Für die Flötenuhr
An einem besonders heißen Morgen steige ich den Hügel zum Bamberger Dom hinauf. Jeden Samstagmittag gibt es dort ein Orgelkonzert, dreißig Minuten lang und mit auf einhundert begrenzter Zuschauerzahl. Zahlreiche Touristen umschwirren den Dom, dessen Pforten gerade geschlossen werden, weil Konzert und allgemeine Besichtigung parallel nicht erlaubt sind. Ich umrunde das Gebäude zur Hälfte. Der Einlass erfolgt über die Sakristei-Pforte. Nicht wenige Menschen sind zusammen mit mir unterwegs. Wie an einem Flaschenhals kommen wir vor einer ersten Tür, die auf einen Hof führt, zum Stehen. Ich schätze, dass etwa dreißig Leute vor mir sind. Manche, die nach mir ankommen, ziehen an mir vorbei und verdichten die Gruppe vor mir. Eine gewisse Geschäftigkeit herrscht, die mich an das Treiben einer kleinen Herde Schafe erinnert. Eine Frau mit einer Länderfahne tritt schließlich hervor und bittet den Mann am Einlass, zu warten, bis ihre Gruppe, 36 Personen, vollzählig sei. Ich rechne mir aus, dass ich noch locker reinkomme, und gehe an der zum Stillstand gekommenen Gruppe vorbei. Ich darf aber nicht eintreten, bis die Reisegruppe vollständig in dem Hinterhof der Kirche Platz gefunden hat.
Es geht gegen Mittag. Die Sonne scheint brennend heiß auf meinen Kopf, der Mundschutz nervt, von Mindestabstand keine Spur. Endlich dürfen wir in den kühlen Kirchenbau gehen. Neben dem Weihwasserbecken steht ein Staffelei mit Desinfektionsmittelspender. Nach der Handreinigung trage ich mich an einem Stehtisch mit Namen und Telefonnummer in eine Liste ein. Dabei stoße ich mit dem Schuh an den Fuß des Tisches, und der Becher mit den Kugelschreibern fällt um. Kann ich beim Einsammeln helfen? Nein. Also schaue ich zu, wie die Frau von der Orga sich bückt, und fühle mich unhöflich.
Ein Mann mit einem Plan erklärt mir, wo Einzelpersonen zu sitzen haben. Ich mache es dennoch falsch und werde ermahnt. Endlich verstehe ich, dass die Nummern auf den Bänken nicht für die Bank gelten, auf die man sich setzt, sondern für die dahinter. Vor dem Konzert herrscht ziemliche Ruhe, eine gespannte Erwartung, in die zunächst die Verkündigung der Hygienegebote über die Lautsprecher erfolgt. „Gehen Sie während des Konzerts nicht im Dom umher.“ Die strenge Atmosphäre korrespondiert mit der zurückgenommenen Innenarchitektur des Doms.
Die hundert Leute verteilen sich auf die Bänke, jede zweite und die Mitte der Sitzreihen bleiben leer. Ich sitze unter der Orgel, die, wie mir heute scheint, auf riskante Art an die Innenwand des Hauptschiffs geheftet ist. Eine Reihe waagrechter Pfeifen steht hervor wie der Stoß eines Greifvogels. Die Luft für die Orgel kommt nicht aus einer menschlichen Lunge, aber woher kommt sie? Wird sie im Innern der Kirche angesaugt und nun mittels Hunderter Pfeifen über unseren Köpfen verteilt? Vor ein paar Wochen erst habe ich mit meiner Tochter Maleficent 2 angeschaut. Da wird eine Orgel missbraucht, um über den Köpfen der in der Kirche anwesenden Fabelwesen ein tödliches Gift zu verbreiten.
Die Musik lässt mich diese Fantasien vergessen. Wir lauschen einem Stück von Bédard, das auf mich wirkt wie Filmmusik, oder wie von einem, der begeistert alles ausprobieren will, was eine Orgel so zu bieten hat. Im Unterschied dazu wirkt das Adagio von Beethoven beinah wie ein Drehleierstück. Tatsächlich wurde es für eine Flötenuhr geschrieben, also den automatischen Betrieb. Nicht weit von mir hustet jemand, er klingt verschleimt. Sofort dreht eine Frau sich zu ihm um und schaut ihn scharf an. Noch nie zu meiner Lebenszeit ist im öffentlichen Raum so viel mit Blicken gestraft worden.
