Leben und Mensch
Jean Paul als Pädagoge
Dreimal arbeitet Jean Paul als Erzieher: zuerst in Töpen als Hofmeister Oerthels (1786-89), dann in Schwarzenbach an der Saale bei den Kindern des Amtsverwalters (1790-94), schließlich in Hof, wo er einen Knaben und mehrere Mädchen unterrichtet (1794-96). Jean Paul pflegt eine neue Form der Pädagogik, die die Phantasie der Kinder durch spielerischen Umgang mit dem Lernstoff fördert - ganz im Gegensatz zum sturen Auswendiglernen, das den väterlichen Unterricht Jean Pauls geprägt hat.
Die Schüler erfinden witzige Sprüche, aus denen Jean Paul seit 1790 eine BONMOTS-ANTHOLOGIE MEINER ELEVEN entwickelt. Darüber hinaus weckt die freie Unterrichtspraxis in ihm den Satiriker. In »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg« im QUINTUS FIXLEIN (1796) karikiert er einen Lehrer, der mit seinen Schülern eine Studienreise unternimmt, in seiner Lebensferne aber nur unfreiwillige Komik produziert. Am Ende verzichtet Fälbel sogar auf den Besuch des Gebirges, zumal es schon vom Konrektor Helfrecht aus Hof beschrieben worden sei.
Wichtiger als die Satire ist jedoch Jean Pauls eigene pädagogische Schrift LEVANA ODER ERZIEHLEHRE (1807). Ähnlich wie das humanistische Lehrbuch ORBIS PICTUS des Comenius (1658), das Jean Paul immer wieder als Inspirationsquelle nutzt, ist LEVANA vom Prinzip der Anschauung geprägt. »Das Werk selber«, so schreibt er seinem Verleger Vieweg, »ist für die höhere (elegante) Welt und die Mütter didaktisch geschrieben - geht von dem Allgemeinsten, dem Geiste der Zeit, der Bildung zur Religion usw. bis zu den bestimmtesten Regeln herab, über Spiele, Freuden, Strafen usw. der Kinder - Von der Ausbildung des Menschen bis zu einem Briefe über Bildung der Fürsten, der Weiber usw. und bis zur physischen Erziehung.« Das Hauptanliegen des Buches ist es, das Kind zu erheben, es zu freier Entfaltung gelangen zu lassen. Damit rückt Jean Paul als Autor in den Kanon reformpädagogischer Klassiker am Ende des 19. Jahrhunderts - eine Entwicklung, die er scheinbar voraussieht, weil er meint, dass LEVANA seine literarischen Schriften überleben werde.
[Jean Paul, Vorrede zur ersten Auflage von LEVANA]
Wenigstens mit innigster Liebe für die kleinen Wesen, die leichten Blumengötterchen in einem bald verwelkten Eden, ist dieses Buch geschrieben; Levana, die mütterliche Göttin, welche sonst den Vätern Vaterherzen zu verleihen angeflehet wurde, möge die Bitte, die der Titel des Buchs an sie tut, erhören und dadurch ihn und dieses rechtfertigen. Leider raubt entweder der Staat oder die Wissenschaft dem Vater die Kinder über die Hälfte; die Erziehung der meisten ist nur ein System von Regeln, sich das Kind ein paar Schreibtische weit vom Leibe zu halten und es mehr für ihre Ruhe als für seine Kraft zu formen; höchstens wöchentlich einige Male ihm unter dem Sturmwinde des Zornes so viel Mehl der Lehren zuzumessen, als er verstäuben kann. Aber ich möchte die Geschäftmänner fragen, welche Bildung der Seelen mehr auf der Stelle erfreuend belohne als die der unschuldigen, die dem Rosenholze ähnlich sind, das Blumenduft ausstreuet, wenn man es formt und zimmert. Oder was jetzo der fallenden Welt - unter so vielen Ruinen des Edelsten und Altertums - noch übrig bleibe als Kinder, die Reinen, noch von keiner Zeit und Stadt Verfälschten. - Nur sie können in einem höhern Sinn, als wozu man sonst Kinder gebrauchte, in dem Zauberkristall die Zukunft und Wahrheit schauen und noch mit verbundenen Augen aus dem Glückrade das reichere Schicksal ziehen.
