Adabei oder doch nicht? – „Meine Gesellschaft“ (2001)

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Kuh auf einer Straße in Vrindavan, Indien.

Spengler versteht sich selbst als einer, der dabei ist und doch nicht dabei ist – immerhin genug dabei ist, um darüber schreiben zu können. In seiner ersten Geschichte schildert er seine exklusive Behandlung auf einer Reise nach Japan. Spengler war selbst als ein Sogaku geladen, ein sogenannter Sondergast aus der Kulturszene, der protokollarisch hoch angesehen ist (ganz im Gegensatz zur Bewertung von Vertretern aus dem kulturellen Bereich in der deutschen Gesellschaft). Der Autor fand sich im Flugzeug sogar viel privilegierter platziert als der Bundestagsabgeordnete. Am japanischen Hof und beim Festessen werden diese Hierarchien dann aufgebrochen: Da nicht alle Gäste wissen, wie sie sich bei einem Essen mit dem Kaiser zu verhalten haben, erklärt ein Zeremonienmeister den Ablauf des Abends mit Hilfe einer Magnettafel. Auf dieser werden alle Geladenen durch schwarze Knöpfe wiedergegeben, das ist egalitär und demokratisch, nur der Kaiser, der Kronprinz und dessen jüngerer Bruder werden als farbige Knöpfe dargestellt. Zum schwarzen Knopf herabgesetzt fühlt der Autor sich ab und an auch in der Heimat – die Knopfmetapher gerät zu einem Leitmotiv seines Buches:

Meine Karriere als Knopf kennt Höhen und Tiefen. Mehr Tiefen vermutlich als Höhen, das unterscheidet mich gewiß nicht von anderen Zeitgenossen. [...] Genau eine Woche nach jenem bewegenden Mittagessen im Konaicho Palast sitze ich in einem Regionalzug vom Münchner Ostbahnhof in die Oberpfalz. Alle Regionalzüge der Deutschen Bundesbahn sind auf unverwechselbare Weise furchtbar, [...], doch jene, die im Winter vom Münchner Ostbahnhof in die Oberpfalz führen, sind besonders furchtbar. [...] Zu dem üblichen Beiwerk, der viel zu weit aufgedrehten, laut pochenden Heizung, dem gräulichen Kaugummi, das auf der Kopfstütze klebt, dem Geruch verschwitzter Jogginganzüge, gesellt sich diesmal noch das Gejohle einer Schulklasse [...].

(Tilman Spengler: Meine Gesellschaft, S. 7.)

Von diesen demokratischen Erdungen abgesehen ist Spengler in der oberen Riege dabei, aber vor allem als Beobachter in den eigenen Reihen. Vielleicht macht gerade dieser Umstand die Authentizität des Schriftstellers aus: Von innen heraus lässt sich das System am glaubwürdigsten demontieren:

In Bayreuth zähle ich zur erweiterten Elite, allerdings nur in der Festspielzeit. Ich könnte somit auch von einer Teilzeitelite sprechen. [...] Elite werde ich natürlich erst auf dem Weg vom Parkplatz zur Promenade um das Festspielhaus. Diese Beförderung steht in kausalem Zusammenhang mit meiner Lebensgefährtin, in deren Begleitung ich es bei den Generalproben bis in die vierte Reihe schaffe. Weiter vorn hockt nur, wen das Protokoll aus genetischen oder stammespolitischen Gründen in noch geringerem Abstand zu Richard Wagner einstuft.

(Ebda., S. 10.)

Die Luft der Elite der Empörten hat Spengler einmal geschnuppert, sich in ihrem Dunstkreis jedoch nicht etablieren können, als er sich über Botho Strauss erhob:

Dieser kleine Erfolg hätte mich in postamentibus ziemlich weit nach oben bringen können, doch leider verschiebt sich gerade das Zentralparadigma der Empörung dahingehend, daß damals zur Elite nur gehört, wer sich nicht über Strauss, sondern über die Kritik von Strauss erregt. [...] Habe ich Einwände gegen den plumpen Ausdruck Moralkeule[...] werde ich prompt der Niedertracht geziehen, mich nicht tief genug in das denkerische Werk Martin Walsers vertieft zu haben und daher nicht begriffen zu haben, daß Denken eigentlich und vor allem aus Protuberieren bestehe. In Wahrheit sei nämlich empörend, [...] daß hierzulande die Gebote der politischen Korrektheit zur Selbstkastrierung des eigenständigen Räsonnements führen. Bekrittle ich die Ausführungen Peter Handkes zur Rolle Serbiens im Jugoslawienkrieg, kann ich gewiß sein, als Bellizist, als Natoknecht, glücklichstenfalls als leichtgläubiges Propagandaopfer von Rudolf Scharping gebrandmarkt zu werden.

(Ebda., S. 24.)

Anderenorts vermischt sich Biografisches mit Erfundenem. Vor allem in den Ambach-Passagen hat der Autor einige sozialsatirische Anekdoten hinzugedichtet:

Wunder sind gar nicht so selten in Ambach. Unlängst schlägt der Blitz in die tausendjährige Linde neben der Kirche und macht erst halt, als er an das kleine Votivbild mit der Muttergottes gelangt. Wütet sich seinen heidnisch wilden Weg durch Laubkrone und Astwerk und wird dann durch ein mildes Lächeln der Madonna in seiner Bahn gebannt.

(Ebda., S. 181.)

