Anatol Regnier: Frühe Erinnerungen
Anatol Regnier. Foto: Dieter Schnöpf, CC BY-SA 3.0
Nicht außen vor gelassen werden darf in der Reihe von Ambachs berühmten Kindern und Residenten der Wedekind-Enkel Anatol Regnier. Die Schwester seiner Mutter Pamela Wedekind, seine Tante Kadidja Wedekind, beschreibt in ihrem gleichnamigen Roman den fiktiven Kinderstaat „Kalumina“– dieser Geschichte entsprach ein tatsächlich von der kindlichen Kadidja in den Sommerferien im Nachbarort Ammerland mit den sie umringenden jüngeren Knaben begründetes Kaiserreich – eine Gegenwelt zur Adoleszenz in München. Mit Eltern Pamela und Charles Regnier wächst Anatol in dem Dorf am See auf.
Anatol Regnier entwirft in Du auf deinem höchsten Dach (2007) eine Biografie der Familie Wedekind und hält in Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern (2014) seine Eindrücke über Ambach aus Kindertagen fest. Er schreibt über die unberührte Idylle der abgelegenen Ortschaft am See:
Ambach ist schmerzhaft schön. Nur eine Häuserreihe säumt das Ufer, dahinter erstrecken sich Wiesen bis zum Hügelkamm. Wo gibt es das noch? Wie lange wird es so bleiben? Alle Orte am Starnberger See haben so angefangen, nur Ambach träumt noch vor sich hin. Gott [...] sei Dank hat es mächtige Beschützer: die Fischer und Landwirte, die nichts verkaufen. Oder nichts mehr verkaufen, nachdem sie hundert Jahre vorher Städter aufs Land gelassen, die auf ihren Grundstücken Villen gebaut haben. Aber auch Bauern können schwach werden [...]. Von der Standfestigkeit, dem Traditionsbewusstsein, dem Konservatismus, den Werten der Bauern hängt alles ab. [...] Ein Schotterweg führt durch Ambach, die sogenannte Seestraße. Sie ist voller Schlaglöcher und für den allgemeinen Verkehr gesperrt, aber auch Unbefugte fahren langsam, allein aus Sorge um ihr Auto. Morgens und abends schaukeln Viehleiber über sie hinweg, kleckern reichlich und zertrampeln ein flaches Uferstück, um zu trinken. Bauern fahren mit Ochsengepann oder Traktor [...]. Die Fischer hängen ihre Netze zum Trocknen am Ufer auf. Ein Privatbus fährt nach Starnberg, ein gelbes Postauto, der so genannte „Direkte“, nach München. Zentrum des Dorfs ist der Dampfersteg und der Gasthof „Zum Fischmeister“ der Familie Bierbichler. Die Ambacher Poststelle, einem Anbau des Gasthofs, ist ein urgemütlicher, dunkel vertäfelter Raum mit Kachelofen, einem Porträt Ludwigs II. und einer hölzernen Telefonzelle [...]. Geleitet wird die Poststelle von Fräulein Anny Bierbichler, genannt „Post-Anny“, einer Respektsperson ersten Ranges.
(Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern. München 2016, S. 94ff.)
Und er berichtet von Tante Martha und Onkel Hans Carl, die in Ambach nicht ihr Glück finden sollten.
Tante Martha Newes, die acht Jahre jüngere Schwester von Tilly Wedekind, war Schauspielerin [...] und als junge Frau für kurze Zeit in der Gunst ihres Schwagers Frank Wedekind gefährlich weit oben. Ihr Mann Hans Carl Müller war Stummfilm- und Theaterschauspieler, Regisseur und zuletzt Intendant des Stadttheaters Kassel [...]. Tante Martha und Onkel Hans Carl waren unglücklich in Ambach. Ihre schweren, dunklen Möbel passten nicht in die einfachen Bauernräume, das gewohnte Flair wollte nicht aufkommen. „Die freudlose Gasse“, murmelte der Onkel, wenn er vom Balkon auf die Dorfstraße sah. Um Kultur nach Ambach zu bringen, veranstaltete er Vortragsabende im Gasthof Bierbichler, [...] las Goethe, Schiller, Heine oder Wedekind, am Ende des Abends leuchtete er den Damen mit der Taschenlampe den Weg nach Hause.
