Wolfgang Hildesheimer: „Die Lieblosen Legenden“ (1962)
Der 1916 in Hamburg geborene Wolfgang Hildesheimer (†1991, Poschiavo, CH) emigriert mit seinen Eltern 1933 nach Palästina, studiert zwischenzeitlich in London Bühnenbildnerei und kehrt bei Kriegsausbruch nach Palästina zurück, wo er sich als Englisch-Lehrer betätigt. Nach Kriegsende kommt er wieder nach Deutschland und arbeitet als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Vor der deutschen Vergangenheit flieht Hildesheimer aufs Land, an den Starnberger See, wo er sich in 1949 in Ambach niederlässt – der Ort, an dem seine künstlerische Phantasie ihm eine neue Heimat geben wird. Durch den Freund und Kollegen Jo von Kalckreuth, sesshaft im Nachbarort St. Heinrich, bekommt er ein Atelier in Seeheim vermittelt. Dort findet Hildesheimer urplötzlich zum Schreiben, wie er sich erinnert: Denn in den Räumlichkeiten
war es [...] sehr kalt, sehr feucht, es zog. Ich fror an den Händen und musste in die Nähe des Ofens [im Schlafzimmer] rücken, wo es aber zum Malen zu dunkel war. Unlustig – die Unlust hat in meinem Leben immer eine große, wenn nicht gar entscheidende Rolle gespielt, und ich habe ihr viel zu verdanken –, unlustig also nahm ich ein Blatt Papier zur Hand, um wenigstens zu zeichnen, aber wider jegliches Erwarten begann ich eine Geschichte zu schreiben. Am nächsten Tag schrieb ich eine zweite, und so wurde ich allmählich Schriftsteller [...].
(Zit. nach: Heißerer, Dirk [2002]: Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München 2002, Ms. BR)
Entstanden ist die Geschichte Der Kammerjäger, eine vermeintliche für Kinder vorgesehene Kriminalgeschichte, die im selben Jahr in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wird und 1952 in seiner Anthologie Lieblose Legenden erscheint, die Hans Werner Richter (Rektor der Gruppe 47) als einen Endpunkt der literarischen Kahlschlagperiode würdigt. Hildesheimer war über den Schriftsteller Walter Kolbenhoff zur Gruppe 47 gekommen, der bei seinem Zuzug bereits im Ambacher Waldschlössl gewohnt hat.
Auch die Legenden nehmen regionale Bezüge auf. So lässt sich das „Dorfwirtshaus“ in der Geschichte Eine größere Anschaffung mit großer Wahrscheinlichkeit als Replik der Bierbichler-Gaststätte lesen. Einen Höhepunkt stellt die Erzählung Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe dar, die von einem Zauberer erzählt und ihr Geschehen ebenfalls im Fischmeister situiert: „Eines Nachmittags im Juni – ich hatte den Tag auf dem Lande verbracht – saß ich im Garten eines Gasthofes unter einer Linde und trank ein Glas Apfelmost.“ (Wolfgang Hildesheimer: Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelte. In: Ders.: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962, S. 79).
Einmal unterhält er sich mit dem Zeitungsredakteur Dr. Werhahn (Wilhelm Emanuel Süskind), der, frustriert von seinem Beruf, äußert: „Ich wollte, ich wäre eine Schildkröte“. Prompt verwandelt der Protagonist diesen in selbige. Ein anderes Mal sitzt er alleine dort, bis
eine Schar von fünf jungen Mädchen den Garten [betrat], die sich an den Tisch neben dem meinen setzten. Die Mädchen sahen frisch und nett aus, aber ich war über die Störung ungehaltener und wurde noch ungehaltener, als sie zu singen begannen [...]: Wenn ich ein Vöglein wär / Und auch zwei Flügel hätt', / Flög ich zu dir. Dieses Lied habe ich immer als ziemlich dumm empfunden, zumal da die zwei Flügel ohnehin der natürliche Zubehör eines Vogels sind. Aber hier war es der darin geäußerte Wunsch, ein solcher zu sein, der mich dazu antrieb, dem Gesang ein Ende zu machen und die Sängerinnen in einen Schwarm von Spatzen zu verwandeln. Ich ging zu ihrem Tisch und schwang meinen Zauberstab, [...] [und] fünf Spatzen erhoben sich und flogen kreischend davon. Nur fünf halbleere Biergläser, ein paar angegessene Butterbrote [...] – ein Stillleben, das mich ein wenig bestürzte – zeugten davon, daß hier noch vor wenigen Sekunden volles, junges Leben im Gange gewesen war.
