Ernst Weiss an den Osterseen
Der in Brünn (Mähren) geborene Arzt und Schriftsteller Ernst Weiss lebt zwischen April 1919 und Juni 1920 in München und hält sich zeitweise zur Erholung in Seeshaupt auf. In seinem letzten Roman Der Augenzeuge (1939) setzt er der Moorlandschaft zwischen dem Starnberger See und den nahegelegenen Osterseen ein literarisches Denkmal. In Begleitung seiner Eltern lässt er den Ich-Erzähler als Kind die Sommerferien in Oberbayern verbringen:
Am nächsten Tage lockte es mich in das Moor. Das Ende des Sees bestand aus immer flacher werdenden Kieselgründen, die mit Schilf bewachsen waren und um die das dicke Dampfschiff in weitem Bogen herumfuhr. Landeinwärts, jenseits der um den See führenden breiten Fahrstraße, begann eine ganz andere Landschaft, nicht festes Land, aber auch nicht Wasser, eines ging ins andere über. Einige kleine fischreiche, aber grundlose, gefährliche Seen, die Osterseen genannt, glänzten in fahlem, matten Grün. Es führten schmale Fußwege durch das Gelände, in dem sich weit und breit keine Hütte befand. Erst am Rande, dort, wo es wieder bergan ging, standen ein paar elende Baracken der Torfstecher. Alles war hier anders als am Seeufer, die Pflanzen üppiger, die Vögel schreckhafter, mit bunterem Gefieder und von unbekannten Arten, die Schmetterlinge größer, aber, wie mir schien, weniger scheu. Auch die Luft zitterte hier in der Sommerhitze anders als über den Wiesen, den Feldern, dem freien Wasser. Ich versuchte, einen Falter mit saphirfarbenen Flügeln, der sehr träge schien, zu fangen. Ich zog ihm nach, oft über weiche Stellen oder kleine Rinnsale springend. Eine alte Holzstange mit einem vermodernden Heubündel zeigte hier und da, eigentlich selten genug, Gefahr an. Mich lockte der unter meinen Füßen federnde Grund. Ich bekam endlich mit Geduld und List den Schmetterling unter meinen Hut. Dann aber dachte ich daran, dass ich ihn rau anpacken müsste, wenn ich ihn behalten wollte, und fand ihn zu schade. Er flatterte unbeirrt davon, die edelsteinfarbenen Flügel lautlos entfaltend. (Zit. aus: Ernst Weiss: Ich – der einzige Augenzeuge. Roman. München 1977, S. 37-44.)
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 167f., S. 265f.
Weitere Kapitel:
Der in Brünn (Mähren) geborene Arzt und Schriftsteller Ernst Weiss lebt zwischen April 1919 und Juni 1920 in München und hält sich zeitweise zur Erholung in Seeshaupt auf. In seinem letzten Roman Der Augenzeuge (1939) setzt er der Moorlandschaft zwischen dem Starnberger See und den nahegelegenen Osterseen ein literarisches Denkmal. In Begleitung seiner Eltern lässt er den Ich-Erzähler als Kind die Sommerferien in Oberbayern verbringen:
Am nächsten Tage lockte es mich in das Moor. Das Ende des Sees bestand aus immer flacher werdenden Kieselgründen, die mit Schilf bewachsen waren und um die das dicke Dampfschiff in weitem Bogen herumfuhr. Landeinwärts, jenseits der um den See führenden breiten Fahrstraße, begann eine ganz andere Landschaft, nicht festes Land, aber auch nicht Wasser, eines ging ins andere über. Einige kleine fischreiche, aber grundlose, gefährliche Seen, die Osterseen genannt, glänzten in fahlem, matten Grün. Es führten schmale Fußwege durch das Gelände, in dem sich weit und breit keine Hütte befand. Erst am Rande, dort, wo es wieder bergan ging, standen ein paar elende Baracken der Torfstecher. Alles war hier anders als am Seeufer, die Pflanzen üppiger, die Vögel schreckhafter, mit bunterem Gefieder und von unbekannten Arten, die Schmetterlinge größer, aber, wie mir schien, weniger scheu. Auch die Luft zitterte hier in der Sommerhitze anders als über den Wiesen, den Feldern, dem freien Wasser. Ich versuchte, einen Falter mit saphirfarbenen Flügeln, der sehr träge schien, zu fangen. Ich zog ihm nach, oft über weiche Stellen oder kleine Rinnsale springend. Eine alte Holzstange mit einem vermodernden Heubündel zeigte hier und da, eigentlich selten genug, Gefahr an. Mich lockte der unter meinen Füßen federnde Grund. Ich bekam endlich mit Geduld und List den Schmetterling unter meinen Hut. Dann aber dachte ich daran, dass ich ihn rau anpacken müsste, wenn ich ihn behalten wollte, und fand ihn zu schade. Er flatterte unbeirrt davon, die edelsteinfarbenen Flügel lautlos entfaltend. (Zit. aus: Ernst Weiss: Ich – der einzige Augenzeuge. Roman. München 1977, S. 37-44.)
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 167f., S. 265f.