Frisur und Kleidung
Im 18. Jahrhundert gilt es als unanständiger, sich anders zu kleiden und zu frisieren, als es normal ist. Seit Jahrhunderten regeln in Stadt und Land strenge »Kleiderordnungen«, wie sich die streng voneinander getrennten Klassen auch äußerlich zu unterscheiden haben. In Leipzig, wo Jean Paul während seiner Studienjahre (1781-84) weilt, sind Kleiderzwänge an der Tagesordnung. Die Bedeutung, die der äußeren Erscheinung beigemessen wird, ist Jean Paul jedoch zuwider: »Die Mode ist hier der Tyran, unter dem sich alles beugt [...] Die Stuzzer bedekken die Strasse, bei schönen Tagen flattern sie herum wie die Schmetterlinge. Einer gleicht dem andern; sie sind wie Puppen im Marionettenspiele, und keiner hat das Herz, Er selbst zu sein.« (an Vogel, 17.9.1781)
Allen Gesetzen der Mode spottend, wirft Jean Paul nicht nur Zopf und Puder von sich, sondern auch seine Halsbekleidung und tritt mit »krausem blonden Haar und offener Brust« unter die Leipziger Bevölkerung. Sein Neffe Richard Otto Spazier berichtet: »Dieses Kostüm war damals so unerhört, daß Jean Paul sieben Jahre lang gegen die üblen Folgen, welche ihm daraus wuchsen, ankämpfen mußte, und dennoch in diesem Kampfe endlich erlag; denn gegen alle seine Erwartung war es ihm bis dahin noch nicht gelungen, sich irgend eine äußere Selbstständigkeit zu erringen. Bewundernswerth aber ist die Kraft, mit welcher er diese unangenehmen Folgen so lange ertrug. - Bald nämlich verlangte er von der Mutter seine Oberhemden à la Hamlet.«
Wegen seines provozierenden Äußeren verliert Jean Paul im Mai 1782 sein Zimmer. Sein selbst auferlegtes »Kleidermartyrium«, das noch bis September 1789 andauern wird, führt auch dazu, dass ein Nachbar, der mit ihm einen Garten angemietet hat, sich über die Kleidung beim Hauswirt beschwert (siehe Zitat). Selbst Pfarrer Vogel versucht Jean Paul von einer züchtigen Bekleidungsart zu überzeugen; da alles gutes Zureden nichts hilft, liefert er ihm die Bücher, die dieser sich regelmäßig bei ihm ausgeliehen hat, einfach nicht mehr aus.
Auch später wird Jean Paul im »Schlabber-Look« auftreten: bei sich zu Hause in Bayreuth, wo er als anerkannter Schriftsteller Gäste im Schlafrock empfängt.
[Jean Paul an Magister Gräfenhain in Leipzig, Leipzig Mai 1783]
Ich werde mich ferner Ihrer Wonung nicht mer so nähern als gestern, und da ich weiter fast blos am Abend und am Morgen den Garten besuche, so werden Sie selten ein Zeuge der Kleidung sein, die mich Bequemlichkeit, Gesundheit und Armut tragen heissen. Den Hals wil ich unterm Spazierengehen bedekken; ungeachtet vielleicht nicht blos Mode sondern auch Vernunft die Entblössung des Busens so ser wie die Entblössung des Gesichts rechtfertigen könte, ungeachtet selbst der keusche Teil des andern Geschlechts den seinigen entblöst, der durch merere Reize gefärlich ist. - Merere Studenten werden Sie nie im Garten sehen; denn ich habe wenig Freunde und eigentlich nur einen, der bessere Gärten als den körnerschen und nicht den Aufenthalt sondern nur mich besucht. Soviel hätt´ ich gehalten, one es versprochen zu haben.
Bier und Wein
Jean Paul hat sich oft zum Thema Bier geäußert. Von den mehr als 60 Briefen, die er vor seinem Umzug nach Bayreuth an Emanuel Osmund richtet, gibt er immer wieder Hinweise auf den »Magen-Balsam«, den »Herbst-Trost« oder das »Weihwasser«. Emanuel ist für ihn für die Bevorratung mit dunklem braunen Bier zuständig - vor allem des Bieres und des Freundes wegen wird Jean Paul im Sommer 1804 nach Bayreuth ziehen.
Das Bier, das Jean Paul in Meiningen trinkt, bekommt ihm dagegen nicht so gut. Es sei nicht stark genug für eine kräftigende Wirkung; in dieser Zeit glaubt Jean Paul an die heilende Kraft des Bieres. Bekannt ist auch, dass der Herzog Georg von Meiningen ihm eigens Bier aus Bayreuth herbeischaffen lassen muss. An diesen schreibt er im Mai 1803: »Hier leg´ ich Ihnen eine Biersupplik zu Füßen und in die Hände. Da wie das Wasser draußen stieg, mein Bier im Keller fiel; da alles eingetrocknet ist, ausser mein[em] Dintenfas [...]: so [meine] Bitte, daß ich so viel Krüge als Sie erlauben leer nach diesem Valet= und Gnadenbier ins Schlos schicken dürfe - Kehraustrank.«
Einmal sogar bringt ihn das Bier mit dem Gesetz in Konflikt. In Coburg wird er eines Nachts nach reichlichem Genuss beim Urinieren auf der Straße ergriffen und mit einem Reichstaler »Pissteuer« polizeilich belangt. Jean Paul kann nicht einsehen, die »verfluchte Tranksteuer« gleich zweimal zu zahlen, »wenns in mich einpassiert« und dann wieder »aus [mir heraus]«.
Dabei ist Alkohol funktional für Jean Pauls Schreiben. Durch das Trinken von Bier oder Wein kann er seine dichterische Fantasie beflügeln: »Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee«, lautet lapidar eine der Regeln, die Jean Paul allen Einwänden zum Trotz verteidigt, die aber auch körperliche Spuren bei ihm hinterlässt. Am 18. Juli 1825 verbietet ihm schließlich der Leipziger Augenarzt Caspari jeglichen Genuss von Wein und Weißbier.