(Ebda., S. 79f.)
Und die Tänzerin Dombrowska in Das Ende einer Welt dürfte wohl die Frau Bonsels' sein, Rose-Marie Bachofen, während der Sammler Golch offenbar Bonsels selbst darstellt, dessen Qualitäten als Schriftsteller er süffisant begegnet:
Nachdem ich mit der Gastgeberin einige Höflichkeiten getauscht und ihre Meute langhaariger Pekinesen gestreichelt hatte, [...] wurde ich der Dombrowska vorgestellt, einer der wirklich großen Doppelbegabungen ihrer Zeit. [...] Während wir miteinander plauderten, kam ein älterer, hochaufgerichteter Herr auf uns zu. Ich erkannte ihn sogleich an seinem Profil: es war Golch. Der Golch. (Wer er ist, weiß jedermann: sein Beitrag zum geistigen Bestand ist beglückendes Allgemeingut geworden.) Die Dombrowska stellte mich vor [...]. „Aha“, sagte Golch, wobei er mit der letzten Silbe dieses Ausrufs ein leichtes Glissando nach oben vollführte, dem ich wohl entnehmen durfte, daß er mich als Nachwuchs für die Elite der Kulturträger in Betracht zog, obgleich es wohl noch manche Prüfung zu bestehen gäbe. Ich hakte sofort ein, indem ich fragte, wie ihm die Ausstellung zeitgenössischer Malerei in Luxembourg gefallen habe. [...] „Passé“, sagte er, und ich pflichtete ihm bei, [...] denn es war immerhin Golch, dem ich da gegenüberstand.
(Wolfgang Hildesheimer: Das Ende einer Welt. In: Ders.: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962, S. 9f.)
Überhaupt war der ebenfalls in Ambach ansässige antisemitische Schriftsteller Hildesheimers natürlicher Feind – es sind nur drei Jahre, bis zum Tode Bonsels' 1952, in denen die beiden Künstler benachbart waren, und die ausgereicht haben, um den ein oder anderen Hieb gegen den Kollegen auszuteilen. Bitterböse fällt ein Kommentar über das schriftstellerische Talent Bonsels' aus:
Grüblerisch veranlagten und schon völlig durchgeistigten Bücherfreunden schenke man vielleicht am besten ein Buch von Waldemar Bonsels. Da weiß man, woran man ist. Wenn ich Folgendes lese: „Menschen, die keiner Liebe und keines Glaubens an deren Mächte fähig sind, halten für Quietismus und Fatalismus, was bei den Berührten die Zuversicht an die Eigengesetzlichkeit und Tatmacht der Liebe ist...“, so fühle ich mich von der Wahrheit angetastet, ja, in einer Diskussion über derartige Themen hätte ich platterdings dasselbe behaupten können.
(Zit. nach: Heißerer, Dirk [2002]: Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München, Ms. BR)
Seine Legenden waren jedoch nicht nur eine Antwort auf schriftstellerische Kreationen wie die Bonsels'. Der politische Subtext dieses satirisch-absurden Erzählbandes beschreibt den konservativen Kulturbetrieb der bundesrepublikanischen Nachkriegsära. Die Figuren wagen nicht das Mögliche: eine neue Gesellschaft. Der Erzähler in Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe hätte die Fähigkeit, durch seine (Zauber-)Kunst seine Umwelt – die Gesellschaft – zu verändern, macht von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch – er verwandelt sich in eine Nachtigall. Hildesheimer wagt dergestalt eine Anklage des Künstler- und Intellektuellenstandes.
Sekundärliteratur:
Häntzschel, Günter; Hanuschek, Sven; Leuschner, Ulrike (Hg.) (2016): Wolfgang Hildesheimer. München.
Heißerer, Dirk (2002): Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München, Ms. BR.
Ders. (2010): Wellen, Wind und Dorfbanditen. Literarische Erkundungen am Starnberger See. München.
Jehle, Volker (2003): Scheiterndes: Kunst und Leben: Wolfgang Hildesheimer. Nordhausen.
Ders. (2003): Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte. Nordhausen.
Quelle:
Wolfgang Hildesheimer: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962.