Der Weg nach draußen durch eine der großen vorderen Türen ist eigentlich entspannt. Nicht alle wollen sofort nach draußen, einige schauen sich zuvor noch in der Kirche um. Nur eine drahtige Frau mit weißem Haar schafft es, sich an mir, der ich ihr offenbar zu langsam gehe, in sehr geringem Abstand vorbeizuquetschen. Ich schaue ihr strafend hinterher.
Weitere Kapitel:
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Es geht gegen Mittag. Die Sonne scheint brennend heiß auf meinen Kopf, der Mundschutz nervt, von Mindestabstand keine Spur. Endlich dürfen wir in den kühlen Kirchenbau gehen. Neben dem Weihwasserbecken steht ein Staffelei mit Desinfektionsmittelspender. Nach der Handreinigung trage ich mich an einem Stehtisch mit Namen und Telefonnummer in eine Liste ein. Dabei stoße ich mit dem Schuh an den Fuß des Tisches, und der Becher mit den Kugelschreibern fällt um. Kann ich beim Einsammeln helfen? Nein. Also schaue ich zu, wie die Frau von der Orga sich bückt, und fühle mich unhöflich.
Ein Mann mit einem Plan erklärt mir, wo Einzelpersonen zu sitzen haben. Ich mache es dennoch falsch und werde ermahnt. Endlich verstehe ich, dass die Nummern auf den Bänken nicht für die Bank gelten, auf die man sich setzt, sondern für die dahinter. Vor dem Konzert herrscht ziemliche Ruhe, eine gespannte Erwartung, in die zunächst die Verkündigung der Hygienegebote über die Lautsprecher erfolgt. „Gehen Sie während des Konzerts nicht im Dom umher.“ Die strenge Atmosphäre korrespondiert mit der zurückgenommenen Innenarchitektur des Doms.
Die hundert Leute verteilen sich auf die Bänke, jede zweite und die Mitte der Sitzreihen bleiben leer. Ich sitze unter der Orgel, die, wie mir heute scheint, auf riskante Art an die Innenwand des Hauptschiffs geheftet ist. Eine Reihe waagrechter Pfeifen steht hervor wie der Stoß eines Greifvogels. Die Luft für die Orgel kommt nicht aus einer menschlichen Lunge, aber woher kommt sie? Wird sie im Innern der Kirche angesaugt und nun mittels Hunderter Pfeifen über unseren Köpfen verteilt? Vor ein paar Wochen erst habe ich mit meiner Tochter Maleficent 2 angeschaut. Da wird eine Orgel missbraucht, um über den Köpfen der in der Kirche anwesenden Fabelwesen ein tödliches Gift zu verbreiten.
Die Musik lässt mich diese Fantasien vergessen. Wir lauschen einem Stück von Bédard, das auf mich wirkt wie Filmmusik, oder wie von einem, der begeistert alles ausprobieren will, was eine Orgel so zu bieten hat. Im Unterschied dazu wirkt das Adagio von Beethoven beinah wie ein Drehleierstück. Tatsächlich wurde es für eine Flötenuhr geschrieben, also den automatischen Betrieb. Nicht weit von mir hustet jemand, er klingt verschleimt. Sofort dreht eine Frau sich zu ihm um und schaut ihn scharf an. Noch nie zu meiner Lebenszeit ist im öffentlichen Raum so viel mit Blicken gestraft worden.
Der Weg nach draußen durch eine der großen vorderen Türen ist eigentlich entspannt. Nicht alle wollen sofort nach draußen, einige schauen sich zuvor noch in der Kirche um. Nur eine drahtige Frau mit weißem Haar schafft es, sich an mir, der ich ihr offenbar zu langsam gehe, in sehr geringem Abstand vorbeizuquetschen. Ich schaue ihr strafend hinterher.