[Brief an Emanuel Osmund, 15. März 1803, Meiningen]
Einmal wil ich mich doch ernsthaft über meinen Trinkunfug vertheidigen. Nämlich: Von meinem 16. Jahr an trank ich bis ins 20te weder Bier noch Kaffee, nur zulezt diesen an Sontagen. Dan häufiger, aber stets für den Kopf. Erst im 30 nahm ich als Heilmittel Bier ein, um nicht im Kaffee zu ersaufen; und 8 Jahre später Wein. Ich kenne keinen Gaumen-, nur Gehirnkizel; und steigt mir eine Sache nicht in den Kopf, so sol sie auch nicht in die Blase. »Kontest du nicht so viele und so trefliche Werke in längerer Zeit bei kleinerer Anspannung geben« sagt die Welt. Nein, Welt! Die Kunst fodert Intension der Anstrengung, nicht Extension; der freilich, aber auf meine Kosten, die Abspannung folgt. Aber mit blossem natürl[ichem] Feuer ohne äußeres sind gewisse Kalzinier-Effekte gar nicht zu machen; Glas wil ein anderes Feuer als etwa ein Braten. »So must du aber täglich die Inzitamente steigern?« Freilich, aber es kostet blos verflucht Geld, nicht einmal die Gesundheit, denn almählige Zunahme der Reizmittel schadet so wenig als ein heißes Land den Einwohnern. »Du bist abhängig. Guter! Must durchaus imer nach Süden.« Im Winter bin ich auch vom Ofen abhängig und im Leben von allem Satan. Übrigens darf ich, da ich doch das Beste und Möglichste in meinem Dasein schon gethan, nämlich 25 Bände schon gemacht habe, nun mit dem Reste des Lebens und Schreibens nicht mehr so scheu umspringen als mit dem Anfang.
Krankheit und Tod
Am 30. November 1817 sendet Jean Paul eine mit VORBERICHT ZU DEM KRANKEN- UND SEKZION-BERICHTE VON MEINEM KÜNFTIGEN ARZTE betitelte medizinische Selbstdiagnose an den Medizinalrat Johann Gottfried Langermann nach Berlin, der die Akte an seine Kollegen weiterreicht. Jean Paul schildert, dass er von Schwindelanfällen und Herzrasen geplagt werde. Er verspüre »kein Gefühl der Erstikkung, sondern nur das eines Versiechens des Lebens«. Die dramatische Darstellung seines Gesundheitszustandes lässt die Eifersuchtsklagen Karolines mit einem Male verstummen, auch wenn Jean Pauls Einnahme von Stimulierungs- und Beruhigungsmitteln aus heutiger Sicht auffälliger erscheint.
Doch nicht nur ein »Versiechungsgefühl« plagt ihn, sondern auch eine Kurzsichtigkeit, die Anfang November 1825 in Blindheit umschlägt. Die Sehkraft nimmt derart rapide ab, dass Jean Paul eine Brille tragen muss. Am 7. Mai 1824 wendet er sich deswegen an den Leipziger Augenarzt Gottfried Tauber. Im September lässt er sich in Erlangen von Dr. Franz Reisinger untersuchen, der grauen Star diagnostiziert. Eine Staroperation hat Jean Paul bereits im HESPERUS (1795, Leseprobe) beschrieben - zu dieser kommt es bei ihm selbst aber nicht mehr.
Da die Augenkrankheit den Abschluss der SELINA verzögert, bietet Jean Paul seinem Verleger Max die Sammlung seiner Vorreden und Rezensionen an. Am 5. November 1824 muss er zum ersten Mal einen Brief diktieren, auch lässt er sich von seiner Familie abends vorlesen. Der Leipziger Augenarzt Caspari verbietet ihm im Juli 1825 den Genuss von Wein und Weißbier.
Anfang Oktober 1825 stellt sich bei Jean Paul schließlich Brustwassersucht ein, bei der sich Flüssigkeit im Brustraum sammelt. Er magert ab, seine Lebenskraft schwindet. Im Unterleib bildet sich eine Geschwulst, während die Füße anschwellen. Dennoch versucht er bis Anfang November täglich zu arbeiten. In den letzten Tagen bittet er noch um Musik. Am 14. November 1825 stirbt Jean Paul gegen 20 Uhr im Beisein seiner Frau, Emanuels, Spaziers und Dr. Stranskys. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: »Wir wollen´s gehen lassen.« An der Seite seines Sohnes Max wird er am 17. November beerdigt.
[Jean Paul, VORBERICHT ZU DEM KRANKEN- UND SEKZION-BERICHTE VON MEINEM KÜNFTIGEN ARZTE]
Schon seit Jahren verfocht ich gegen mehre Aerzte die Diagnose, daß das Uebel blos augenblickliche Lähmung der Lungennerven sei, bei aller Gesundheit der Lungensubstanz. [...] Endlich gab Léveillé in Paris meinem Uebel zuerst den Namen, nämlich Opportunität zum Lungenschlagfluß, bei welchem das Gehirn gesund, die rechte Herzkammer und Lunge blutstrotzend, und die linke blutleer gefunden wird [...]. Hohnbaum stellte neuerdings mit vieler Gründlichkeit diesen Schlagfluß als eine neue Gattung auf, den man nach meinem Ableben etwa den Jean Paulschen nennen könnte, wie es einen Millarschen Husten gibt.
