Schule und Studium

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Karl von Reinhardstöttner: Luiz de Camoens, der Sänger der Lusiaden, Leipzig, 1877; Biogr. 173 se (c) BSB München

Die Beamtenkarriere des Vaters bringt zwischen 1845 und 1874 häufigen Wohnungswechsel innerhalb Münchens mit sich. So lebt die Familie laut Münchner Einwohnerverzeichnis nacheinander in der Sendlinger Landstraße (1845), der Residenzstraße (1850), der Dienersgasse (1858), der Königinstraße (1867), der Maximilianstraße (1868) und der Amalienstraße (1874). Da aber ist Karl schon selbständig und lebt – in erster Ehe mit Betty Rittelmann (gestorben 1874 oder 1875) – in der Brienner Straße 7. Nach dem Tod der ersten Gattin heiratet er Therese Göckel. Aus beiden Ehen gingen zwei Söhne und zwei Töchter hervor.

Schon in den ersten Jahren, als ich die Lateinschule besuchte, bestand kein Zweifel, daß ich das Studium der Sprachen aufnehmen würde, weil ich mich nicht nur nur dem Lateinischen, Griechischen und Französischen mit großer Sorgfalt widmete, [...], sondern ich betrieb mit höchstem Ehrgeiz das Studium jener Sprachen, die zu lernen niemand verpflichtet war. [...], nämlich Italienisch, Englisch und Hebräisch. Und die häusliche Freizeit verbrachte ich ausschließlich beim Studium der spanischen und portugiesischen Sprache. Außerdem versuchte ich mir die Grundlagen der nordgermanischen und slawischen Sprachen anzueignen [...]. Wegen dieser Studien [...] mußten logischerweise andere Fächer vernachlässigt werden, wie etwa die Mathematik, und auf diese Weise geschah es, daß ich in den letzten Schuljahren den ersten Platz verlor, den ich lange Zeit unter den Mitschülern innehatte.

(Aus dem lateinischen Lebenslauf)

Trotz dieser Vernachlässigung nichtsprachlicher Fächer weist sein Abiturzeugnis die Gesamtnote Eins sowohl im „allgemeinen Fortgang“ als auch im „sittlichen Betragen“ aus, und der vierte Platz unter den Mitschülern wird ihm ausdrücklich bestätigt. Mit diesem Zeugnis bewarb er sich drei Jahre später um eine Hofmeisterstelle. Davon wird noch die Rede sein.

Im Wintersemester 1865/66 nahm er an der Ludwigs-Maximilians-Universität München ein thematisch sehr breit gefächertes Studium auf und war von Anfang an um ein wahres studium universale bemüht. Neben seinen Sprachstudien hörte er im Verlauf der sechs Semester Vorlesungen über Philosophie, Geschichte, Kunst, Literatur-, Natur- und Sozialgeschichte, Länder- und Völkerkunde, vorzüglich aber über Altphilologie und antike Geschichte. Einen Katalog seiner Kollegs, Seminare und Übungen bietet er in dem lateinischen Lebenslauf, den er im Zusammenhang mit der Promotion an der Universität Halle einreichte (dankenswerterweise übersetzt von Dr. Wolfgang Gorek).

Besondere Aufgeschlossenheit für neue und zukunftsträchtige Disziplinen beweist seine intensive Beschäftigung mit Problemen der vergleichenden Sprachwissenschaft, einem damals sehr jungen, heute Komparatistik genannten Zweig der Linguistik. Beleg hierfür ist seine Abhandlung Die italienische Sprache, ihre Entstehung aus dem Lateinischen, ihr Verhältnis zu den übrigen romanischen Sprachen, und ihre Dialekte nebst einem Blick auf die italienische Literatur (1869).

Das Erscheinen seiner Broschüre Über das Studium ... 1867/68 hatte ein weitverbreitetes Echo gefunden, und so „habe ich im Jahr 1868 nach Ablauf von drei Jahren die Münchner Universität verlassen, um mich völlig mit den neuen Sprachen zu befassen, die in unserer Universität vernachlässigt worden waren, so daß nicht einmal ein Gedanke an sie verschwendet wurde.“ (Aus dem lateinischen Lebenslauf)

Im selben Jahr 1868 begibt Reinhardstöttner sich auf längere wissenschaftliche Reisen durch die romanischen Länder: „So bin ich, Frankreich und Italien durchwandernd, in den berühmtesten Städten länger geblieben, z.B. in Genf, Lyon, Florenz, Mailand, Taormina, damit ich Grammtik und Sprachgebrauch ausgiebig lernte.“

In Spanien und Portugal sind es die Archive von Madrid, Saragossa und Coimbra, in denen er die Quellen für seine sprach- und literaturwissenschaftlichen Werke erforscht und seine lebenslange Leidenschaft für das Portugiesische begründet. Früchte dieser Arbeit sind in den nächsten zehn Jahren zahlreiche Editionen, Übersetzungen, Biographien und pädagogisch aufbereitete Grammatiken und Wörterbücher aus den italienischen, spanischen und portugiesischen Sprachbereichen.

