Der Mensch und die kosmische Ordnung: Mario tötet das Rehkitz
Eine Schlüsselstelle dieser Lehre ist die schreckliche Erfahrung, die der Junge macht, als sein kindsköpfiger Übermut ihn dazu verleitet, in die Harmonie des Kosmos einzuschreiten. Mario tötet aus purer Jagdlust ein Reh:
Was war es nur, das ihm plötzlich in wilder, grausamer Zärtlichkeit, aus dunklem Trieb geboren, den Bogen in die Hände zwang? Glühend und heimlich wie ein böser Gedanke, aber von einer hellen bohrenden Gier angetrieben, faßte es Marios Sinne mit blinder Gewalt. Nie war er vorsichtiger, nie seliger angespannt in die Haltung des Schützen gesunken, ihm war, als würde er leichter, er beflügelte den Pfeil mit der teuflischen Sehnsucht zu treffen und zu töten; dabei bebte ihm die Brust vor Freude und Glauben an Macht, Kraft und Gelingen. [...] Sein Pfeil flog und durchschnitt die Lenden des hinteren Rehzickleins; er drang mit einem tickenden Klatschen ein und durchfuhr das zarte Körperchen [...].
(Waldemar Bonsels: Mario und die Tiere. Wien u.a. 1977, S. 54f.)
Der Junge muss schmerzlich mitansehen, wie die Mutter des Jungen hilflos dessen sinnlosen Sterben beiwohnt.
[Das Mutterreh] wagte sich witternd bis zu dem sterbenden Jungen vor, zog den heißen Odem des fließenden Bluts und die fremde Witterung des Menschengeräts, des Pfeils, und sprang wild zurück, [...] als würde es vom Geruch der Bluts der eigenen Art und von der Ruchlosigkeit der unfaßbaren Feindestat emporgeschleudert, die ihr Geborenes umlagerten. [...] Es war herzzerreißend anzuschauen, wie die Dämonen der Todesangst und des Muttertriebs die Seele des scheuen und unbewehrten Waldtiers grausam zerrten und marterten.
(Ebda., S. 55.)
Er leidet unermesslich unter diesem Anblick, den er mit seiner Tat hervorgerufen hat:
Mario schnellte mit einem wilden Aufschrei empor, der ihm, ohne seinen Willen aus der Qual seiner Brust geboren, entfahren war. Dies mußte ein Ende haben! [...] Das kleine Tier lebt noch, es schien mit einer letzten Kraft, mit sinkendem Tierbewußtsein dem entweichenden Mutterschatten nachzutrachten, der warmen, schützenden, großen Gestalt, die zwischen Licht und Nacht, Lufthauch und Bodenkühle über dem tastenden Erwachen seiner Lebenssinne gewaltet hatte, dieser Gestalt und dunklen Bewegung über sich, der es gefolgt war, die Schutz und Nahrung und gute Gewähr des Daseins bedeutet hatte. Ein dunkles Flehen stand in den Augen, so hilflos, daß es zu einer großen Macht wurde. Mario stampfte den Boden wild mit den Füßen. Nein, dies hatte er nicht gewußt und nicht gewollt. [...] In harter Entschlossenheit löste der Knabe das Messer aus der Schnalle, sein Blick verschleierte sich leicht, ein bitterer Zug senkte ihm die Winkel des Mundes, und in kaltem Aufwand geschwungen, schlug das haarscharfe, spitze Messer in das Genick des Tieres. Nach kurzen Erzittern löste sich der Schmerzenskrampf des zierlichen Körpers.
(Ebda., S. 58.)
Es scheint, als bestrafe ihn die Natur für sein Vergehen, und der Junge zeigt Reue, indem er diese Strafe demütig über sich ergehen lässt:
Der Himmel hatte sich schwarz umzogen, es pfiff in naher Wipfelferne bedrohlich, die hereinbrechenden Windzüge gellten wie Geisterchöre im höchsten Geäst [...] und Zweige und Tropfen prasselten schwer durch das Laub nieder. [...] Der Knabe nahm das getötete Tier [...] und drang in das Tannendickicht ein [...] Er blickte sich noch einmal um, bevor die tiefen Zweige lautlos hinter ihm zusammenschlugen, auf seiner Stirn brannten Angst und Trotz, jedoch hielt ihn zugleich ein Gefühl von wehem Stolz. Es trieb ihn, sich zu verbergen, denn die Elemente der Natur und die Stimmen seiner Brust tobten bedrohlich [...]. Der Regen drang nur langsam in die tiefsten Gründe des Tanns, und es ließ sich dort rasch ein Zweigdach bauen [...]. Aber Mario baute das Schutzdach nicht, er fand keine Ruhe, er fand den Aufwand nicht, etwas zu tun, das ihn schützen und decken sollte, das ihm selbst zur Wohltat und zum Genügen gereicht hätte. Ihm war es, als habe er den Wald gestört, und nun störte der Wald ihn.
(Ebda., S. 59.)
Die beiden Folgebände stellen diese Erziehung auf die Probe. Die Dommelfei weist ihn an, den Menschen zurückzugeben, was die Natur ihm gegeben habe und schickt ihn zurück in die Zivilisation. Der Grundtenor gegenüber der Kultur ist kein negativer: Mario tritt für eine Symbiose ein, die jedoch von den Menschen, denen er begegnet, abgelehnt wird. So scheitert auch Marios Liebe zu dem Stadtkind Gisela, bei der er nicht die Heimat finden kann, welche die Natur ihm spenden konnte. So führt ihn im dritten Band sein Weg aus dem Maschinenzeitalter wieder in den Wald zurück.
Quelle:
Waldemar Bonsels: Mario und die Tiere. Wien u.a. 1977.
