Kreuzigungsgruppe

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© Thomas Lang

Manche Bamberger Gassen sind so eng, dass man den Mindestabstand zu sich selbst kaum einhalten kann. Für große Fußgänger- oder gar Radfahrerströme sind sie nicht konzipiert worden, für pandemische Verunsicherung erst recht nicht. Zum Glück sind sie weniger frequentiert als zum Beispiel die Fußgängerzone. Begegnet man sich, beginnt ein Spiel des Taxierens und sprachlosen Verhandelns, wie wir es im Grunde immer führen, wenn unsere Wege einander kreuzen. Nur funktioniert es sonst viel selbstverständlicher, sodass wir selbst in überfüllten Fußgängerzonen meistens gut aneinander vorbeikommen (bzw. -kamen). Derzeit gibt es keine neue Norm, manche gehen dicht an einem vorbei und schnaufen, husten oder niesen, andere scheinen eher fünf Meter Abstand zu wollen als zwei. In diesen engen Passagen kommt es zu dem, was eine Büronachbarin von mir einmal das „Corona-Ballett“ nannte. Man kurvt und tänzelt umeinander herum, vermittelt den Mitmenschen Rücksichtnahme (oder hofft, das zu tun) oder wird unversehens brutal, wenn es darum geht, den Bus zu erwischen oder in eine Veranstaltung mit begrenzter Teilnehmerzahl noch reinzukommen.

Ganz anders verhält es sich auf den relativ breiteren Straßen der Altstadt. Die Obere Brücke erinnert ein wenig an alte italienische Flussüberquerungen und führt auf einem umgekehrten, weit gespreizten V die Menschen zuerst auf eine kleine Kuppe unter dem Torbogen des alten Rathauses. Von dort geht es dann hinab. Dieser Weg ist Bambergs Nadelöhr. Hier gehen die Touristen, stehen die Touristen, fotografieren die Touristen die Stadt und sich und sich mit der Stadt. Hier heißt es häufig: Luft anhalten und durch. Warten würde nur dazu führen, dass andere Menschen, die es eiliger haben, in die entstehende Lücke vorstoßen.

Im Vorbeigehen schiele ich nach einer jungen asiatischen Familie. Die kleine Tochter – vier oder fünf, schätze ich – posiert vor dem Brückengeländer. Ein strahlendes Lächeln im Gesicht, die Augen schmal und die Arme in ich-weiß-nicht-welcher Haltung, wirkt sie so selbstbewusst wie routiniert. Die meisten Touristen in diesem Sommer sind hingegen offenbar Deutsche, zumeist ältere E-Biker oder eben flanierende junge Familien.

Oben auf der Brücke steht eine Kreuzigungsgruppe. Ein Herr Rosenzweig hat sie 1715 gestiftet und der Bamberger Bildhauer Gollwitzer hat sie in Sandstein ausgeführt. Gut dreihundert Jahre stand sie da, als der Sturm einen nahen Ast abbrach, der im Fallen die Maria beschädigte. Inzwischen ist sie restauriert und wieder an ihrem Platz. Ich bleibe eine Weile stehen und schau mir die Gruppe an. Es gibt zu viel Kunst um mich herum, die unbeachtet bleibt. Die Inszenierung ist von barocker Theatralik, die Hände der Figuren zum Beispiel wirken beinah grotesk groß. Die Muskelgruppen in den Armen Christi scheinen der Schwerkraft zu gehorchen; besonders in den Unterarmen sieht es aus, als wären sie Richtung Ellenbeuge gesackt. Das ist imposant, aber es hat eben etwas mit Zeigelust zu tun, mit der Freude am eigenen Können vielleicht, und es zielt auf die Schaulust der Passanten. Für mich verbindet es sich nur schwer mit der Memento-mori-Mentalität des Barock, dem frommen Wunsch, doch lieber im Jenseits bei Gott selig sein zu dürfen als im jammervollen Diesseits zu stecken.

Verfasst von: Thomas Lang