Der Romanerfolg: „Mittelreich“ (2011)
Bierbichlers 2011 erschienener Roman Mittelreich rekapituliert hingegen die gebrochene Familiengeschichte, die sich hinter dem erfolgreichen Betrieb der beliebten Seewirtschaft in Ambach (als „Seedorf“ getarnt) verbirgt, und entlarvt Lebenskultur und Tradition im ländlichen Raum. Über drei Generationen hinweg schildert er die Entwicklung eines kleinen Saisonlokals zum beliebten Ausflugsziel der Münchner Gesellschaft und beleuchtet die Schattenseiten des Aufstiegs der Dorfgemeinschaft: familiäre Querelen, katholische Bigotterie und altnationalsozialistische Gesinnungen.
Im Ersten Weltkrieg gerät der älteste Sohn vom Seewirt in einen Kugelhagel und macht dem jüngeren Bruder Pankraz Platz, das väterliche Erbe anzutreten. Dieser ist zwar heil von der Front zurückgekehrt, sieht seine wahre Bestimmung jedoch nicht in einer Laufbahn als Land- und Gastwirt, sondern will Künstler werden. Der Autor beschreibt den Moment, in dem sich der widerwillige Sohn genötigt sieht, seinen Traum von der künstlerischen Laufbahn fahren zu lassen und seiner Bestimmung als Sohn nachzugeben:
Als sein Vater erkannt hatte, dass der ältere Sohn zum Erbe des Anwesens nicht mehr taugt, und sich entschieden hatte, den jüngeren als Erbe einzusetzen [...] hat er den Pankraz ins Klavierzimmer geholt, das gleichzeitig auch das betriebliche Büro war, [...] und gesagt: Du musst jetzt das Ganze weiterführen. Dein Bruder ist geisteskrank, der fällt aus. Ich sage dir aber gleich, entweder du machst es ganz oder gar nicht. Ich meine damit, dass du mit dem Singen aufhören musst. Wenn aber nicht, dann bekommst du vom Erbe gar nichts, nicht einmal ein Bargeld. Ich gebe dir eine Woche Zeit, dir das zu überlegen. Du kannst jetzt wieder gehen. [...] In den folgenden Wochen hat der Pankraz schwer mit sich gerungen. Er wollte unbedingt Sänger werden, aber er hatte Angst davor, nicht mehr abgesichert zu sein. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, wenn er nicht mehr zu Hause sein konnte. [...] Er fühlte sich völlig überfordert. Drum hat er nach einer Woche seinen Berufswunsch aufgegeben und dem Vater zugesagt, den Hof zu übernehmen: aus reiner Existenzangst.
(Josef Bierbichler: Mittelreich. Berlin 2011, S. 74f.)
Die Widerspenstigkeit des jüngeren Sohns, sein künstlerisches Gemüt sollten eigentlich gute Voraussetzungen für etwas liberalen Wind im Hause Bierbichler sein. Doch der sich in das Familienschicksal fügende Sohn, der die Rolle des Unternehmers und Familienvaters antritt, schickt seinen eigenen Sohn Josef später ins katholische Internat und perpetuiert überkommene Sitten – weil er es nicht besser weiß oder besser kann. Bierbichler schildert die Erfahrung von Krieg und Zerstörung und kontrastiert die alte Zeit mit Erfolg und Wohlstand des Wirtschaftswunders. Die Schrecken des Krieges schildert er eindrücklich mit einer Begebenheit auf einem Nachbargehöft:
Der Bauer und seine drei jüngeren Töchter [...] sitzen [...] beim Abendessen in der großflächigen und niedrigen Küche, als sich in einem der kleinen Fenster vor dem Hintergrund der schwarzen Nacht [...] ein Gesicht abzeichnet, das mehr zu einem Totenschädel zu gehören scheint als zu einem lebenden Menschen. [...] Der Lot springt auf [...]. Vor der Küchentür, die direkt hinaus ins Freie führt, geht ein lautes Reden und Palavern los. [...] Nach kurzer Zeit kommt der Lot zurück und fordert seine Töchter auf, die Reste ihres Abendessens ungeschmälert in ein [...] Bescheidtuch zu verpacken und den Krug Milch [...] bereitzustellen. [...] Als der Lot mit den ins Handtuch eingepackten Resten und dem Krug voll Milch nach draußen gehen will, schlurft ein KZler in die Küche rein und schaut sich um. Wie angewurzelt bleibt er stehen und stiert die Frauen an: Ein zerlumpter, dreckverschmierter, kahlrasierter Knochenmann glotzt aus den hohlen Augenlöchern seines Totenkopfs heraus die drei, in der frühen Blüte ihres Frauenlebens noch unverbrauchte Unschuld atmenden Töchter des Lot wie eine überirdische Verheißung an.