Gott, Tod und Schauer
»Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß die Toten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert, sich aus ihrem aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Toten wegen vor dem Tode«. Dieses Einleitungsmotiv der bekannten REDE DES TOTEN CHRISTUS (Leseprobe) steht ursprünglich in der Hofer Stadtchronik, die Jean Paul Mitte der 1790er-Jahre für die Niederschrift konsultiert. In diesen Tagen beschäftigt er sich öfters mit den Themen Gott, Tod und Schauer. Die Satire MEINE LEBENDIGE BEGRABUNG z.B. nimmt den Scheintod spielerisch aufs Korn: »Eine wahre Wolthat wars für mich, daß ich noch lebendig war, da ich begraben wurde«. Spielerisch insofern, weil ausgehend von der Vorstellung, man könne die Zeit vor dem Begräbnis aufgebahrt miterleben, sarkastisch-ironische Bemerkungen gemacht werden können. Der Abend des 15. November stellt sich dann als einschneidendes Erlebnis dar, »denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied ist ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Plane und alles mir davonschwindet und daß ich die armen Menschen lieben sol [...].« Der Tod wird zur Selbsterfahrung, aber ohne Ironie, zum »Geschenk einer neuen Welt«; die »unwahrscheinliche Vernichtung« hingegen sei (nur) ein Schlaf, wie es am 16. November heißt.
Das ist nicht immer so. In der REDE DES TOTEN CHRISTUS wird Grauenhaftes geschildert, die Ewigkeit zernagt und wiederkäut alles, im Universum herrscht Chaos. Unendlichkeit wird nicht kunstreich wie im Schauerroman begrenzt, sondern beklemmend dargestellt: Christus »hob [...] groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: 'Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! [...] Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles!'« Doch dann der Umschwung: Ein »unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer« soll das Weltgebäude zerschlagen - »als ich erwachte«. Das Ganze erscheint wie ein Traum: »Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte«.
Jean Paul als Heiler
Wie schon bei seinen Wetterprophetien in der Rolle des Vorhersagers übt sich Jean Paul gegenüber Menschen in der Rolle des Wunderheilers. Von der Wissenschaftlichkeit des zeitgenössischen Mesmerismus, benannt nach dem Schweizer Mediziner Franz Anton Mesmer (1734-1815) und seiner Theorie des animalischen Magnetismus, ist er überzeugt. Begierig studiert und exzerpiert er alle, zum Teil sehr umfangreichen Werke darüber, zeigt sich schon bald vertraut mit den heilsamen Handstreichbewegungen und glaubt an seine eigenen Wunderheilkräfte als Magnetiseur. 1799 trifft Jean Paul mit dem Heidelberger Arzt und Biologen Franz Joseph Schelver zusammen, der Juliane von Krüdener behandelt, und besucht in Folge bei ihm mehrere magnetische Séancen, von denen er zutiefst beeindruckt ist: »Ich war im Tempel des Weltgeistes«.
Magnetische Sitzungen kommen ab etwa 1780 in Mode und oszillieren zwischen Okkultismus und nachweisbaren Hypnose-Effekten. Sie beruhen darauf, dass, so wie unsichtbare magnetische Kräfte sichtbare Materie wie Eisenspäne bewegen und ausrichten, auch die unsichtbare Kraft der Seele auf organische Körper wirkt. Mesmer entwickelt daraus eine Theorie des Fluidums, des »Lebensfeuers«, feinster, tendenziell unsichtbarer Materie, deren »All-Flut« als die zentrale Wirkkraft aller Lebewesen zwar nicht messbar, aber in der Anwendung erzeugbar und beeinflussbar sei. Folglich könne der Arzt den menschlichen Körper heilen, indem pathologische Staus aufgelöst und in ein universelles Fließen überführt würden.
Von Jean Paul heißt es, dass er tatsächlich selbst magnetisiert habe. Minna Spazier, die Schwägerin, berichtet ihrer Schwester 1820: »Nein, nie werd´ ich den Abend vergessen, wo meine Tochter vor Zahnschmerzen vergehend, Nachts elf Uhr nach seiner Wohnung stürzt, ihn aus dem ersten Schlafe wecken läßt, wie er sogleich barfuß im Dunkeln die Treppe hinabsteigt in den Hof [...] und sie magnetisch zu streichen beginnt, was mehrmals schon ihre Schmerzen gelindert, und als man sie eine halbe Stunde nachher im tiefsten Schlafe nach Hause trägt!«
[Jean Paul, »Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus«, § 11]
Der wahre abstoßende Pol der Magnetmenschen oder Menschmagneten ist bisher für unser glaubloses Zeitalter, welches auf seinem Pünktchen Gegenwart nur die nächste Grenzvergangenheit und die Grenzzukunft lieb hat [...] immer das Weissagen geblieben. [...] Man kann das magnetische Weissagen einteilen in Einschauen, in Weitschauen und in Zurück- und Vorausschauen. [...] Das Zurück- und Vorausschauen bezieht sich auf das Messen der Zeit. Aus Nachschauen wird Vorschauen. Wenn die Hellseherin die Minute ihres Aufwachens und Einschlafens etc. voraussagt, mithin die dazu hinlaufenden und hingereiheten Minuten zusammenzählt: so tut sie etwas [...] was wir niedriger häufig erreichen, wenn wir z. B. durch den Vorsatz, zu irgendeiner Stunde zu erwachen, diese mitten in und aus dem Schlafdunkel treffen. Denn der Geist arbeitet auch im tiefen finstern Körper-Schachte fort und zählt an unbewußten Gefühlen die Zeit sich ab. [...] Jeder Zustand enthält den nächsten, mithin auch das Vorgefühl desselben, und der nächste wieder den nachnächsten mit Vorgefühl; und so kann sich dieses Vorfühlen durch immer längere überfühlbare Zustand-Reihen, durch immer höhere Steigerung der leiblich-geistigen Kraft ausdehnen [...].