Weitere Kapitel:
Der 1916 in Hamburg geborene Wolfgang Hildesheimer (†1991, Poschiavo, CH) emigriert mit seinen Eltern 1933 nach Palästina, studiert zwischenzeitlich in London Bühnenbildnerei und kehrt bei Kriegsausbruch nach Palästina zurück, wo er sich als Englisch-Lehrer betätigt. Nach Kriegsende kommt er wieder nach Deutschland und arbeitet als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Vor der deutschen Vergangenheit flieht Hildesheimer aufs Land, an den Starnberger See, wo er sich in 1949 in Ambach niederlässt – der Ort, an dem seine künstlerische Phantasie ihm eine neue Heimat geben wird. Durch den Freund und Kollegen Jo von Kalckreuth, sesshaft im Nachbarort St. Heinrich, bekommt er ein Atelier in Seeheim vermittelt. Dort findet Hildesheimer urplötzlich zum Schreiben, wie er sich erinnert: Denn in den Räumlichkeiten
war es [...] sehr kalt, sehr feucht, es zog. Ich fror an den Händen und musste in die Nähe des Ofens [im Schlafzimmer] rücken, wo es aber zum Malen zu dunkel war. Unlustig – die Unlust hat in meinem Leben immer eine große, wenn nicht gar entscheidende Rolle gespielt, und ich habe ihr viel zu verdanken –, unlustig also nahm ich ein Blatt Papier zur Hand, um wenigstens zu zeichnen, aber wider jegliches Erwarten begann ich eine Geschichte zu schreiben. Am nächsten Tag schrieb ich eine zweite, und so wurde ich allmählich Schriftsteller [...].
(Zit. nach: Heißerer, Dirk [2002]: Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München 2002, Ms. BR)
Entstanden ist die Geschichte Der Kammerjäger, eine vermeintliche für Kinder vorgesehene Kriminalgeschichte, die im selben Jahr in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt wird und 1952 in seiner Anthologie Lieblose Legenden erscheint, die Hans Werner Richter (Rektor der Gruppe 47) als einen Endpunkt der literarischen Kahlschlagperiode würdigt. Hildesheimer war über den Schriftsteller Walter Kolbenhoff zur Gruppe 47 gekommen, der bei seinem Zuzug bereits im Ambacher Waldschlössl gewohnt hat.
Auch die Legenden nehmen regionale Bezüge auf. So lässt sich das „Dorfwirtshaus“ in der Geschichte Eine größere Anschaffung mit großer Wahrscheinlichkeit als Replik der Bierbichler-Gaststätte lesen. Einen Höhepunkt stellt die Erzählung Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe dar, die von einem Zauberer erzählt und ihr Geschehen ebenfalls im Fischmeister situiert: „Eines Nachmittags im Juni – ich hatte den Tag auf dem Lande verbracht – saß ich im Garten eines Gasthofes unter einer Linde und trank ein Glas Apfelmost.“ (Wolfgang Hildesheimer: Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelte. In: Ders.: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962, S. 79).
Einmal unterhält er sich mit dem Zeitungsredakteur Dr. Werhahn (Wilhelm Emanuel Süskind), der, frustriert von seinem Beruf, äußert: „Ich wollte, ich wäre eine Schildkröte“. Prompt verwandelt der Protagonist diesen in selbige. Ein anderes Mal sitzt er alleine dort, bis
eine Schar von fünf jungen Mädchen den Garten [betrat], die sich an den Tisch neben dem meinen setzten. Die Mädchen sahen frisch und nett aus, aber ich war über die Störung ungehaltener und wurde noch ungehaltener, als sie zu singen begannen [...]: Wenn ich ein Vöglein wär / Und auch zwei Flügel hätt', / Flög ich zu dir. Dieses Lied habe ich immer als ziemlich dumm empfunden, zumal da die zwei Flügel ohnehin der natürliche Zubehör eines Vogels sind. Aber hier war es der darin geäußerte Wunsch, ein solcher zu sein, der mich dazu antrieb, dem Gesang ein Ende zu machen und die Sängerinnen in einen Schwarm von Spatzen zu verwandeln. Ich ging zu ihrem Tisch und schwang meinen Zauberstab, [...] [und] fünf Spatzen erhoben sich und flogen kreischend davon. Nur fünf halbleere Biergläser, ein paar angegessene Butterbrote [...] – ein Stillleben, das mich ein wenig bestürzte – zeugten davon, daß hier noch vor wenigen Sekunden volles, junges Leben im Gange gewesen war.