(Ebd., S. 80ff.)
Unter den Voraussetzungen dieser Erlebnisse eröffnet die Nachkriegsära die Perspektive auf ein Leben im irdischen Paradies des technischen Fortschritts:
Die Massenarbeitslosigkeit, die auf allem gelastet hatte, nicht nur auf den Arbeitslosen, sondern auf der ganzen Wirtschaft und deshalb auch auf der Gast- und auf der Landwirtschaft, verschwand nach und nach. Immer mehr Leute, auch die einfacheren, konnten sich Ausflüge an den See leisten, und die landwirtschaftlichen Produkte erzielten wieder so stabile Preise, dass endlich eine Mähmaschine gekauft wurde. [...] An der neuen Mähmaschine war alles aus Eisen: von den beiden großen Rädern bis zur Deichsel. Und sogar der Fahrersitz war eine Schüssel aus purem Flacheisen, von Löchern durchsiebt, durch die das Regenwasser ablaufen konnte. So ein Gerät hatte man noch nicht gesehen [...] – das war neu. [...] Zwei Spuren mähte er [der junge Seewirt] durch den blühenden Obstgarten, eine hinauf und eine herunter, und wie hingerichtet lag das Gras am Boden.
(Ebd., S. 45ff.)
Die Nachkriegszeit verlangt der Bevölkerung ihres Landes eine umfassende Anpassung an, die sie mit einem Verdrängungsakt bewältigt. „Über das Politische in seinem Leben hat er [der Lot] nie lang nachgedacht. Das führt zu nichts, war seine Losung. Seit dem Tod der Frau weiß er, dass das Härteste am Schicksal sehr private Züge hat.“ (Ebd., S. 83.) Erst dieser Akt des Verdrängens ermöglicht es, aus den Trümmern eine Zukunft erstehen zu lassen:
Man brauchte die ersten Jahre dazu, sich überhaupt erst einmal wieder zurechtzufinden in der neuen Lage. Man ließ die neuen Verordnungen an sich abtröpfeln, indem man sie genau befolgte wie nötig, geradeso, wie man die Schuldvorwürfe an sich abtröpfeln ließ, indem man sich zu ihnen bekannte so schuldbewusst wie möglich. Und die ungemütliche Stellung des Kotaus wurde dementsprechend denn auch gar nicht zu sehr strapaziert und nicht zu lang. Denn auch die Sieger konnten mit dieser gebückten Haltung auf Dauer wenig anfangen, weil aus ihr keine Energie zu ziehen und aus keiner Energie kein Gewinn zu schlagen war. Bald war man des Kotaus als dem Wesen des Hundes zugehörige, aber in bestimmten Situationen auch für den Menschen brauchbare Demutshaltung wieder überdrüssig [...] und begann also, sich zügig wieder in den aufrechten Gang zurückzuverbiegen. Ein Führer, der diesen Gang vollends beherrschte, war schnell gefunden und mit ihm ein neuer Staat auch bald gegründet: der Adenauerstaat.
(Ebd., S. 192f.)
Das Gedenken an das historische Erbe weicht der Auseinandersetzung mit den neuen Strukturen der Marktwirtschaft – ein Prozess, dessen literarische Aufbereitung der Rezensent Martin Halter wie folgt umreißt:
Pankraz ist Gewinner und Verlierer, Herr und Knecht des Wirtschaftswunders. Unter Adenauer, dem „neuen Führer“, lösen sich nämlich auch an Bierbichlers Würmsee alte Traditionen und Glaubensgewissheiten auf. Die Dumpfheit und inzestuöse Selbstgenügsamkeit der Bierdimpfel und bäuerlichen Dickschädel macht unter dem Einfluss der Ausflügler und Zuzügler Hochmut, Unzufriedenheit und „einer Art von Kultur“ Platz. Erst kommen die Zwangsarbeiter und Flüchtlinge, dann Gastarbeiter, „Stadterer“, prominente Hausgäste wie der bayrische Kronprinz und berühmte Künstler, schließlich Preußen, Hippies und Kommunisten; am Ende sind die Liegewiese am See und überhaupt das ländlich-schändliche Idyll zerstört. Die Kultur hält mit Musiktruhe, Fernseher und verchromten Zapfhähnen Einzug, Mähmaschinen und Traktoren machen den alten Sepp und Bründl, den treuen, alten Gaul, überflüssig. [...] Der Dreck der Hitlerei aber wird unter den Teppich der Restauration gekehrt, wo er weiter fröhlich vor sich hin gärt und schwärt.