Weitere Kapitel:
Jean Paul als Pädagoge
Dreimal arbeitet Jean Paul als Erzieher: zuerst in Töpen als Hofmeister Oerthels (1786-89), dann in Schwarzenbach an der Saale bei den Kindern des Amtsverwalters (1790-94), schließlich in Hof, wo er einen Knaben und mehrere Mädchen unterrichtet (1794-96). Jean Paul pflegt eine neue Form der Pädagogik, die die Phantasie der Kinder durch spielerischen Umgang mit dem Lernstoff fördert - ganz im Gegensatz zum sturen Auswendiglernen, das den väterlichen Unterricht Jean Pauls geprägt hat.
Die Schüler erfinden witzige Sprüche, aus denen Jean Paul seit 1790 eine BONMOTS-ANTHOLOGIE MEINER ELEVEN entwickelt. Darüber hinaus weckt die freie Unterrichtspraxis in ihm den Satiriker. In »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg« im QUINTUS FIXLEIN (1796) karikiert er einen Lehrer, der mit seinen Schülern eine Studienreise unternimmt, in seiner Lebensferne aber nur unfreiwillige Komik produziert. Am Ende verzichtet Fälbel sogar auf den Besuch des Gebirges, zumal es schon vom Konrektor Helfrecht aus Hof beschrieben worden sei.
Wichtiger als die Satire ist jedoch Jean Pauls eigene pädagogische Schrift LEVANA ODER ERZIEHLEHRE (1807). Ähnlich wie das humanistische Lehrbuch ORBIS PICTUS des Comenius (1658), das Jean Paul immer wieder als Inspirationsquelle nutzt, ist LEVANA vom Prinzip der Anschauung geprägt. »Das Werk selber«, so schreibt er seinem Verleger Vieweg, »ist für die höhere (elegante) Welt und die Mütter didaktisch geschrieben - geht von dem Allgemeinsten, dem Geiste der Zeit, der Bildung zur Religion usw. bis zu den bestimmtesten Regeln herab, über Spiele, Freuden, Strafen usw. der Kinder - Von der Ausbildung des Menschen bis zu einem Briefe über Bildung der Fürsten, der Weiber usw. und bis zur physischen Erziehung.« Das Hauptanliegen des Buches ist es, das Kind zu erheben, es zu freier Entfaltung gelangen zu lassen. Damit rückt Jean Paul als Autor in den Kanon reformpädagogischer Klassiker am Ende des 19. Jahrhunderts - eine Entwicklung, die er scheinbar voraussieht, weil er meint, dass LEVANA seine literarischen Schriften überleben werde.
[Jean Paul, Vorrede zur ersten Auflage von LEVANA]
Wenigstens mit innigster Liebe für die kleinen Wesen, die leichten Blumengötterchen in einem bald verwelkten Eden, ist dieses Buch geschrieben; Levana, die mütterliche Göttin, welche sonst den Vätern Vaterherzen zu verleihen angeflehet wurde, möge die Bitte, die der Titel des Buchs an sie tut, erhören und dadurch ihn und dieses rechtfertigen. Leider raubt entweder der Staat oder die Wissenschaft dem Vater die Kinder über die Hälfte; die Erziehung der meisten ist nur ein System von Regeln, sich das Kind ein paar Schreibtische weit vom Leibe zu halten und es mehr für ihre Ruhe als für seine Kraft zu formen; höchstens wöchentlich einige Male ihm unter dem Sturmwinde des Zornes so viel Mehl der Lehren zuzumessen, als er verstäuben kann. Aber ich möchte die Geschäftmänner fragen, welche Bildung der Seelen mehr auf der Stelle erfreuend belohne als die der unschuldigen, die dem Rosenholze ähnlich sind, das Blumenduft ausstreuet, wenn man es formt und zimmert. Oder was jetzo der fallenden Welt - unter so vielen Ruinen des Edelsten und Altertums - noch übrig bleibe als Kinder, die Reinen, noch von keiner Zeit und Stadt Verfälschten. - Nur sie können in einem höhern Sinn, als wozu man sonst Kinder gebrauchte, in dem Zauberkristall die Zukunft und Wahrheit schauen und noch mit verbundenen Augen aus dem Glückrade das reichere Schicksal ziehen.
Frisur und Kleidung
Im 18. Jahrhundert gilt es als unanständiger, sich anders zu kleiden und zu frisieren, als es normal ist. Seit Jahrhunderten regeln in Stadt und Land strenge »Kleiderordnungen«, wie sich die streng voneinander getrennten Klassen auch äußerlich zu unterscheiden haben. In Leipzig, wo Jean Paul während seiner Studienjahre (1781-84) weilt, sind Kleiderzwänge an der Tagesordnung. Die Bedeutung, die der äußeren Erscheinung beigemessen wird, ist Jean Paul jedoch zuwider: »Die Mode ist hier der Tyran, unter dem sich alles beugt [...] Die Stuzzer bedekken die Strasse, bei schönen Tagen flattern sie herum wie die Schmetterlinge. Einer gleicht dem andern; sie sind wie Puppen im Marionettenspiele, und keiner hat das Herz, Er selbst zu sein.« (an Vogel, 17.9.1781)
Allen Gesetzen der Mode spottend, wirft Jean Paul nicht nur Zopf und Puder von sich, sondern auch seine Halsbekleidung und tritt mit »krausem blonden Haar und offener Brust« unter die Leipziger Bevölkerung. Sein Neffe Richard Otto Spazier berichtet: »Dieses Kostüm war damals so unerhört, daß Jean Paul sieben Jahre lang gegen die üblen Folgen, welche ihm daraus wuchsen, ankämpfen mußte, und dennoch in diesem Kampfe endlich erlag; denn gegen alle seine Erwartung war es ihm bis dahin noch nicht gelungen, sich irgend eine äußere Selbstständigkeit zu erringen. Bewundernswerth aber ist die Kraft, mit welcher er diese unangenehmen Folgen so lange ertrug. - Bald nämlich verlangte er von der Mutter seine Oberhemden à la Hamlet.«
Wegen seines provozierenden Äußeren verliert Jean Paul im Mai 1782 sein Zimmer. Sein selbst auferlegtes »Kleidermartyrium«, das noch bis September 1789 andauern wird, führt auch dazu, dass ein Nachbar, der mit ihm einen Garten angemietet hat, sich über die Kleidung beim Hauswirt beschwert (siehe Zitat). Selbst Pfarrer Vogel versucht Jean Paul von einer züchtigen Bekleidungsart zu überzeugen; da alles gutes Zureden nichts hilft, liefert er ihm die Bücher, die dieser sich regelmäßig bei ihm ausgeliehen hat, einfach nicht mehr aus.
