Franziska zu Reventlow – Anarchie und Bohème
In München lernte Erich Mühsam Franziska zu Reventlow, der er schon in Lübeck begegnet war, näher kennen. Er charakterisierte sie als den „innerlich freiesten und natürlichsten Menschen“, dem er je begegnet sei. Er bewunderte ihren Charme, ihre „gepflegteste, geistige Kultur“, ihre „kritischste Klugheit“, ihren „anmutigsten Humor“ und ihre „vollkommenste Vorurteilungslosigkeit“. Außer ihren Namen habe sie „nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wusste, was Freiheit bedeutet.“
Franziska zu Reventlow wurde am 18. Mai 1871 als Tochter des Landrats Ludwig Graf zu Reventlow und seiner Frau Gräfin Emilie, geb. zu Rantzau, in Husum geboren. Zusammen mit fünf Geschwistern wuchs sie im Schloss vor Husum auf. Schon früh rebellierte sie gegen die Erziehung zur höheren Tochter, die vor allem durch Reglementierung und Lieblosigkeit bestimmt war. Im Alter von neunzehn Jahren verkündete sie: „Ich will und muss einmal frei werden; es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dieses maßlose Streben, Sehnen nach Freiheit.“ Sie engagierte sich im verbotenen Lübecker Ibsen-Club und wurde von ihren Eltern im Pfarrhaus von Adelby unter Kuratel gestellt. 1893, endlich volljährig, ging sie nach München, wo sie bald zum Mittelpunkt der Schwabinger Boheme avancierte. Dort führte sie ein Leben in Freiheit: ungebundene Liebe, erotische Abenteuer, eine freie Schriftstellerexistenz, Wohngemeinschaft, ein Kind ohne Vater. „Ich will überhaupt lauter Unmögliches aber lieber will ich das wollen, als mich im Möglichen schön zurechtlegen“ – diese Maxime war Bestandteil ihrer unkonventionellen Selbstinszenierung, die ihr in den Schwabinger Künstlerkreisen große Bewunderung sicherte. Man nannte sie heidnische Madonna, moderne Hetäre, Virtuosin des Lebens, grande amoureuse, Schleswig-Holsteinische Venus, tolle Gräfin, Königin der Bohème, Inkarnation der erotischen Rebellion – die Liste der Zuschreibungen ist lang.
1903 erschien ihr autobiographischer Roman Ellen Olestjerne im Verlag Julian Marchlewski. Rainer Maria Rilke schreibt in seiner Rezension, dass ihr Leben „eins von denen ist, die erzählt werden müssen, und ich glaube, dass man es vor allem jungen Menschen erzählen muss, die das Leben anfangen wollen und nicht wissen, wie“.
1913 porträtierte sie in Herr Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil den Schwabinger Kosmiker-Kreis um Ludwig Klages. Zu den wichtigsten Männern in ihrem Leben gehörten neben Klages Albrecht Hentschel, Franz Hessel, Karl Wolfskehl, Erich Mühsam, Bogdan von Suchocki – und ihr Sohn Rolf. Er kam 1897 zur Welt und wurde von ihr allein aufgezogen. Seinen Vater hat sie nie bekannt gegeben und die Schattenseiten ihrer Existenz – permanente Geldnot, Einsamkeit und Selbstzweifel – tapfer ertragen. „Ich zerbreche nie, bin der prädestinierte Phönix“, notierte sie in ihrem Tagebuch.
Im November 1910 zog sie, angeregt von ihrem Freund Erich Mühsam, nach Ascona. wo sich um die Jahrhundertwende eine Reihe von Aussteigern angesiedelt hatte. Dort entstanden ihre Romane, die alle im Münchner Albert Langen Verlag erschienen: Von Paul zu Pedro. Amouresken (1912), der Schlüsselroman über die Schwabinger Bohème, Herrn Dames Aufzeichungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913) und Der Geldkomplex (1916).
1917 publizierte sie ihre Sammlung skurriler Novellen unter dem Titel Das Logierhaus „Zur schwankenden Weltkugel“. Alltägliche Begebenheiten werden darin so überzeichnet, dass beinahe unmerklich die Dimension des Phantastischen mit der Normalität kollidiert. Am 26. Juli 1918 starb Franziska zu Reventlow an den Folgen eines Fahrradunfalls in Locarno. Sie wurde auf dem Friedhof Santa Maria in Selva in Locarno beigesetzt. Ihr letzter Roman, Der Selbstmordkomplex, wurde 1925 aus dem Nachlass veröffentlicht.
In ihrem Artikel zum 100. Todestag von Franziska zu Reventlow schreibt Antje Weber in der Süddeutschen Zeitung:
Es ist überhaupt vieles zu einfach, was man über diese Frau sagen kann, über die wohl schillerndste Gestalt der Schwabinger Bohème, Malerin, Schriftstellerin, Vielliebende, Gelegenheitsprostituierte, Heiratsschwindlerin, Übermutter. Und ja, genau, Anarchistin. Nicht in politischer Mission, das nicht. Sondern viel weiter gefasst: Franziska zu Reventlow war eine, die für ihr Leben alle geltenden gesellschaftlichen Regeln außer Kraft setzte und an deren Stelle ihre eigenen setzte. Eine Anarchistin des Herzens.