(Martin Halter: Der Seewirt, der alte Sepp und die Deppen. Josef Bierbichler: Mittelreich. Rezension in der FAZ vom 16. September 2011.)
Die Auswüchse, die das ungetrübte Freizeitverhalten der Nachkriegsgesellschaft am See annimmt, dokumentiert der Autor mit der amüsanten Schilderung, wie eine Bande Hippies in die gediegen-bürgerliche Sommerruhe einfällt und der Seewirt vergeblich versucht, dem Treiben beizukommen.
Am Ufer des Sees konnte man jetzt in den Sommermonaten immer öfter Pärchen beobachten, die in Gruppen um offene Feuer herum saßen und Blumengirlanden auf den Köpfen trugen. Die Männer hatten lange Haare und wuchernde Bärte, ihre langen Hemden trugen sie über den Hosen, und Männer wie Frauen rauchten in einem fort tütenähnliche Zigaretten, die sie beidhändig vor den Mund hielten, um in tiefen Zügen daran zu nuckeln und dann weiterzureichen an den Nächsten. Die Mädchen waren gekleidet in sackähnliche Pluderhosen in den verschiedenen Farben, wobei Rosa und Lila überwog. [...] Rauchten sie mal nicht, dann lagen sie oft auf- und übereinander oder ineinander verschlungen und küsste und befummelten sich in einem fort. Gingen sie zum Baden in den See, dann entledigten sie sich sämtlicher Kleider, sogar die Frauen, und setzten auch dort noch, im tiefen Wasser, ihr Treiben fort. Wenn der Seewirt dann auf Drängen seiner fassungslosen Schwestern und der entrüsteten Sommergäste nach unten zum Ufer ging und darauf hinwies, dass es sich hier um ein privates Grundstück handle, [...] dann sagten diese Menschen: Okay, okay, is ja gut, Alter. Bleib cool – und wechselten danach lediglich aufs Nachbargrundstück [...].
(Josef Bierbichler: Mittelreich, S. 261f.)
Die Polizei, an die sich der verzweifelte Wirt in seiner allzubürgerlichen Not wendet, weigert sich einzugreifen, mit der Argumentation, dass keine Straftat bestünde.
Aber die treiben ihre Unzucht doch auf meinem Grund, erregte sich dann der Seewirt. [...] Heißt Demokratie etwa, dass mein Seegrund jetzt allen gehört, Herr Gendarm? Das ist aber keine Demokratie, das ist Kommunismus! Ja schon, antwortete dann der Seetaler, schon, schon! Aber erstens ist das Grundstück nicht eingezäunt, und zweitens muss, laut bayrischer Seeordnung, jeder bayrische See zugänglich sein, immer und überall. Und solange die nicht miteinander kopulieren in der Öffentlichkeit – also stopfen auf Deutsch –, ist das auch keine Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wenn Sie die aber beim Schnackseln erwischen, dann rufen Sie rechtzeitig an! [...] Er wirkte ziemlich genervt, der Seetaler. Und das wiederum nervte den Seewirt. Und wo bleibt das Eigentumsrecht?, schrie er wütend ins Telefon. Ja, das Eigentum! Das Eigentum!, spöttelte dann gelangweilt der Seetaler [...] Das Eigentum verpflichtet!, sagte er schließlich, wie nach langem Nachdenken beamtenklug [...], das steht auch im Grundgesetz, sagte er. [...] Das war's dann. Von Haschbrüdern hatte man damals noch nichts gehört, so weit weg von der Stadt, dem eigenen Ufer so nah.
(Ebd., S. 262f.)
Sekundärliteratur:
Halter, Martin (2011): Der Seewirt, der alte Sepp und die Deppen. Josef Bierbichler: Mittelreich. Rezension in der FAZ, 16. September.
Quelle:
Josef Bierbichler: Mittelreich. Berlin 2011.