(Ebda., S. 99.)
In lebhafter Erinnerung sind ihm die Sommerfreuden am Dampfersteg geblieben. Dort haben die Regnier-Kinder allerhand Schabernack getrieben:
Wir können den Tag kaum erwarten, preschen mit unseren Rädern über die Schlaglöcher der Seestraße und bremsen scharf vor Erwachsenen, so dass es das Hinterrad herumreißt und die Erwachsenen, meist Urlauber oder Kurgäste höheren Alters, mit Staub bedeckt. Am Dampfersteg verkündet ein Schild, dass der Aufenthalt „nur Reisenden“ gestattet sei. „Nun“, fragen wir, „sind wir nicht alle Reisende? Auf dem Weg durchs Leben? Von hier nach dort? Hin nach Ambach, weg von Ambach?“ Und weil auf dem Schild „Radfahren verboten“ steht, fahren wir grundsätzlich mit unsere Rädern auf den Steg, zum Ärger von Anglern und Passanten und dem noch größeren der Schiffskapitäne, die beim Anlegen der „Bayern“ oder „Seeshaupt“ von ihrer Brücke herunterschimpfen [...]. Wir hocken auf dem Geländer, begrüßen und verabschieden Fahrgäste mit lockeren Sprüchen und springen von den Pfosten in den Strudel des abfahrenden Schiffes, die Mutigen mit Kopfsprung, die Feigen mit Arschbombe, umtost von Motorengebrumm, Auspuffdämpfen und den Flüchen des Kapitäns. So lieben wir das.
(Ebda., S. 100.)
Quelle:
Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern. München 2016.
Weitere Kapitel:
Anatol Regnier. Foto: Dieter Schnöpf, CC BY-SA 3.0
Nicht außen vor gelassen werden darf in der Reihe von Ambachs berühmten Kindern und Residenten der Wedekind-Enkel Anatol Regnier. Die Schwester seiner Mutter Pamela Wedekind, seine Tante Kadidja Wedekind, beschreibt in ihrem gleichnamigen Roman den fiktiven Kinderstaat „Kalumina“– dieser Geschichte entsprach ein tatsächlich von der kindlichen Kadidja in den Sommerferien im Nachbarort Ammerland mit den sie umringenden jüngeren Knaben begründetes Kaiserreich – eine Gegenwelt zur Adoleszenz in München. Mit Eltern Pamela und Charles Regnier wächst Anatol in dem Dorf am See auf.
Anatol Regnier entwirft in Du auf deinem höchsten Dach (2007) eine Biografie der Familie Wedekind und hält in Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern (2014) seine Eindrücke über Ambach aus Kindertagen fest. Er schreibt über die unberührte Idylle der abgelegenen Ortschaft am See:
Ambach ist schmerzhaft schön. Nur eine Häuserreihe säumt das Ufer, dahinter erstrecken sich Wiesen bis zum Hügelkamm. Wo gibt es das noch? Wie lange wird es so bleiben? Alle Orte am Starnberger See haben so angefangen, nur Ambach träumt noch vor sich hin. Gott [...] sei Dank hat es mächtige Beschützer: die Fischer und Landwirte, die nichts verkaufen. Oder nichts mehr verkaufen, nachdem sie hundert Jahre vorher Städter aufs Land gelassen, die auf ihren Grundstücken Villen gebaut haben. Aber auch Bauern können schwach werden [...]. Von der Standfestigkeit, dem Traditionsbewusstsein, dem Konservatismus, den Werten der Bauern hängt alles ab. [...] Ein Schotterweg führt durch Ambach, die sogenannte Seestraße. Sie ist voller Schlaglöcher und für den allgemeinen Verkehr gesperrt, aber auch Unbefugte fahren langsam, allein aus Sorge um ihr Auto. Morgens und abends schaukeln Viehleiber über sie hinweg, kleckern reichlich und zertrampeln ein flaches Uferstück, um zu trinken. Bauern fahren mit Ochsengepann oder Traktor [...]. Die Fischer hängen ihre Netze zum Trocknen am Ufer auf. Ein Privatbus fährt nach Starnberg, ein gelbes Postauto, der so genannte „Direkte“, nach München. Zentrum des Dorfs ist der Dampfersteg und der Gasthof „Zum Fischmeister“ der Familie Bierbichler. Die Ambacher Poststelle, einem Anbau des Gasthofs, ist ein urgemütlicher, dunkel vertäfelter Raum mit Kachelofen, einem Porträt Ludwigs II. und einer hölzernen Telefonzelle [...]. Geleitet wird die Poststelle von Fräulein Anny Bierbichler, genannt „Post-Anny“, einer Respektsperson ersten Ranges.
(Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern. München 2016, S. 94ff.)
Und er berichtet von Tante Martha und Onkel Hans Carl, die in Ambach nicht ihr Glück finden sollten.
Tante Martha Newes, die acht Jahre jüngere Schwester von Tilly Wedekind, war Schauspielerin [...] und als junge Frau für kurze Zeit in der Gunst ihres Schwagers Frank Wedekind gefährlich weit oben. Ihr Mann Hans Carl Müller war Stummfilm- und Theaterschauspieler, Regisseur und zuletzt Intendant des Stadttheaters Kassel [...]. Tante Martha und Onkel Hans Carl waren unglücklich in Ambach. Ihre schweren, dunklen Möbel passten nicht in die einfachen Bauernräume, das gewohnte Flair wollte nicht aufkommen. „Die freudlose Gasse“, murmelte der Onkel, wenn er vom Balkon auf die Dorfstraße sah. Um Kultur nach Ambach zu bringen, veranstaltete er Vortragsabende im Gasthof Bierbichler, [...] las Goethe, Schiller, Heine oder Wedekind, am Ende des Abends leuchtete er den Damen mit der Taschenlampe den Weg nach Hause.
(Ebda., S. 99.)
In lebhafter Erinnerung sind ihm die Sommerfreuden am Dampfersteg geblieben. Dort haben die Regnier-Kinder allerhand Schabernack getrieben:
Wir können den Tag kaum erwarten, preschen mit unseren Rädern über die Schlaglöcher der Seestraße und bremsen scharf vor Erwachsenen, so dass es das Hinterrad herumreißt und die Erwachsenen, meist Urlauber oder Kurgäste höheren Alters, mit Staub bedeckt. Am Dampfersteg verkündet ein Schild, dass der Aufenthalt „nur Reisenden“ gestattet sei. „Nun“, fragen wir, „sind wir nicht alle Reisende? Auf dem Weg durchs Leben? Von hier nach dort? Hin nach Ambach, weg von Ambach?“ Und weil auf dem Schild „Radfahren verboten“ steht, fahren wir grundsätzlich mit unsere Rädern auf den Steg, zum Ärger von Anglern und Passanten und dem noch größeren der Schiffskapitäne, die beim Anlegen der „Bayern“ oder „Seeshaupt“ von ihrer Brücke herunterschimpfen [...]. Wir hocken auf dem Geländer, begrüßen und verabschieden Fahrgäste mit lockeren Sprüchen und springen von den Pfosten in den Strudel des abfahrenden Schiffes, die Mutigen mit Kopfsprung, die Feigen mit Arschbombe, umtost von Motorengebrumm, Auspuffdämpfen und den Flüchen des Kapitäns. So lieben wir das.
(Ebda., S. 100.)
Quelle:
Anatol Regnier: Wir Nachgeborenen. Kinder berühmter Eltern. München 2016.