(Ebda., S. 79f.)
Und die Tänzerin Dombrowska in Das Ende einer Welt dürfte wohl die Frau Bonsels' sein, Rose-Marie Bachofen, während der Sammler Golch offenbar Bonsels selbst darstellt, dessen Qualitäten als Schriftsteller er süffisant begegnet:
Nachdem ich mit der Gastgeberin einige Höflichkeiten getauscht und ihre Meute langhaariger Pekinesen gestreichelt hatte, [...] wurde ich der Dombrowska vorgestellt, einer der wirklich großen Doppelbegabungen ihrer Zeit. [...] Während wir miteinander plauderten, kam ein älterer, hochaufgerichteter Herr auf uns zu. Ich erkannte ihn sogleich an seinem Profil: es war Golch. Der Golch. (Wer er ist, weiß jedermann: sein Beitrag zum geistigen Bestand ist beglückendes Allgemeingut geworden.) Die Dombrowska stellte mich vor [...]. „Aha“, sagte Golch, wobei er mit der letzten Silbe dieses Ausrufs ein leichtes Glissando nach oben vollführte, dem ich wohl entnehmen durfte, daß er mich als Nachwuchs für die Elite der Kulturträger in Betracht zog, obgleich es wohl noch manche Prüfung zu bestehen gäbe. Ich hakte sofort ein, indem ich fragte, wie ihm die Ausstellung zeitgenössischer Malerei in Luxembourg gefallen habe. [...] „Passé“, sagte er, und ich pflichtete ihm bei, [...] denn es war immerhin Golch, dem ich da gegenüberstand.
(Wolfgang Hildesheimer: Das Ende einer Welt. In: Ders.: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962, S. 9f.)
Überhaupt war der ebenfalls in Ambach ansässige antisemitische Schriftsteller Hildesheimers natürlicher Feind – es sind nur drei Jahre, bis zum Tode Bonsels' 1952, in denen die beiden Künstler benachbart waren, und die ausgereicht haben, um den ein oder anderen Hieb gegen den Kollegen auszuteilen. Bitterböse fällt ein Kommentar über das schriftstellerische Talent Bonsels' aus:
Grüblerisch veranlagten und schon völlig durchgeistigten Bücherfreunden schenke man vielleicht am besten ein Buch von Waldemar Bonsels. Da weiß man, woran man ist. Wenn ich Folgendes lese: „Menschen, die keiner Liebe und keines Glaubens an deren Mächte fähig sind, halten für Quietismus und Fatalismus, was bei den Berührten die Zuversicht an die Eigengesetzlichkeit und Tatmacht der Liebe ist...“, so fühle ich mich von der Wahrheit angetastet, ja, in einer Diskussion über derartige Themen hätte ich platterdings dasselbe behaupten können.
(Zit. nach: Heißerer, Dirk [2002]: Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München, Ms. BR)
Seine Legenden waren jedoch nicht nur eine Antwort auf schriftstellerische Kreationen wie die Bonsels'. Der politische Subtext dieses satirisch-absurden Erzählbandes beschreibt den konservativen Kulturbetrieb der bundesrepublikanischen Nachkriegsära. Die Figuren wagen nicht das Mögliche: eine neue Gesellschaft. Der Erzähler in Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe hätte die Fähigkeit, durch seine (Zauber-)Kunst seine Umwelt – die Gesellschaft – zu verändern, macht von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch – er verwandelt sich in eine Nachtigall. Hildesheimer wagt dergestalt eine Anklage des Künstler- und Intellektuellenstandes.
Häntzschel, Günter; Hanuschek, Sven; Leuschner, Ulrike (Hg.) (2016): Wolfgang Hildesheimer. München.
Heißerer, Dirk (2002): Das Paradies der falschen Vögel. Wolfgang Hildesheimer in Ambach. München, Ms. BR.
Ders. (2010): Wellen, Wind und Dorfbanditen. Literarische Erkundungen am Starnberger See. München.
Jehle, Volker (2003): Scheiterndes: Kunst und Leben: Wolfgang Hildesheimer. Nordhausen.
Ders. (2003): Wolfgang Hildesheimer. Werkgeschichte. Nordhausen.
Quelle:
Wolfgang Hildesheimer: Lieblose Legenden. Frankfurt am Main 1962.