Weitere Kapitel:
Bierbichlers 2011 erschienener Roman Mittelreich rekapituliert hingegen die gebrochene Familiengeschichte, die sich hinter dem erfolgreichen Betrieb der beliebten Seewirtschaft in Ambach (als „Seedorf“ getarnt) verbirgt, und entlarvt Lebenskultur und Tradition im ländlichen Raum. Über drei Generationen hinweg schildert er die Entwicklung eines kleinen Saisonlokals zum beliebten Ausflugsziel der Münchner Gesellschaft und beleuchtet die Schattenseiten des Aufstiegs der Dorfgemeinschaft: familiäre Querelen, katholische Bigotterie und altnationalsozialistische Gesinnungen.
Im Ersten Weltkrieg gerät der älteste Sohn vom Seewirt in einen Kugelhagel und macht dem jüngeren Bruder Pankraz Platz, das väterliche Erbe anzutreten. Dieser ist zwar heil von der Front zurückgekehrt, sieht seine wahre Bestimmung jedoch nicht in einer Laufbahn als Land- und Gastwirt, sondern will Künstler werden. Der Autor beschreibt den Moment, in dem sich der widerwillige Sohn genötigt sieht, seinen Traum von der künstlerischen Laufbahn fahren zu lassen und seiner Bestimmung als Sohn nachzugeben:
Als sein Vater erkannt hatte, dass der ältere Sohn zum Erbe des Anwesens nicht mehr taugt, und sich entschieden hatte, den jüngeren als Erbe einzusetzen [...] hat er den Pankraz ins Klavierzimmer geholt, das gleichzeitig auch das betriebliche Büro war, [...] und gesagt: Du musst jetzt das Ganze weiterführen. Dein Bruder ist geisteskrank, der fällt aus. Ich sage dir aber gleich, entweder du machst es ganz oder gar nicht. Ich meine damit, dass du mit dem Singen aufhören musst. Wenn aber nicht, dann bekommst du vom Erbe gar nichts, nicht einmal ein Bargeld. Ich gebe dir eine Woche Zeit, dir das zu überlegen. Du kannst jetzt wieder gehen. [...] In den folgenden Wochen hat der Pankraz schwer mit sich gerungen. Er wollte unbedingt Sänger werden, aber er hatte Angst davor, nicht mehr abgesichert zu sein. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, wenn er nicht mehr zu Hause sein konnte. [...] Er fühlte sich völlig überfordert. Drum hat er nach einer Woche seinen Berufswunsch aufgegeben und dem Vater zugesagt, den Hof zu übernehmen: aus reiner Existenzangst.
(Josef Bierbichler: Mittelreich. Berlin 2011, S. 74f.)
Die Widerspenstigkeit des jüngeren Sohns, sein künstlerisches Gemüt sollten eigentlich gute Voraussetzungen für etwas liberalen Wind im Hause Bierbichler sein. Doch der sich in das Familienschicksal fügende Sohn, der die Rolle des Unternehmers und Familienvaters antritt, schickt seinen eigenen Sohn Josef später ins katholische Internat und perpetuiert überkommene Sitten – weil er es nicht besser weiß oder besser kann. Bierbichler schildert die Erfahrung von Krieg und Zerstörung und kontrastiert die alte Zeit mit Erfolg und Wohlstand des Wirtschaftswunders. Die Schrecken des Krieges schildert er eindrücklich mit einer Begebenheit auf einem Nachbargehöft:
Der Bauer und seine drei jüngeren Töchter [...] sitzen [...] beim Abendessen in der großflächigen und niedrigen Küche, als sich in einem der kleinen Fenster vor dem Hintergrund der schwarzen Nacht [...] ein Gesicht abzeichnet, das mehr zu einem Totenschädel zu gehören scheint als zu einem lebenden Menschen. [...] Der Lot springt auf [...]. Vor der Küchentür, die direkt hinaus ins Freie führt, geht ein lautes Reden und Palavern los. [...] Nach kurzer Zeit kommt der Lot zurück und fordert seine Töchter auf, die Reste ihres Abendessens ungeschmälert in ein [...] Bescheidtuch zu verpacken und den Krug Milch [...] bereitzustellen. [...] Als der Lot mit den ins Handtuch eingepackten Resten und dem Krug voll Milch nach draußen gehen will, schlurft ein KZler in die Küche rein und schaut sich um. Wie angewurzelt bleibt er stehen und stiert die Frauen an: Ein zerlumpter, dreckverschmierter, kahlrasierter Knochenmann glotzt aus den hohlen Augenlöchern seines Totenkopfs heraus die drei, in der frühen Blüte ihres Frauenlebens noch unverbrauchte Unschuld atmenden Töchter des Lot wie eine überirdische Verheißung an.