Weitere Kapitel:
Eine Schlüsselstelle dieser Lehre ist die schreckliche Erfahrung, die der Junge macht, als sein kindsköpfiger Übermut ihn dazu verleitet, in die Harmonie des Kosmos einzuschreiten. Mario tötet aus purer Jagdlust ein Reh:
Was war es nur, das ihm plötzlich in wilder, grausamer Zärtlichkeit, aus dunklem Trieb geboren, den Bogen in die Hände zwang? Glühend und heimlich wie ein böser Gedanke, aber von einer hellen bohrenden Gier angetrieben, faßte es Marios Sinne mit blinder Gewalt. Nie war er vorsichtiger, nie seliger angespannt in die Haltung des Schützen gesunken, ihm war, als würde er leichter, er beflügelte den Pfeil mit der teuflischen Sehnsucht zu treffen und zu töten; dabei bebte ihm die Brust vor Freude und Glauben an Macht, Kraft und Gelingen. [...] Sein Pfeil flog und durchschnitt die Lenden des hinteren Rehzickleins; er drang mit einem tickenden Klatschen ein und durchfuhr das zarte Körperchen [...].
(Waldemar Bonsels: Mario und die Tiere. Wien u.a. 1977, S. 54f.)
Der Junge muss schmerzlich mitansehen, wie die Mutter des Jungen hilflos dessen sinnlosen Sterben beiwohnt.
[Das Mutterreh] wagte sich witternd bis zu dem sterbenden Jungen vor, zog den heißen Odem des fließenden Bluts und die fremde Witterung des Menschengeräts, des Pfeils, und sprang wild zurück, [...] als würde es vom Geruch der Bluts der eigenen Art und von der Ruchlosigkeit der unfaßbaren Feindestat emporgeschleudert, die ihr Geborenes umlagerten. [...] Es war herzzerreißend anzuschauen, wie die Dämonen der Todesangst und des Muttertriebs die Seele des scheuen und unbewehrten Waldtiers grausam zerrten und marterten.
(Ebda., S. 55.)
Er leidet unermesslich unter diesem Anblick, den er mit seiner Tat hervorgerufen hat:
Mario schnellte mit einem wilden Aufschrei empor, der ihm, ohne seinen Willen aus der Qual seiner Brust geboren, entfahren war. Dies mußte ein Ende haben! [...] Das kleine Tier lebt noch, es schien mit einer letzten Kraft, mit sinkendem Tierbewußtsein dem entweichenden Mutterschatten nachzutrachten, der warmen, schützenden, großen Gestalt, die zwischen Licht und Nacht, Lufthauch und Bodenkühle über dem tastenden Erwachen seiner Lebenssinne gewaltet hatte, dieser Gestalt und dunklen Bewegung über sich, der es gefolgt war, die Schutz und Nahrung und gute Gewähr des Daseins bedeutet hatte. Ein dunkles Flehen stand in den Augen, so hilflos, daß es zu einer großen Macht wurde. Mario stampfte den Boden wild mit den Füßen. Nein, dies hatte er nicht gewußt und nicht gewollt. [...] In harter Entschlossenheit löste der Knabe das Messer aus der Schnalle, sein Blick verschleierte sich leicht, ein bitterer Zug senkte ihm die Winkel des Mundes, und in kaltem Aufwand geschwungen, schlug das haarscharfe, spitze Messer in das Genick des Tieres. Nach kurzen Erzittern löste sich der Schmerzenskrampf des zierlichen Körpers.
(Ebda., S. 58.)
Es scheint, als bestrafe ihn die Natur für sein Vergehen, und der Junge zeigt Reue, indem er diese Strafe demütig über sich ergehen lässt:
Der Himmel hatte sich schwarz umzogen, es pfiff in naher Wipfelferne bedrohlich, die hereinbrechenden Windzüge gellten wie Geisterchöre im höchsten Geäst [...] und Zweige und Tropfen prasselten schwer durch das Laub nieder. [...] Der Knabe nahm das getötete Tier [...] und drang in das Tannendickicht ein [...] Er blickte sich noch einmal um, bevor die tiefen Zweige lautlos hinter ihm zusammenschlugen, auf seiner Stirn brannten Angst und Trotz, jedoch hielt ihn zugleich ein Gefühl von wehem Stolz. Es trieb ihn, sich zu verbergen, denn die Elemente der Natur und die Stimmen seiner Brust tobten bedrohlich [...]. Der Regen drang nur langsam in die tiefsten Gründe des Tanns, und es ließ sich dort rasch ein Zweigdach bauen [...]. Aber Mario baute das Schutzdach nicht, er fand keine Ruhe, er fand den Aufwand nicht, etwas zu tun, das ihn schützen und decken sollte, das ihm selbst zur Wohltat und zum Genügen gereicht hätte. Ihm war es, als habe er den Wald gestört, und nun störte der Wald ihn.
(Ebda., S. 59.)
Die beiden Folgebände stellen diese Erziehung auf die Probe. Die Dommelfei weist ihn an, den Menschen zurückzugeben, was die Natur ihm gegeben habe und schickt ihn zurück in die Zivilisation. Der Grundtenor gegenüber der Kultur ist kein negativer: Mario tritt für eine Symbiose ein, die jedoch von den Menschen, denen er begegnet, abgelehnt wird. So scheitert auch Marios Liebe zu dem Stadtkind Gisela, bei der er nicht die Heimat finden kann, welche die Natur ihm spenden konnte. So führt ihn im dritten Band sein Weg aus dem Maschinenzeitalter wieder in den Wald zurück.
Quelle:
Waldemar Bonsels: Mario und die Tiere. Wien u.a. 1977.