Im letzten Kapitel erzählt Spengler von einer fünfbeinigen Kuh. Diese Geschichte ist auf ein Erlebnis in Indien zurückzuführen, wo der Autor auf selbiges Exemplar traf. Diese fünfbeinige Kuh habe ihm nie jemand geglaubt, weshalb er in all seinen Romanen bislang eine fünfbeinige Kuh untergebracht habe: „Das war meine Rache an der mir entgegengebrachten Skepsis“. (Dr. Tilman Spengler, Schriftsteller. Im Gespräch mit Sibylle Giel. Interview im Bayern Alpha-Forum, 8. Februar 2002.)

In Ambach weiß jedes Kind, wie eine fünfbeinige Kuh aussieht. Aber nur in Ambach, jedenfalls was unseren Kontinent betrifft. Wenn man es vergessen hat, geht man in den Stall vom Michl-Bauern und schaut sich das Tier noch einmal an. Direkt neben dem Schwanz ist das fünfte Bein aus dem Hintern gewachsen: nicht sehr stämmig, doch wohl gegliedert und in einem kleinen Huf auslaufend. Die Kuh heißt übrigens Clothilde, was damit zusammenhängt, dass der Michl-Bauer im ersten Frankreichfeldzug bis nach Lourdes gekommen ist und sich dort verliebt hat. Das unterscheidet ihn von seinem Bruder, der zwar fünf Mal die Erde umfahren hat, jedoch nur als Heizer auf einem U-Boot der Kriegsmarine und somit nie jemanden kennen lernte. Am Ende trifft das Boot ein Torpedo. Niemand weiß, was aus dem Bruder geworden ist. Manche im Dorf glauben sogar, es sei gut, dass kaum mehr von ihm die Rede ist. Wegen Lourdes oder wegen jener Clothilde glaubt der Michl-Bauer an die Liebe und an Wunder. Dazu hätte es der Kuh also gar nicht bedurft.

(Tilman Spengler: Meine Gesellschaft, S. 180.)

Die Geschichte endet dort, wo es einst den König Ludwig ins Wasser getrieben hat, bei der Votivkapelle in Berg. „Das ist mein Lieblingskapitel und eine Hommage an Federico Fellini und den Film E la nave va, wo ein Nashorn ausgesetzt wird. Mein Credo ist eben, dass Geschichten verzaubern. Außerdem ist es fast schon stalinistisch, 180 Seiten über sich selbst zu erzählen, da muss man sich am Ende gewaltig aus dem Staub machen. Sonst denken die Leser noch, der nimmt sich ernst.“ (Tilman Spengler im Interview: Wie ertragen Sie die feine Gesellschaft? In: Der Tagesspiegel, 4. September 2001.) Spengler schließt also mit folgenden Zeilen:

In manchen, in äußerst seltenen, himmelklaren Sommernächten, bei einer ganz bestimmten Konstellation der Sterne, ein Türkenmond auf Daumensprung neben der Venus, ein Bild, eine Erscheinung, sagen wir, eine Szene wie aus oder über dem Serail, in einer solchen Nacht holt der Milchbauer seine Clothilde aus dem Stall, führt sie zum Steg, an den er sein Boot gebunden hat und rudert mit ihr nach Norden, bis nach Berg. Rudert stehend wie ein venezianischer Gondoliere, mit leisen, gelassenen Schlägen dorthin, wo es den König ins Wasser getrieben hat. Wer das Glück hat, vom Ufer aus dem Geschehen beiwohnen zu dürfen, kann, wenn das Licht es erlaubt, ein Lächeln auf dem Gesicht der Kuh erkennen. Ein Lächeln und das wie zum Tanz angewinkelte fünfte Bein.

(Tilman Spengler: Meine Gesellschaft, S. 183.)

Und in seinem Gedicht Seeseiten nimmt Spengler nochmal einen ganz eigenen Blick auf den See ein – wobei er auch die Kuh nochmals aufgreift:

Manchmal fasst er das Allerfernste
wie eine Muschel, wie eine Leinwand
raunt, zischelt und wispert, tuschelt,
sirrt und lässt dröhnen,
tunkt sich in Gold oder ewiges Grau, gefallsüchtig eben.

Und das Nächste?
Erfasst er auch das Nächste?
Sonnenöl und Dixieland und…
Und diese Bademoden aus dem Schlussverkauf?

Aber erinnerst du dich an die Kuh,
die wie ein Heiland
vor unsren Augen
über den Wassern glitt?

Reckte das Haupt hoch über den See.
Biblisch, könnte man sagen. Hat sie die Sterne im Wasser gesehen,
die das Wasser in ihre Augen spielte?

Nein, jetzt übertreibst Du.
Das war eine Persenning vom Yachtclub,
keine Ahnung
was drunter sich verbarg,
vielleicht auch ein Fischer.

Doch das Gold, das Grau, die Wirbel,
die Stille, der Schatten der weißen Wolken,
die Sommerlaute der Kinder, das Singen,
das Ächzen des Eises im Winter?

Aufheben macht er keines davon.
Nur manchmal.

(Tilman Spengler: Seeseiten. In: Edwin Kunz: Starnberger Seeflimmern. Fischerhude 2012, S. 56.)

 

Quellen:

Tilman Spengler: Meine Gesellschaft. Berlin 2001.

Ders.: Seeseiten. In: Edwin Kunz: Starnberger Seeflimmern. Fischerhude 2012, S. 56.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Dr. Nastasja S. Dresler