Patrick Süskind: „Die Geschichte von Herrn Sommer“ (1991)
Patrick Süskind, Sohn des Schriftstellers und Übersetzers Wilhelm Emanuel Süskind, langjähriger Freund von Klaus und Erika Mann und späterer leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, wurde 1949 in Ambach geboren. Sein tragikomisches Werk Die Geschichte von Herrn Sommer (1991) trägt sich am Starnberger See zu und beruht auf einer autobiografischen Erfahrung: Süskind begegnete seinerzeit auf seinem Weg in die Schule nach Holzhausen immer wieder einem eiligen Passanten, den er in der Geschichte Herr Sommer tauft. Der Gehetzte harrt eines Tages ausnahmsweise inne, um seine Brotzeit unter einer Fichte einzunehmen, von welcher der Ich-Erzähler im Kindesalter in den Tod springen will. Die Beobachtung seiner Rast beirrt ihn, er lässt ab von seinem törichten Vorhaben. Herr Sommer wird sich jedoch selbst einige Jahre später im See ertränken.
Aufgezogen wie eine Erinnerungsgeschichte der Kindheit, die aber mit der Wissensperspektive des Erwachsenen gepaart wird, reihen sich mit dieser Erzählung zwei weitere einsame Gestalten in Süskinds Œuvre ein. Herr Sommer will von den Menschen nichts wissen („Ja so laßt mich doch endlich in Frieden!“; Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991, S. 39), erregt jedoch mit seinen täglichen stundenlangen Wanderschaften deren große Aufmerksamkeit.
Obwohl man über die Sommers und insbesondere über Herrn Sommer so gut wie nichts wußte, kann man doch mit Fug und Recht behaupten, daß Herr Sommer damals der weitaus bekannteste Mann im ganzen Landkreis gewesen ist [...], denn Herr Sommer war ständig unterwegs. Von morgens früh bis abends spät lief Herr Sommer durch die Gegend. Kein Tag im Jahr verging, an dem Herr Sommer nicht auf den Beinen war. Es mochte schneien oder hageln, es mochte stürmen oder wie aus Kübeln gießen, die Sonne mochte brennen, ein Orkan im Anzug sein – Herr Sommer war auf Wanderschaft. Oft verließ er das Haus vor Sonnenaufgang, wie Fischer erzählten, die um vier Uhr früh auf den See hinausfuhren, um ihre Netze einzuholen, und oft kam er erst spät nachts zurück, wenn der Mond schon hoch am Himmel stand. In dieser Zeit legte er unglaublich lange Wege zurück. Den See im Verlauf eines Tages zu umrunden, was eine Strecke von ungefähr vierzig Kilometern bedeutete, war für Herrn Sommer nichts Besonderes. Zwei- oder dreimal am Tag in die Kreisstadt und zurück zu gehen, zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück – für Herrn Sommer kein Problem!
(Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991, S. 18f.)
Der zeitliche Kontext der 1950er-Jahre der Bundesrepublik erschließt die sozialgeschichtliche Bedeutung dieser Odyssee: Die Nachkriegsgesellschaft ist im Aufbau und Aufbruch begriffen, verdrängt und vergisst die Taten und Opfer des Krieges, während Sommer nicht an den Errungenschaften des Wirtschaftswunders partizipiert: Er ist der aus der Gesellschaft gefallene Außenseiter, der vom Krieg traumatisiert ständig auf der Flucht vor sich und seiner Vergangenheit ist. Das Schicksal des Herrn Sommer als Inbegriff der Krankheit an der Realität korreliert mit dem Prozess des Erwachsenwerdens, dem sich der Ich-Erzähler stellen muss. Zugleich steht der faktische Suizid eines Lebensmüden jedoch im Kontrast zu den Selbstmordphantasien des unreifen Jungen.
Herrlich, diese Phantasien! Ich schwelgte in ihnen, ich spielte die Beerdigung in immer neuen Varianten durch, von der Aufbahrung bis zum Leichenschmaus, bei dem rühmende Nachreden auf mich gehalten wurden [...]. Jammerschade nur, daß ich selbst nicht wirklich würde daran teilnehmen können [...]. Beides war nicht auf einmal zu haben: die Rache an der Welt und das Weiterleben in der Welt.
(Ebda., S. 100.)
Darüber hinaus ist die ständige Rastlosigkeit des Herrn Sommer, der unablässig seine sinn- und ziellosen Zirkel um den See dreht, ein Hinweis auf die menschliche Vergänglichkeit und Unbestimmtheit. Kein Nachbar weiß, wozu er ständig zirkelt, in dem irritierenden Tun des Herrn Sommer verbirgt sich das Geheimnis des Lebens.
