Der Kinoerzähler
„Mein Großvater Karl Hofmann (1873-1944) arbeitete lange im Apollo-Kino in der Helenenstraße in Limbach/Sachsen. Ich kannte ihn gegen sein Lebensende, mit seinem Künstlerhut, dem Spazierstock, dem breiten Ehering aus Gold, der dann und wann nach Chemnitz ins Pfandhaus ging, doch immer wiederkam. Auf die Idee, mit einem Stock zu laufen, hat er mich gebracht, lange nach seinem Tode. Er hatte Probleme mit den Zähnen und sagte: Wenn überhaupt, werde ich mal vom Gebiß aus sterben. Schließlich brachte ihn etwas ganz anderes um. Mein Großvater war der Kinoerzähler und -klavierspieler von Limbach.“
So beginnt Gert Hofmanns Roman Der Kinoerzähler, der im Jahre 1990 erschien und aus dem heraus drei Hörspiele entstanden sind:
Das allmählich Verstummen des Kinoerzählers in der Tonfilmzeit (1990), Der große Stunk (1990) und Letzte Liebe (1991).
Im Roman und in allen drei Hörspielen erfahren wir, wie es dem Kinoerzähler, dem Künstler, dem Schöpfer eigener Phantasiewelten ergeht, wenn er auf die Alltäglichkeit trifft. Da ist zunächst einmal der Arbeitsplatz: das Apollo-Kino in Limbach. Es ist eines der letzten Kinos, das noch einen Kinoerzähler beschäftigt, denn fast überall hat der Tonfilm Einzug gehalten. Aus diesem Grund ruft Herr Theilhaber, der Besitzer des Apollo-Kinos, schließlich den Großvater zu sich und teilt ihm mit, dass er sein Kino schließen wolle und ihn nun nicht mehr brauche. Das Stummfilm-Theater und damit der Beruf des Kinoerzählers habe sich überlebt.
Der Großvater verteidigt seinen Beruf mit Nachdruck. Es müsse doch jemanden geben, der dem Publikum die feinere Struktur des Films erklärt. Die Zuschauer würden sonst nicht erfahren, was in einem Film alles drinsteckt. Im Übrigen habe es immer Kinoerzähler gegeben, und das werde auch in Zukunft nicht anders sein.
Es bestehe für ihn überhaupt kein Zweifel, dass die Lautsprecher an der Wand niemals die menschliche Stimme und ein lebendiges Wort ersetzen können.
Herr Theilhaber ist von dem glühenden Plädoyer des Großvaters für den Beruf des Kinoerzählers und den Stummfilm nicht zu beeindrucken und vor allem nicht umzustimmen. Er weiß, dass man vor den Tatsachen des Lebens und vor der Zukunft nicht die Augen verschließen darf. Es gibt eben Wahrheiten, die bitter schmecken und die man trotzdem akzeptieren muss. Jetzt ist die Zeit des Tonfilms gekommen! Alle neuen Filme sind so gedreht, dass ein Drumherumreden überflüssig ist, vor allem ein so ausführliches, wie es vom Großvater gepflegt wird. Nein, den Beruf des Kinoerzählers gibt es nun nicht mehr. Er ist eingegangen im Rahmen der Weiterentwicklung der Unterhaltungskunst, er wird nicht mehr benötigt.
Der Großvater fürchtet, dass nun alles zum Teufel geht, nicht nur das Kino, sondern die ganze Welt. Für ihn ist das Kino die Welt. Ein Leben ohne das Kino kann er sich nicht vorstellen. Sich selbst versteht er als einen der letzten Streiter für die Kunst und als einen Bewahrer der Kunst. Deshalb hält er auf Spaziergängen manchmal inne, um seine künstlerischen Gedanken in ein Notizbuch einzutragen. Es wäre nämlich schade, wenn sie verlorengingen. Seinem Enkel und Herrn Cosimo, die ihn oft begleiten, erzählt er von diesen Sätzen, die ihm durch den Kopf gehen und vielleicht zu Größerem führen, möglicherweise zu einem Gedicht. Als der Enkel fragt, wozu man ein Gedicht brauche, ist der Großvater empört. Mit einem Jungen, der nicht weiß, wozu man auf der Welt ein Gedicht braucht, will er nicht reden. Seine Konsequenz ist Schweigen. Er sitzt herum und starrt auf einen Punkt an der Decke. Wenn ihn der Enkel fragt, was er dort sucht, antwortet er, das, was er im vorigen Leben liegengelassen habe.