(Antje Weber, SZ, 25. Juli 2018)
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In München lernte Erich Mühsam Franziska zu Reventlow, der er schon in Lübeck begegnet war, näher kennen. Er charakterisierte sie als den „innerlich freiesten und natürlichsten Menschen“, dem er je begegnet sei. Er bewunderte ihren Charme, ihre „gepflegteste, geistige Kultur“, ihre „kritischste Klugheit“, ihren „anmutigsten Humor“ und ihre „vollkommenste Vorurteilungslosigkeit“. Außer ihren Namen habe sie „nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wusste, was Freiheit bedeutet.“
Franziska zu Reventlow wurde am 18. Mai 1871 als Tochter des Landrats Ludwig Graf zu Reventlow und seiner Frau Gräfin Emilie, geb. zu Rantzau, in Husum geboren. Zusammen mit fünf Geschwistern wuchs sie im Schloss vor Husum auf. Schon früh rebellierte sie gegen die Erziehung zur höheren Tochter, die vor allem durch Reglementierung und Lieblosigkeit bestimmt war. Im Alter von neunzehn Jahren verkündete sie: „Ich will und muss einmal frei werden; es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dieses maßlose Streben, Sehnen nach Freiheit.“ Sie engagierte sich im verbotenen Lübecker Ibsen-Club und wurde von ihren Eltern im Pfarrhaus von Adelby unter Kuratel gestellt. 1893, endlich volljährig, ging sie nach München, wo sie bald zum Mittelpunkt der Schwabinger Boheme avancierte. Dort führte sie ein Leben in Freiheit: ungebundene Liebe, erotische Abenteuer, eine freie Schriftstellerexistenz, Wohngemeinschaft, ein Kind ohne Vater. „Ich will überhaupt lauter Unmögliches aber lieber will ich das wollen, als mich im Möglichen schön zurechtlegen“ – diese Maxime war Bestandteil ihrer unkonventionellen Selbstinszenierung, die ihr in den Schwabinger Künstlerkreisen große Bewunderung sicherte. Man nannte sie heidnische Madonna, moderne Hetäre, Virtuosin des Lebens, grande amoureuse, Schleswig-Holsteinische Venus, tolle Gräfin, Königin der Bohème, Inkarnation der erotischen Rebellion – die Liste der Zuschreibungen ist lang.
1903 erschien ihr autobiographischer Roman Ellen Olestjerne im Verlag Julian Marchlewski. Rainer Maria Rilke schreibt in seiner Rezension, dass ihr Leben „eins von denen ist, die erzählt werden müssen, und ich glaube, dass man es vor allem jungen Menschen erzählen muss, die das Leben anfangen wollen und nicht wissen, wie“.
1913 porträtierte sie in Herr Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil den Schwabinger Kosmiker-Kreis um Ludwig Klages. Zu den wichtigsten Männern in ihrem Leben gehörten neben Klages Albrecht Hentschel, Franz Hessel, Karl Wolfskehl, Erich Mühsam, Bogdan von Suchocki – und ihr Sohn Rolf. Er kam 1897 zur Welt und wurde von ihr allein aufgezogen. Seinen Vater hat sie nie bekannt gegeben und die Schattenseiten ihrer Existenz – permanente Geldnot, Einsamkeit und Selbstzweifel – tapfer ertragen. „Ich zerbreche nie, bin der prädestinierte Phönix“, notierte sie in ihrem Tagebuch.
Im November 1910 zog sie, angeregt von ihrem Freund Erich Mühsam, nach Ascona. wo sich um die Jahrhundertwende eine Reihe von Aussteigern angesiedelt hatte. Dort entstanden ihre Romane, die alle im Münchner Albert Langen Verlag erschienen: Von Paul zu Pedro. Amouresken (1912), der Schlüsselroman über die Schwabinger Bohème, Herrn Dames Aufzeichungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913) und Der Geldkomplex (1916).
1917 publizierte sie ihre Sammlung skurriler Novellen unter dem Titel Das Logierhaus „Zur schwankenden Weltkugel“. Alltägliche Begebenheiten werden darin so überzeichnet, dass beinahe unmerklich die Dimension des Phantastischen mit der Normalität kollidiert. Am 26. Juli 1918 starb Franziska zu Reventlow an den Folgen eines Fahrradunfalls in Locarno. Sie wurde auf dem Friedhof Santa Maria in Selva in Locarno beigesetzt. Ihr letzter Roman, Der Selbstmordkomplex, wurde 1925 aus dem Nachlass veröffentlicht.
In ihrem Artikel zum 100. Todestag von Franziska zu Reventlow schreibt Antje Weber in der Süddeutschen Zeitung:
Es ist überhaupt vieles zu einfach, was man über diese Frau sagen kann, über die wohl schillerndste Gestalt der Schwabinger Bohème, Malerin, Schriftstellerin, Vielliebende, Gelegenheitsprostituierte, Heiratsschwindlerin, Übermutter. Und ja, genau, Anarchistin. Nicht in politischer Mission, das nicht. Sondern viel weiter gefasst: Franziska zu Reventlow war eine, die für ihr Leben alle geltenden gesellschaftlichen Regeln außer Kraft setzte und an deren Stelle ihre eigenen setzte. Eine Anarchistin des Herzens.
(Antje Weber, SZ, 25. Juli 2018)