Herr Sommer legte sich der Länge nach zwischen die Wurzeln auf den Waldboden wie in ein Bett. Doch er ruhte nicht in diesem Bett, er stieß, kaum daß er da lag, einen langen, schauerlich klingenden Seufzer aus – nein, es war kein Seufzer, in einem Seufzer klingt Erleichterung mit, es war eher ein ächzendes Stöhnen, ein tiefer, klagender Brustlaut, in dem sich Verzweiflung und die Sehnsucht nach Erleichterung mischten.
(Ebda., S. 104.)
Auch sein Selbstmord am Ende bleibt ein Rätsel für die Dorfgemeinde. Nach der Logik der Geschichte war dieser jedoch der einzige Ausweg. Die Aporie des Einsamen verlautbart: die Flucht aus dem irdischen Nichts. Es wird eine Vermisstenanzeige für Herrn Sommer aufgegeben, der Ich-Erzähler erzählt dabei niemandem von seiner Beobachtung, und der Verschwundene gerät bald wieder in Vergessenheit.
Schritt für Schritt, bei jedem dritten Schritt den Stock nach vorne stechend und nach hinten abstoßend, ging Herr Sommer in den See. Ging, als ginge er über Land, in der für ihn typischen zielstrebigen Hast, mitten in den See hinein, schnurgerade nach Westen. [...] Nachdem er zwanzig Meter gegangen, reichte Herrn Sommer das Wasser gerade erst über die Hüfte, und als es ihm bis zur Brust gestiegen, war er schon über einen Steinwurf vom Ufer entfernt. Und ging weiter, in nun zwar vom Wasser verlangsamter Eile, aber unaufhaltsam [...], verbissen, gierig fast, noch schneller gegen das hinderliche Wasser voranzukommen, schließlich seinen Stock von sich werfend und mit den Armen rudernd. [...] ging weiter und sackte wieder tiefer, bis an den Hals, bis an die Gurgel, bis übers Kinn [...]. Und dann, mit einem Mal, war er weg. Nur noch der Strohhut lag auf dem Wasser. Und nach einer fürchterlich langen Zeit [...] blubberten noch ein paar große Blasen empor, dann nichts mehr. Nur noch dieser lächerliche Hut, der nun ganz langsam in Richtung Südwesten davontrieb.
(Ebda., S. 121-125.)
Quelle:
Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991.
Sekundärliteratur:
Blödorn, Andreas; Hummel, Christine (Hg.) (2008): Psychogramme der Postmoderne. Neue Untersuchungen zum Werk Patrick Süskinds. Trier.
Freudenthal, David (2005): Zeichen der Einsamkeit. Sinnstiftung und Sinnverweigerung im Erzählen von Patrick Süskind. Hamburg.
Weitere Kapitel:
Patrick Süskind, Sohn des Schriftstellers und Übersetzers Wilhelm Emanuel Süskind, langjähriger Freund von Klaus und Erika Mann und späterer leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung, wurde 1949 in Ambach geboren. Sein tragikomisches Werk Die Geschichte von Herrn Sommer (1991) trägt sich am Starnberger See zu und beruht auf einer autobiografischen Erfahrung: Süskind begegnete seinerzeit auf seinem Weg in die Schule nach Holzhausen immer wieder einem eiligen Passanten, den er in der Geschichte Herr Sommer tauft. Der Gehetzte harrt eines Tages ausnahmsweise inne, um seine Brotzeit unter einer Fichte einzunehmen, von welcher der Ich-Erzähler im Kindesalter in den Tod springen will. Die Beobachtung seiner Rast beirrt ihn, er lässt ab von seinem törichten Vorhaben. Herr Sommer wird sich jedoch selbst einige Jahre später im See ertränken.
Aufgezogen wie eine Erinnerungsgeschichte der Kindheit, die aber mit der Wissensperspektive des Erwachsenen gepaart wird, reihen sich mit dieser Erzählung zwei weitere einsame Gestalten in Süskinds Œuvre ein. Herr Sommer will von den Menschen nichts wissen („Ja so laßt mich doch endlich in Frieden!“; Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991, S. 39), erregt jedoch mit seinen täglichen stundenlangen Wanderschaften deren große Aufmerksamkeit.
Obwohl man über die Sommers und insbesondere über Herrn Sommer so gut wie nichts wußte, kann man doch mit Fug und Recht behaupten, daß Herr Sommer damals der weitaus bekannteste Mann im ganzen Landkreis gewesen ist [...], denn Herr Sommer war ständig unterwegs. Von morgens früh bis abends spät lief Herr Sommer durch die Gegend. Kein Tag im Jahr verging, an dem Herr Sommer nicht auf den Beinen war. Es mochte schneien oder hageln, es mochte stürmen oder wie aus Kübeln gießen, die Sonne mochte brennen, ein Orkan im Anzug sein – Herr Sommer war auf Wanderschaft. Oft verließ er das Haus vor Sonnenaufgang, wie Fischer erzählten, die um vier Uhr früh auf den See hinausfuhren, um ihre Netze einzuholen, und oft kam er erst spät nachts zurück, wenn der Mond schon hoch am Himmel stand. In dieser Zeit legte er unglaublich lange Wege zurück. Den See im Verlauf eines Tages zu umrunden, was eine Strecke von ungefähr vierzig Kilometern bedeutete, war für Herrn Sommer nichts Besonderes. Zwei- oder dreimal am Tag in die Kreisstadt und zurück zu gehen, zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück – für Herrn Sommer kein Problem!
(Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991, S. 18f.)
Der zeitliche Kontext der 1950er-Jahre der Bundesrepublik erschließt die sozialgeschichtliche Bedeutung dieser Odyssee: Die Nachkriegsgesellschaft ist im Aufbau und Aufbruch begriffen, verdrängt und vergisst die Taten und Opfer des Krieges, während Sommer nicht an den Errungenschaften des Wirtschaftswunders partizipiert: Er ist der aus der Gesellschaft gefallene Außenseiter, der vom Krieg traumatisiert ständig auf der Flucht vor sich und seiner Vergangenheit ist. Das Schicksal des Herrn Sommer als Inbegriff der Krankheit an der Realität korreliert mit dem Prozess des Erwachsenwerdens, dem sich der Ich-Erzähler stellen muss. Zugleich steht der faktische Suizid eines Lebensmüden jedoch im Kontrast zu den Selbstmordphantasien des unreifen Jungen.
Herrlich, diese Phantasien! Ich schwelgte in ihnen, ich spielte die Beerdigung in immer neuen Varianten durch, von der Aufbahrung bis zum Leichenschmaus, bei dem rühmende Nachreden auf mich gehalten wurden [...]. Jammerschade nur, daß ich selbst nicht wirklich würde daran teilnehmen können [...]. Beides war nicht auf einmal zu haben: die Rache an der Welt und das Weiterleben in der Welt.
(Ebda., S. 100.)
Darüber hinaus ist die ständige Rastlosigkeit des Herrn Sommer, der unablässig seine sinn- und ziellosen Zirkel um den See dreht, ein Hinweis auf die menschliche Vergänglichkeit und Unbestimmtheit. Kein Nachbar weiß, wozu er ständig zirkelt, in dem irritierenden Tun des Herrn Sommer verbirgt sich das Geheimnis des Lebens.
Herr Sommer legte sich der Länge nach zwischen die Wurzeln auf den Waldboden wie in ein Bett. Doch er ruhte nicht in diesem Bett, er stieß, kaum daß er da lag, einen langen, schauerlich klingenden Seufzer aus – nein, es war kein Seufzer, in einem Seufzer klingt Erleichterung mit, es war eher ein ächzendes Stöhnen, ein tiefer, klagender Brustlaut, in dem sich Verzweiflung und die Sehnsucht nach Erleichterung mischten.
(Ebda., S. 104.)
Auch sein Selbstmord am Ende bleibt ein Rätsel für die Dorfgemeinde. Nach der Logik der Geschichte war dieser jedoch der einzige Ausweg. Die Aporie des Einsamen verlautbart: die Flucht aus dem irdischen Nichts. Es wird eine Vermisstenanzeige für Herrn Sommer aufgegeben, der Ich-Erzähler erzählt dabei niemandem von seiner Beobachtung, und der Verschwundene gerät bald wieder in Vergessenheit.
Schritt für Schritt, bei jedem dritten Schritt den Stock nach vorne stechend und nach hinten abstoßend, ging Herr Sommer in den See. Ging, als ginge er über Land, in der für ihn typischen zielstrebigen Hast, mitten in den See hinein, schnurgerade nach Westen. [...] Nachdem er zwanzig Meter gegangen, reichte Herrn Sommer das Wasser gerade erst über die Hüfte, und als es ihm bis zur Brust gestiegen, war er schon über einen Steinwurf vom Ufer entfernt. Und ging weiter, in nun zwar vom Wasser verlangsamter Eile, aber unaufhaltsam [...], verbissen, gierig fast, noch schneller gegen das hinderliche Wasser voranzukommen, schließlich seinen Stock von sich werfend und mit den Armen rudernd. [...] ging weiter und sackte wieder tiefer, bis an den Hals, bis an die Gurgel, bis übers Kinn [...]. Und dann, mit einem Mal, war er weg. Nur noch der Strohhut lag auf dem Wasser. Und nach einer fürchterlich langen Zeit [...] blubberten noch ein paar große Blasen empor, dann nichts mehr. Nur noch dieser lächerliche Hut, der nun ganz langsam in Richtung Südwesten davontrieb.
(Ebda., S. 121-125.)
Quelle:
Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer. Zürich 1991.
Blödorn, Andreas; Hummel, Christine (Hg.) (2008): Psychogramme der Postmoderne. Neue Untersuchungen zum Werk Patrick Süskinds. Trier.
Freudenthal, David (2005): Zeichen der Einsamkeit. Sinnstiftung und Sinnverweigerung im Erzählen von Patrick Süskind. Hamburg.