Vom Sehen und Gesehen-Werden

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© Thomas Lang

Das Pflaster vor der Villa ist wieder intakt, der Minibagger fortgerollt. Doch etwas hat sich verändert. Iphigenias Sohn wurde überfahren, nicht weit von hier gleich vor dem Haus, in dem das Sams, der Mär zufolge, das Licht der Welt erblickte. Jemand hat das Tier gesehen und es uns weitererzählt. Iphigenia kommt nach wie vor nicht zur Treppe der Villa. Im Garten sitzt seit Tagen eine kranke Taube. Sie ist beringt und der Notdienst würde sich um sie kümmern, wenn sie festgesetzt wäre. Sie zu fangen, ist nicht so leicht. Sie bleibt wach, auch stark genug, um bis aufs Dach zu fliegen. Meine Jüngste schaut nach, was Tauben fressen, und streut für sie Reis in den Garten.

Ja, auch das hat sich verändert: Wir dürfen jetzt (eingeschränkt) Besuch empfangen. Und wir nutzen das gern. Ich genieße es, mir lieben Menschen nah zu sein. Die Hitze ist zurückgekehrt, der Schatten mehr wert denn je, die kühlende Regnitz ebenso wie die Sandsteinmauer neben den Apartments wertvoller denn je. Inzwischen setzen wir uns selbstverständlich in die Biergärten und viel routinierter setzen wir die Masken auf zu einem Schauspiel, dessen nächsten Akt noch niemand kennt.

Bis nachts um zwölf leuchten zwei riesige Strahler die Villa an und stören uns bei unseren Abend im Garten. Die Fähre hat bis morgen Vormittag den Betrieb eingestellt, nur die Radler fahren drüben vorbei, auf dem Weg in den oder aus dem Park. Am nächsten Tag sehen ich zum ersten Mal ein altes Paar die Regnitz hinabschwimmen. Sie steigen ans Ufer, trocknen sich ab. Der alte Gentleman legt seiner Frau den Badeshawl um. So gehen sie die wenigen Meter bis zu ihrem Haus.

Immer wieder bleiben Touristen drüben stehen und studieren das Schild, das die Villa erklärt. Sie lesen selten fertig, sondern heben nach wenigen Sekunden die Köpfe, um herüberzuglotzen. Ich glotze zurück und denke mir: Ihr könnt mich nicht sehen, aber ich sehe euch.

Einmal stand die Gartenpforte offen und schwups kam ein Paar hereingewackelt. Die beiden spazierten durch den Garten, als gehörte er ihnen. Ich weiß nicht, wer sie verscheucht hat. Als ich später den Garten verlassen wollte, sprach ein Handwerker mich scharf an, was ich hier zu suchen hätte. Er erkannte seinen Fehler, da war es ihm unangenehm.

Licht und Luft werden seit hundertfünfzig Jahren als Heilmittel angepriesen. Heute heißt es, sie minimierten das Risiko einer Ansteckung. Draußen tun wir so, als sei alles wie immer. Irgendwo zwischen beharrendem Trotz und Anpassung findet jeder seinen Platz in diesem pandemischen Spezialsommer.

Meine Zeit im Palastgarten neigt sich bereits dem Ende. Wie immer währt das Schöne nicht lang genug. Auch dieses Gefühl wird sich wieder ändern. Vor Kleinvenedig dümpeln ein paar bunt geschmückte Kähne. In der Fischerei, der Gasse auf der Rückseite der alten Häuschen, habe ich eine Balkeninschrift entdeckt: „Dies Haus ist mein und doch nicht mein. Nachher kommt ein anderer rein. Ist auch nicht sein.“

So sei es.

Verfasst von: Thomas Lang