterlassungsklagen überzogen. Um diesen lästigen Auseinandersetzungen zu entgehen, kreierte das Paar einen Buchtyp, der der ohne Lager auskommt. Sie stellen nur so viele Exemplare einer Folge her, wie bestellt und vor der Auslieferung bezahlt wurden. Prophylaktisch erklären sie, sich jedem gerichtlich vorgetragenen Unterlassungsbegehren zu beugen. Das bedeutet: Nach einer einstweiligen Verfügung würde die inkriminierte Passage in der jeweiligen Folge gelöscht werden. „Dies würde uns im Hinblick auf die Nachwelt nicht weiter schmerzen, denn der vollständige Text existiert in ausreichender Anzahl bei den Subskribenten“, kommentierten Schröder/Kalender. „Wir tauschen auch weiterhin das Nichts der Apathie gegen die Dynamik des Gewissensbisses und möchten Sie als heimliche Genießer an diesem Vergnügen teilhaben lassen.“

In ihrer Erzählung Kriemhilds Lache aus dem gleichnamigen Band mit „neuen Erzählungen aus dem Leben“ berichten Barbara Kalender und Jörg Schröder von Lichter- und Menschenketten gegen Neonazis und Fremdenfeindlichkeit in Bayern:

Die erste „Lichterkette gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit“ fand am 6. Dezember 1992 statt. Nach den Übergriffen in Rostock organisierte Giovanni di Lorenzo die Initiative „München – eine Stadt sagt NEIN“, fast eine halbe Million Menschen gingen auf die Straße. Andere Städte und Dörfer folgten, und schließlich wurde das ganze Land von der Anstandswelle erfasst. Jeder erinnert sich ja noch an die Frage: Woran erkennt man den guten Deutschen? Am Wachs auf seinem Mantel.

Wir wohnten damals am Lech in einem Dorf namens Fuchstal-Leeder, und eine Woche nachdem die Münchner ihre Kerzen angezündet hatten, sagte man auch in Leeder nein. Barbara und ich beobachteten die Aktion vom Erker unseres Hauses aus. Direkt gegenüber steht die Mariensäule, deshalb entwickelten wir uns zu Spezialisten für katholische Umzüge, kannten jedes Fest und Ritual, wann oder wo Blüten und Gras gestreut werden. Die Leederer Lichterkette war im Stil einer solchen Prozession inszeniert. Zwar wurden keine Kirchenfahnen, Baldachine und Kreuze mitgeführt, aber sonst hatte der Marsch durchaus die Anmutung einer Fronleichnamsprozession. Die Dorfdemo zog an unserem Haus vorbei, bog rechts in den Hof der Gaststätte Luitpold ein, die Teilnehmer stellten sich im Halbkreis auf. Wir öffneten das Fenster, um besser hören zu können. Der Bürgermeister begann seine Rede mit: „Liebe Dorfbewohner, liebe Ausländer, Behinderte und Andersdenkende ...“ Da wussten wir, wozu wir gehören, nämlich zur Gruppe der Andersdenkenden.

(Barbara Kalender & Jörg Schröder: Kriemhilds Lache, Berlin 2013)

Verfasst von: Gunna Wendt