Weitere Kapitel:
„Mein Großvater Karl Hofmann (1873-1944) arbeitete lange im Apollo-Kino in der Helenenstraße in Limbach/Sachsen. Ich kannte ihn gegen sein Lebensende, mit seinem Künstlerhut, dem Spazierstock, dem breiten Ehering aus Gold, der dann und wann nach Chemnitz ins Pfandhaus ging, doch immer wiederkam. Auf die Idee, mit einem Stock zu laufen, hat er mich gebracht, lange nach seinem Tode. Er hatte Probleme mit den Zähnen und sagte: Wenn überhaupt, werde ich mal vom Gebiß aus sterben. Schließlich brachte ihn etwas ganz anderes um. Mein Großvater war der Kinoerzähler und -klavierspieler von Limbach.“
So beginnt Gert Hofmanns Roman Der Kinoerzähler, der im Jahre 1990 erschien und aus dem heraus drei Hörspiele entstanden sind:
Das allmählich Verstummen des Kinoerzählers in der Tonfilmzeit (1990), Der große Stunk (1990) und Letzte Liebe (1991).
Im Roman und in allen drei Hörspielen erfahren wir, wie es dem Kinoerzähler, dem Künstler, dem Schöpfer eigener Phantasiewelten ergeht, wenn er auf die Alltäglichkeit trifft. Da ist zunächst einmal der Arbeitsplatz: das Apollo-Kino in Limbach. Es ist eines der letzten Kinos, das noch einen Kinoerzähler beschäftigt, denn fast überall hat der Tonfilm Einzug gehalten. Aus diesem Grund ruft Herr Theilhaber, der Besitzer des Apollo-Kinos, schließlich den Großvater zu sich und teilt ihm mit, dass er sein Kino schließen wolle und ihn nun nicht mehr brauche. Das Stummfilm-Theater und damit der Beruf des Kinoerzählers habe sich überlebt.
Der Großvater verteidigt seinen Beruf mit Nachdruck. Es müsse doch jemanden geben, der dem Publikum die feinere Struktur des Films erklärt. Die Zuschauer würden sonst nicht erfahren, was in einem Film alles drinsteckt. Im Übrigen habe es immer Kinoerzähler gegeben, und das werde auch in Zukunft nicht anders sein.
Es bestehe für ihn überhaupt kein Zweifel, dass die Lautsprecher an der Wand niemals die menschliche Stimme und ein lebendiges Wort ersetzen können.
Herr Theilhaber ist von dem glühenden Plädoyer des Großvaters für den Beruf des Kinoerzählers und den Stummfilm nicht zu beeindrucken und vor allem nicht umzustimmen. Er weiß, dass man vor den Tatsachen des Lebens und vor der Zukunft nicht die Augen verschließen darf. Es gibt eben Wahrheiten, die bitter schmecken und die man trotzdem akzeptieren muss. Jetzt ist die Zeit des Tonfilms gekommen! Alle neuen Filme sind so gedreht, dass ein Drumherumreden überflüssig ist, vor allem ein so ausführliches, wie es vom Großvater gepflegt wird. Nein, den Beruf des Kinoerzählers gibt es nun nicht mehr. Er ist eingegangen im Rahmen der Weiterentwicklung der Unterhaltungskunst, er wird nicht mehr benötigt.
Der Großvater fürchtet, dass nun alles zum Teufel geht, nicht nur das Kino, sondern die ganze Welt. Für ihn ist das Kino die Welt. Ein Leben ohne das Kino kann er sich nicht vorstellen. Sich selbst versteht er als einen der letzten Streiter für die Kunst und als einen Bewahrer der Kunst. Deshalb hält er auf Spaziergängen manchmal inne, um seine künstlerischen Gedanken in ein Notizbuch einzutragen. Es wäre nämlich schade, wenn sie verlorengingen. Seinem Enkel und Herrn Cosimo, die ihn oft begleiten, erzählt er von diesen Sätzen, die ihm durch den Kopf gehen und vielleicht zu Größerem führen, möglicherweise zu einem Gedicht. Als der Enkel fragt, wozu man ein Gedicht brauche, ist der Großvater empört. Mit einem Jungen, der nicht weiß, wozu man auf der Welt ein Gedicht braucht, will er nicht reden. Seine Konsequenz ist Schweigen. Er sitzt herum und starrt auf einen Punkt an der Decke. Wenn ihn der Enkel fragt, was er dort sucht, antwortet er, das, was er im vorigen Leben liegengelassen habe.