(Ebd., S. 80ff.)
Unter den Voraussetzungen dieser Erlebnisse eröffnet die Nachkriegsära die Perspektive auf ein Leben im irdischen Paradies des technischen Fortschritts:
Die Massenarbeitslosigkeit, die auf allem gelastet hatte, nicht nur auf den Arbeitslosen, sondern auf der ganzen Wirtschaft und deshalb auch auf der Gast- und auf der Landwirtschaft, verschwand nach und nach. Immer mehr Leute, auch die einfacheren, konnten sich Ausflüge an den See leisten, und die landwirtschaftlichen Produkte erzielten wieder so stabile Preise, dass endlich eine Mähmaschine gekauft wurde. [...] An der neuen Mähmaschine war alles aus Eisen: von den beiden großen Rädern bis zur Deichsel. Und sogar der Fahrersitz war eine Schüssel aus purem Flacheisen, von Löchern durchsiebt, durch die das Regenwasser ablaufen konnte. So ein Gerät hatte man noch nicht gesehen [...] – das war neu. [...] Zwei Spuren mähte er [der junge Seewirt] durch den blühenden Obstgarten, eine hinauf und eine herunter, und wie hingerichtet lag das Gras am Boden.
(Ebd., S. 45ff.)
Die Nachkriegszeit verlangt der Bevölkerung ihres Landes eine umfassende Anpassung an, die sie mit einem Verdrängungsakt bewältigt. „Über das Politische in seinem Leben hat er [der Lot] nie lang nachgedacht. Das führt zu nichts, war seine Losung. Seit dem Tod der Frau weiß er, dass das Härteste am Schicksal sehr private Züge hat.“ (Ebd., S. 83.) Erst dieser Akt des Verdrängens ermöglicht es, aus den Trümmern eine Zukunft erstehen zu lassen:
Man brauchte die ersten Jahre dazu, sich überhaupt erst einmal wieder zurechtzufinden in der neuen Lage. Man ließ die neuen Verordnungen an sich abtröpfeln, indem man sie genau befolgte wie nötig, geradeso, wie man die Schuldvorwürfe an sich abtröpfeln ließ, indem man sich zu ihnen bekannte so schuldbewusst wie möglich. Und die ungemütliche Stellung des Kotaus wurde dementsprechend denn auch gar nicht zu sehr strapaziert und nicht zu lang. Denn auch die Sieger konnten mit dieser gebückten Haltung auf Dauer wenig anfangen, weil aus ihr keine Energie zu ziehen und aus keiner Energie kein Gewinn zu schlagen war. Bald war man des Kotaus als dem Wesen des Hundes zugehörige, aber in bestimmten Situationen auch für den Menschen brauchbare Demutshaltung wieder überdrüssig [...] und begann also, sich zügig wieder in den aufrechten Gang zurückzuverbiegen. Ein Führer, der diesen Gang vollends beherrschte, war schnell gefunden und mit ihm ein neuer Staat auch bald gegründet: der Adenauerstaat.
(Ebd., S. 192f.)
Das Gedenken an das historische Erbe weicht der Auseinandersetzung mit den neuen Strukturen der Marktwirtschaft – ein Prozess, dessen literarische Aufbereitung der Rezensent Martin Halter wie folgt umreißt:
Pankraz ist Gewinner und Verlierer, Herr und Knecht des Wirtschaftswunders. Unter Adenauer, dem „neuen Führer“, lösen sich nämlich auch an Bierbichlers Würmsee alte Traditionen und Glaubensgewissheiten auf. Die Dumpfheit und inzestuöse Selbstgenügsamkeit der Bierdimpfel und bäuerlichen Dickschädel macht unter dem Einfluss der Ausflügler und Zuzügler Hochmut, Unzufriedenheit und „einer Art von Kultur“ Platz. Erst kommen die Zwangsarbeiter und Flüchtlinge, dann Gastarbeiter, „Stadterer“, prominente Hausgäste wie der bayrische Kronprinz und berühmte Künstler, schließlich Preußen, Hippies und Kommunisten; am Ende sind die Liegewiese am See und überhaupt das ländlich-schändliche Idyll zerstört. Die Kultur hält mit Musiktruhe, Fernseher und verchromten Zapfhähnen Einzug, Mähmaschinen und Traktoren machen den alten Sepp und Bründl, den treuen, alten Gaul, überflüssig. [...] Der Dreck der Hitlerei aber wird unter den Teppich der Restauration gekehrt, wo er weiter fröhlich vor sich hin gärt und schwärt.
