Unsere berührungsfreie Zukunft

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© Thomas Lang

Zwar regnet es immer noch nicht, doch die große Hitze hat etwas nachgelassen, dunkle Wolken habe den ganzen Tag über die Erde von der Sonne abgeschirmt. Zu Füßen des Doms, im lebhaftesten Teil der Altstadt, liegt das Palais Schrottenberg. 1710 errichtet, bildete es die Residenz der Freiherrn gleichen Namens. Inzwischen ist es zu einem Hotel der leicht gehobenen Preisklasse umgebaut worden. Ich treffe mich im Hof mit einem befreundeten Bamberger Professor und einer spanischen Studentin, die im Rahmen ihrer Dissertation für drei Monate in Bamberg lebt.

In dem Hof sitzen etwa dreißig, meist junge Leute zum Teil auf extra rausgebrachten Ledersofas, zum Teil an Gartentischen und Stühlen. Vor uns liegt der Frühstücksraum bzw. die Bar des Hotels, die mit ihrer Glasfront ein wenig an einen Wintergarten erinnert. Sie hat ein Blechdach, hinter dem ein paar junge Bäume aufragen. Der Hügel steigt in dieser Richtung steil an. Die nächsten Häuser mit ihren Balkonen stehen dadurch viel höher. Es geht gegen acht. Der fortschreitende Sommer sorgt für eine dämmrige Atmosphäre. Ein Live-Hörstück wird gegeben – Die Maschine steht still nach einer Erzählung von E. M. Forster aus dem Jahr 1909. Die aufführende Truppe nennt sich Wildwuchs und besteht nach eigenen Angaben aus einem „leuchtenden Sammelsurium gescheiterter Existenzen“, vornehmlich ehemaligen Bamberger Studenten.

Wir haben noch etwas Zeit und trinken ein Sonnenbier aus der Flasche. Die Atmosphäre im Hof ist gelassen, beinah wohnzimmerhaft vertraut. Während wir ein wenig über Forster plaudern, fällt mir ein Mann auf, der auf einen der Balkone vor bzw. über uns tritt und suchend in den Himmel schaut. Die Schauspieler bzw. Sprecher sind still in den Raum gekommen, sie bleiben hinter den Glaselementen im Inneren des Raumes. Zwischen ihnen gibt es offene Abschnitte, das schafft eine seltsame Aura der Halbisoliertheit. Alle vier, zwei Männer, zwei Frauen, tragen schwarze Hosen und weiße Hemden. Sie stehen hinter Mikrofonen auf schwarzen Kisten und überragen so das Publikum. Links und rechts vor uns sind Lautsprecher aufgestellt, in der Mitte ein Bildschirm, auf dem in Schwarzweiß live aufgenommene, teils verfremdete, durch Unschärfe und Detailismus ins Abstrakte tendierende Bilder laufen. Auch die atmosphärische Klangkulisse entsteht im Moment.

Die vier lesen die Erzählung von Forster unbearbeitet. Sie ist von 1909 und schildert ein postapokalyptische Welt, in der die Menschen unterirdisch leben, wenn sie nicht mit Luftschiffen um die Welt reisen, was aber kaum noch geschieht. Soziale Bindungen spielen keine Rolle mehr, das gesamte Leben wird von einer Maschine gesteuert, von der Geburt bis zum „guten Tod“. Oberirdisch lässt sich nicht mehr leben, heißt es. Doch ein junger Mann hat Zweifel. Er besorgt sich eine Atemmaske und steigt heimlich hinauf.

Im Augenwinkel nehme ich eine Frau wahr, die über eine Dachterrasse huscht, und begreife plötzlich, wohin der Mann vorhin so suchend schaute. Zwischen den beiden scheint es eine Verbindung oder jedenfalls einen Kontakt zu geben. Die Schauspieler steigen in den kurzen Pausen von ihren Podesten um zu trinken, im Übrigen bleiben sie statuenhaft. Einer von ihnen presst seine Hand gegen die Scheibe. Die Erzählung hat eine gute Klimax, und ich bemerke kaum, wie es dunkel wird, wie drinnen die Lichter angehen. Der junge Held der Geschichte wird gerade von weißen Würmern gefesselt, die ihm an die Erdoberfläche gefolgt sind. Die Glühbirnen, die in der Mitte des Raums an schwarzen Kabeln von der Decke hängen, bekommen plötzlich auch etwas Wurmhaftes. Die großen, grau bemalten Stuckrosen, die im Hof an der Wand angebracht sind, treten immer weniger in Erscheinung. Die Maschine stoppt, doch die Menschen begreifen es noch nicht. Sie wollen im Sinne dessen, was sie beherrscht, halt weitermachen. „Das wäre der Wunsch der Maschine.“

Hat Social Distancing mit dem Getrenntsein von der Mutter zu tun, wie in diesem Text? Der lähmende Zustand der Berührungslosigkeit.

Kurz vor elf gehe ich über den Bamberger Ballermann zurück, eine Straße, in der wie, vielleicht sonst nicht, alle mit ihrem Bier vor den Wirtschaften stehen. Es ist nicht ganz klar, ob das erlaubt ist, denn Bamberg hat den Außer-Haus-Verkauf für alkoholische Getränke verboten. Die Menschen stehen dicht, aber nicht zu dicht. Sie wollen lärmen und tun es. Die Fröhlichkeit erscheint mir an diesem Abend zweifelhaft. Ein Satz aus Forsters Erzählung ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Ich spürte, dass es eine Menschlichkeit ohne Kleider gab.“ Binden wir uns den mal für eine Weile um.

Verfasst von: Thomas Lang