Auch später wird Jean Paul im »Schlabber-Look« auftreten: bei sich zu Hause in Bayreuth, wo er als anerkannter Schriftsteller Gäste im Schlafrock empfängt.
[Jean Paul an Magister Gräfenhain in Leipzig, Leipzig Mai 1783]
Ich werde mich ferner Ihrer Wonung nicht mer so nähern als gestern, und da ich weiter fast blos am Abend und am Morgen den Garten besuche, so werden Sie selten ein Zeuge der Kleidung sein, die mich Bequemlichkeit, Gesundheit und Armut tragen heissen. Den Hals wil ich unterm Spazierengehen bedekken; ungeachtet vielleicht nicht blos Mode sondern auch Vernunft die Entblössung des Busens so ser wie die Entblössung des Gesichts rechtfertigen könte, ungeachtet selbst der keusche Teil des andern Geschlechts den seinigen entblöst, der durch merere Reize gefärlich ist. - Merere Studenten werden Sie nie im Garten sehen; denn ich habe wenig Freunde und eigentlich nur einen, der bessere Gärten als den körnerschen und nicht den Aufenthalt sondern nur mich besucht. Soviel hätt´ ich gehalten, one es versprochen zu haben.
Bier und Wein
Jean Paul hat sich oft zum Thema Bier geäußert. Von den mehr als 60 Briefen, die er vor seinem Umzug nach Bayreuth an Emanuel Osmund richtet, gibt er immer wieder Hinweise auf den »Magen-Balsam«, den »Herbst-Trost« oder das »Weihwasser«. Emanuel ist für ihn für die Bevorratung mit dunklem braunen Bier zuständig - vor allem des Bieres und des Freundes wegen wird Jean Paul im Sommer 1804 nach Bayreuth ziehen.
Das Bier, das Jean Paul in Meiningen trinkt, bekommt ihm dagegen nicht so gut. Es sei nicht stark genug für eine kräftigende Wirkung; in dieser Zeit glaubt Jean Paul an die heilende Kraft des Bieres. Bekannt ist auch, dass der Herzog Georg von Meiningen ihm eigens Bier aus Bayreuth herbeischaffen lassen muss. An diesen schreibt er im Mai 1803: »Hier leg´ ich Ihnen eine Biersupplik zu Füßen und in die Hände. Da wie das Wasser draußen stieg, mein Bier im Keller fiel; da alles eingetrocknet ist, ausser mein[em] Dintenfas [...]: so [meine] Bitte, daß ich so viel Krüge als Sie erlauben leer nach diesem Valet= und Gnadenbier ins Schlos schicken dürfe - Kehraustrank.«
Einmal sogar bringt ihn das Bier mit dem Gesetz in Konflikt. In Coburg wird er eines Nachts nach reichlichem Genuss beim Urinieren auf der Straße ergriffen und mit einem Reichstaler »Pissteuer« polizeilich belangt. Jean Paul kann nicht einsehen, die »verfluchte Tranksteuer« gleich zweimal zu zahlen, »wenns in mich einpassiert« und dann wieder »aus [mir heraus]«.
Dabei ist Alkohol funktional für Jean Pauls Schreiben. Durch das Trinken von Bier oder Wein kann er seine dichterische Fantasie beflügeln: »Entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee«, lautet lapidar eine der Regeln, die Jean Paul allen Einwänden zum Trotz verteidigt, die aber auch körperliche Spuren bei ihm hinterlässt. Am 18. Juli 1825 verbietet ihm schließlich der Leipziger Augenarzt Caspari jeglichen Genuss von Wein und Weißbier.