(Martin Halter: Der Seewirt, der alte Sepp und die Deppen. Josef Bierbichler: Mittelreich. Rezension in der FAZ vom 16. September 2011.)
Die Auswüchse, die das ungetrübte Freizeitverhalten der Nachkriegsgesellschaft am See annimmt, dokumentiert der Autor mit der amüsanten Schilderung, wie eine Bande Hippies in die gediegen-bürgerliche Sommerruhe einfällt und der Seewirt vergeblich versucht, dem Treiben beizukommen.
Am Ufer des Sees konnte man jetzt in den Sommermonaten immer öfter Pärchen beobachten, die in Gruppen um offene Feuer herum saßen und Blumengirlanden auf den Köpfen trugen. Die Männer hatten lange Haare und wuchernde Bärte, ihre langen Hemden trugen sie über den Hosen, und Männer wie Frauen rauchten in einem fort tütenähnliche Zigaretten, die sie beidhändig vor den Mund hielten, um in tiefen Zügen daran zu nuckeln und dann weiterzureichen an den Nächsten. Die Mädchen waren gekleidet in sackähnliche Pluderhosen in den verschiedenen Farben, wobei Rosa und Lila überwog. [...] Rauchten sie mal nicht, dann lagen sie oft auf- und übereinander oder ineinander verschlungen und küsste und befummelten sich in einem fort. Gingen sie zum Baden in den See, dann entledigten sie sich sämtlicher Kleider, sogar die Frauen, und setzten auch dort noch, im tiefen Wasser, ihr Treiben fort. Wenn der Seewirt dann auf Drängen seiner fassungslosen Schwestern und der entrüsteten Sommergäste nach unten zum Ufer ging und darauf hinwies, dass es sich hier um ein privates Grundstück handle, [...] dann sagten diese Menschen: Okay, okay, is ja gut, Alter. Bleib cool – und wechselten danach lediglich aufs Nachbargrundstück [...].
(Josef Bierbichler: Mittelreich, S. 261f.)
Die Polizei, an die sich der verzweifelte Wirt in seiner allzubürgerlichen Not wendet, weigert sich einzugreifen, mit der Argumentation, dass keine Straftat bestünde.
Aber die treiben ihre Unzucht doch auf meinem Grund, erregte sich dann der Seewirt. [...] Heißt Demokratie etwa, dass mein Seegrund jetzt allen gehört, Herr Gendarm? Das ist aber keine Demokratie, das ist Kommunismus! Ja schon, antwortete dann der Seetaler, schon, schon! Aber erstens ist das Grundstück nicht eingezäunt, und zweitens muss, laut bayrischer Seeordnung, jeder bayrische See zugänglich sein, immer und überall. Und solange die nicht miteinander kopulieren in der Öffentlichkeit – also stopfen auf Deutsch –, ist das auch keine Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wenn Sie die aber beim Schnackseln erwischen, dann rufen Sie rechtzeitig an! [...] Er wirkte ziemlich genervt, der Seetaler. Und das wiederum nervte den Seewirt. Und wo bleibt das Eigentumsrecht?, schrie er wütend ins Telefon. Ja, das Eigentum! Das Eigentum!, spöttelte dann gelangweilt der Seetaler [...] Das Eigentum verpflichtet!, sagte er schließlich, wie nach langem Nachdenken beamtenklug [...], das steht auch im Grundgesetz, sagte er. [...] Das war's dann. Von Haschbrüdern hatte man damals noch nichts gehört, so weit weg von der Stadt, dem eigenen Ufer so nah.
(Ebd., S. 262f.)
Halter, Martin (2011): Der Seewirt, der alte Sepp und die Deppen. Josef Bierbichler: Mittelreich. Rezension in der FAZ, 16. September.
Quelle:
Josef Bierbichler: Mittelreich. Berlin 2011.