Erwähnt seien u.a. Grammatik der italienischen Sprache speziell für Studierende und Kenner der alten Sprachen (1868) – De lingua Italiae particulis (1871, Dissertation) – Beiträge zur Textkritik der Lusiaden des Camoes (1872, Habilitationsschrift) – Die Lusiaden des Luiz de Camoes (1874, Edition) – Luiz de Camoes, der Sänger der Lusiaden. Biographische Skizze (1877) – Grammtik der portugiesischen Sprache auf Grundlage des Lateinischen und der romanischen Sprachvergleichung (1878).

Nach Beendigung seines Studiums in München und nach seiner Rückkehr von seinen wissenschaftlichen Reisen widmete er sich seiner inzwischen gewährten Hofmeisterstelle als Erzieher der beiden wittelsbachischen Prinzen Alfons und Ludwig Ferdinand, mit denen ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Von klein auf hatte er die Ferien und den Großteil seiner sonstigen Freizeit im alten Schloss des Familiensitzes in Lixenried verbracht, und er bewegte sich mit Vorliebe mit seinen beiden Zöglingen inmitten der Dorfbevölkerung, verkehrte viel im Wirtshaus Bierl, dem heutigen Gasthof „Zum Fächtn“.

Mit der Lixenrieder Ortsbevölkerung war er stets auf freunschaftlichem Fuße; er verkehrte mit ihr im Gasthause, außerdem stand jedem der Weg zu ihm offen. Auf der Straße unterhielt er sich gerne mit den Leuten, denen er auch in speziellen Anliegen Gesuche und Bittschriften bereitwillig verfaßte [...]. Er war ein „lieber Mann“, so urteilt das dortige Volk über den Verstorbenen, ein Lob, das zu seiner wissenschaftlichen und literarischen Bedeutung wohl die schönste Ergänzung bildet.

(Aus dem Nachruf von J. B. Laßleben. In: Die Oberpfalz 3 [1909], 5, Kallmünz)

Seine Verwurzelung in diesem Dorf wurde noch intensiver, als das alte Schloß wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste und er 1883 ein neues Domizil baute, die heutige Villa Reinhardstöttner. So gewann Lixenried für ihn eine Art Heimatcharakter, und von hier aus erwanderte er die nähere und weitere Umgebung, gewann dadurch eine tiefe Zuneigung zu Land und Leuten im Bayerischen Wald.

Über all diesen Aktivitäten vergaß er nicht, die Früchte seiner Sprachstudien und Reisen zu ernten, und ging zu weiteren Studien 1870 an die königliche Friedrichs-Universität in Halle; dort brachte er das Gewonnene in die erwähnte Dissertation ein und wurde am 5. Mai 1871 zum Dr. phil. promoviert. Ein Seitenblick auf die für Deutschland so ereignisreichen Jahre zwischen 1866 und 1871 legt die Frage nahe, wie Reinhardstöttner die Einigungskriege, Königgrätz 1866, den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und die Reichsgründung wohl wahrgenommen hat? Hat er Sedan bejubelt? Weder die Personalakte noch das mir zugängliche biographische Material lassen gültige Schlüsse zu. Aber es ist schwer vorzustellen, dass dieser historisch denkende Geist nichts Diesbezügliches aufgezeichnet und überliefert haben soll. Dass er kein zeittypischer Hurrapatriot gewesen sein wird, lässt sich aus seiner kosmopolitischen und polyglotten Grundhaltung schließen, und die übernationale Interessenverflechtung musste den bescheidenen Wissenschaftler vor jedem nationalen Auftrumpfen feien. Kein Militärdienst für den Studenten? Ist der hofmeisterliche Prinzenerzieher „uk“ geschrieben worden? Half ein wenig die Protektion seitens des Hofsekretär-Vaters? Oder ließen gesundheitliche Gründe kein Soldatenleben zu? Es muss hier bei Vermutungen bleiben – einem eifrigen Biographen bleibt es vorbehalten, solchen Detailfragen nachzuforschen.

Die deutlichste Sprache für seinen wachen Blick auf Zeitgeschehnisse sprechen seine eingangs zitierten Aussagen in der Broschüre Über das Studium .... Wenn wir aber seinen weiteren Lebensweg verfolgen, dann sehen wir, dass für ihn die Entwicklung und Vertiefung seiner Kenntnisse auf seinem ureigenen Gebiet, der Sprach- und Literaturwissenschaften, eindeutig Vorrang hatten.

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Verfasst von: Max Heigl (Text) / Bayerische Staatsbibliothek (Bildbeigaben)