[Brief an Emanuel Osmund, 15. März 1803, Meiningen]
Einmal wil ich mich doch ernsthaft über meinen Trinkunfug vertheidigen. Nämlich: Von meinem 16. Jahr an trank ich bis ins 20te weder Bier noch Kaffee, nur zulezt diesen an Sontagen. Dan häufiger, aber stets für den Kopf. Erst im 30 nahm ich als Heilmittel Bier ein, um nicht im Kaffee zu ersaufen; und 8 Jahre später Wein. Ich kenne keinen Gaumen-, nur Gehirnkizel; und steigt mir eine Sache nicht in den Kopf, so sol sie auch nicht in die Blase. »Kontest du nicht so viele und so trefliche Werke in längerer Zeit bei kleinerer Anspannung geben« sagt die Welt. Nein, Welt! Die Kunst fodert Intension der Anstrengung, nicht Extension; der freilich, aber auf meine Kosten, die Abspannung folgt. Aber mit blossem natürl[ichem] Feuer ohne äußeres sind gewisse Kalzinier-Effekte gar nicht zu machen; Glas wil ein anderes Feuer als etwa ein Braten. »So must du aber täglich die Inzitamente steigern?« Freilich, aber es kostet blos verflucht Geld, nicht einmal die Gesundheit, denn almählige Zunahme der Reizmittel schadet so wenig als ein heißes Land den Einwohnern. »Du bist abhängig. Guter! Must durchaus imer nach Süden.« Im Winter bin ich auch vom Ofen abhängig und im Leben von allem Satan. Übrigens darf ich, da ich doch das Beste und Möglichste in meinem Dasein schon gethan, nämlich 25 Bände schon gemacht habe, nun mit dem Reste des Lebens und Schreibens nicht mehr so scheu umspringen als mit dem Anfang.
Krankheit und Tod
Am 30. November 1817 sendet Jean Paul eine mit VORBERICHT ZU DEM KRANKEN- UND SEKZION-BERICHTE VON MEINEM KÜNFTIGEN ARZTE betitelte medizinische Selbstdiagnose an den Medizinalrat Johann Gottfried Langermann nach Berlin, der die Akte an seine Kollegen weiterreicht. Jean Paul schildert, dass er von Schwindelanfällen und Herzrasen geplagt werde. Er verspüre »kein Gefühl der Erstikkung, sondern nur das eines Versiechens des Lebens«. Die dramatische Darstellung seines Gesundheitszustandes lässt die Eifersuchtsklagen Karolines mit einem Male verstummen, auch wenn Jean Pauls Einnahme von Stimulierungs- und Beruhigungsmitteln aus heutiger Sicht auffälliger erscheint.
Doch nicht nur ein »Versiechungsgefühl« plagt ihn, sondern auch eine Kurzsichtigkeit, die Anfang November 1825 in Blindheit umschlägt. Die Sehkraft nimmt derart rapide ab, dass Jean Paul eine Brille tragen muss. Am 7. Mai 1824 wendet er sich deswegen an den Leipziger Augenarzt Gottfried Tauber. Im September lässt er sich in Erlangen von Dr. Franz Reisinger untersuchen, der grauen Star diagnostiziert. Eine Staroperation hat Jean Paul bereits im HESPERUS (1795, Leseprobe) beschrieben - zu dieser kommt es bei ihm selbst aber nicht mehr.
Da die Augenkrankheit den Abschluss der SELINA verzögert, bietet Jean Paul seinem Verleger Max die Sammlung seiner Vorreden und Rezensionen an. Am 5. November 1824 muss er zum ersten Mal einen Brief diktieren, auch lässt er sich von seiner Familie abends vorlesen. Der Leipziger Augenarzt Caspari verbietet ihm im Juli 1825 den Genuss von Wein und Weißbier.
Anfang Oktober 1825 stellt sich bei Jean Paul schließlich Brustwassersucht ein, bei der sich Flüssigkeit im Brustraum sammelt. Er magert ab, seine Lebenskraft schwindet. Im Unterleib bildet sich eine Geschwulst, während die Füße anschwellen. Dennoch versucht er bis Anfang November täglich zu arbeiten. In den letzten Tagen bittet er noch um Musik. Am 14. November 1825 stirbt Jean Paul gegen 20 Uhr im Beisein seiner Frau, Emanuels, Spaziers und Dr. Stranskys. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: »Wir wollen´s gehen lassen.« An der Seite seines Sohnes Max wird er am 17. November beerdigt.
[Jean Paul, VORBERICHT ZU DEM KRANKEN- UND SEKZION-BERICHTE VON MEINEM KÜNFTIGEN ARZTE]
Schon seit Jahren verfocht ich gegen mehre Aerzte die Diagnose, daß das Uebel blos augenblickliche Lähmung der Lungennerven sei, bei aller Gesundheit der Lungensubstanz. [...] Endlich gab Léveillé in Paris meinem Uebel zuerst den Namen, nämlich Opportunität zum Lungenschlagfluß, bei welchem das Gehirn gesund, die rechte Herzkammer und Lunge blutstrotzend, und die linke blutleer gefunden wird [...]. Hohnbaum stellte neuerdings mit vieler Gründlichkeit diesen Schlagfluß als eine neue Gattung auf, den man nach meinem Ableben etwa den Jean Paulschen nennen könnte, wie es einen Millarschen Husten gibt.
Gott, Tod und Schauer
»Wenn man in der Kindheit erzählen hört, daß die Toten um Mitternacht, wo unser Schlaf nahe bis an die Seele reicht und selber die Träume verfinstert, sich aus ihrem aufrichten, und daß sie in den Kirchen den Gottesdienst der Lebendigen nachäffen: so schaudert man der Toten wegen vor dem Tode«. Dieses Einleitungsmotiv der bekannten REDE DES TOTEN CHRISTUS (Leseprobe) steht ursprünglich in der Hofer Stadtchronik, die Jean Paul Mitte der 1790er-Jahre für die Niederschrift konsultiert. In diesen Tagen beschäftigt er sich öfters mit den Themen Gott, Tod und Schauer. Die Satire MEINE LEBENDIGE BEGRABUNG z.B. nimmt den Scheintod spielerisch aufs Korn: »Eine wahre Wolthat wars für mich, daß ich noch lebendig war, da ich begraben wurde«. Spielerisch insofern, weil ausgehend von der Vorstellung, man könne die Zeit vor dem Begräbnis aufgebahrt miterleben, sarkastisch-ironische Bemerkungen gemacht werden können. Der Abend des 15. November stellt sich dann als einschneidendes Erlebnis dar, »denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied ist ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Plane und alles mir davonschwindet und daß ich die armen Menschen lieben sol [...].« Der Tod wird zur Selbsterfahrung, aber ohne Ironie, zum »Geschenk einer neuen Welt«; die »unwahrscheinliche Vernichtung« hingegen sei (nur) ein Schlaf, wie es am 16. November heißt.
Das ist nicht immer so. In der REDE DES TOTEN CHRISTUS wird Grauenhaftes geschildert, die Ewigkeit zernagt und wiederkäut alles, im Universum herrscht Chaos. Unendlichkeit wird nicht kunstreich wie im Schauerroman begrenzt, sondern beklemmend dargestellt: Christus »hob [...] groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: 'Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! [...] Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles!'« Doch dann der Umschwung: Ein »unermeßlich ausgedehnter Glockenhammer« soll das Weltgebäude zerschlagen - »als ich erwachte«. Das Ganze erscheint wie ein Traum: »Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte«.
Jean Paul als Heiler
Wie schon bei seinen Wetterprophetien in der Rolle des Vorhersagers übt sich Jean Paul gegenüber Menschen in der Rolle des Wunderheilers. Von der Wissenschaftlichkeit des zeitgenössischen Mesmerismus, benannt nach dem Schweizer Mediziner Franz Anton Mesmer (1734-1815) und seiner Theorie des animalischen Magnetismus, ist er überzeugt. Begierig studiert und exzerpiert er alle, zum Teil sehr umfangreichen Werke darüber, zeigt sich schon bald vertraut mit den heilsamen Handstreichbewegungen und glaubt an seine eigenen Wunderheilkräfte als Magnetiseur. 1799 trifft Jean Paul mit dem Heidelberger Arzt und Biologen Franz Joseph Schelver zusammen, der Juliane von Krüdener behandelt, und besucht in Folge bei ihm mehrere magnetische Séancen, von denen er zutiefst beeindruckt ist: »Ich war im Tempel des Weltgeistes«.
Magnetische Sitzungen kommen ab etwa 1780 in Mode und oszillieren zwischen Okkultismus und nachweisbaren Hypnose-Effekten. Sie beruhen darauf, dass, so wie unsichtbare magnetische Kräfte sichtbare Materie wie Eisenspäne bewegen und ausrichten, auch die unsichtbare Kraft der Seele auf organische Körper wirkt. Mesmer entwickelt daraus eine Theorie des Fluidums, des »Lebensfeuers«, feinster, tendenziell unsichtbarer Materie, deren »All-Flut« als die zentrale Wirkkraft aller Lebewesen zwar nicht messbar, aber in der Anwendung erzeugbar und beeinflussbar sei. Folglich könne der Arzt den menschlichen Körper heilen, indem pathologische Staus aufgelöst und in ein universelles Fließen überführt würden.
Von Jean Paul heißt es, dass er tatsächlich selbst magnetisiert habe. Minna Spazier, die Schwägerin, berichtet ihrer Schwester 1820: »Nein, nie werd´ ich den Abend vergessen, wo meine Tochter vor Zahnschmerzen vergehend, Nachts elf Uhr nach seiner Wohnung stürzt, ihn aus dem ersten Schlafe wecken läßt, wie er sogleich barfuß im Dunkeln die Treppe hinabsteigt in den Hof [...] und sie magnetisch zu streichen beginnt, was mehrmals schon ihre Schmerzen gelindert, und als man sie eine halbe Stunde nachher im tiefsten Schlafe nach Hause trägt!«
[Jean Paul, »Mutmaßungen über einige Wunder des organischen Magnetismus«, § 11]
Der wahre abstoßende Pol der Magnetmenschen oder Menschmagneten ist bisher für unser glaubloses Zeitalter, welches auf seinem Pünktchen Gegenwart nur die nächste Grenzvergangenheit und die Grenzzukunft lieb hat [...] immer das Weissagen geblieben. [...] Man kann das magnetische Weissagen einteilen in Einschauen, in Weitschauen und in Zurück- und Vorausschauen. [...] Das Zurück- und Vorausschauen bezieht sich auf das Messen der Zeit. Aus Nachschauen wird Vorschauen. Wenn die Hellseherin die Minute ihres Aufwachens und Einschlafens etc. voraussagt, mithin die dazu hinlaufenden und hingereiheten Minuten zusammenzählt: so tut sie etwas [...] was wir niedriger häufig erreichen, wenn wir z. B. durch den Vorsatz, zu irgendeiner Stunde zu erwachen, diese mitten in und aus dem Schlafdunkel treffen. Denn der Geist arbeitet auch im tiefen finstern Körper-Schachte fort und zählt an unbewußten Gefühlen die Zeit sich ab. [...] Jeder Zustand enthält den nächsten, mithin auch das Vorgefühl desselben, und der nächste wieder den nachnächsten mit Vorgefühl; und so kann sich dieses Vorfühlen durch immer längere überfühlbare Zustand-Reihen, durch immer höhere Steigerung der leiblich-geistigen Kraft ausdehnen [...].