Persönlichkeit und gesellschaftlicher Fortschritt
Das Spannungsfeld von Identitätsfindung und gesellschaftlichem Engagement ist ebenso zentrales Thema in Kerbels Flucht. Kerbel fährt bewusst mit seinem Auto in eine Polizeiabsperrung, wird für einen Terroristen gehalten und erschossen. Tatsächliche Vorlage ist der Fall eines befreundeten Kommunarden, der Selbstmord begeht. Doch Kerbel geht es im Wesentlichen nicht um die Selbstaufopferung für gesellschaftliche Ideale. Es ist eine persönliche Erfahrung: der Liebes- und Weltschmerz, eine Depression, die ihn zur Selbstaufgabe treibt. Am Beispiel der Figur Kerbels illustriert Timm die Desillusionierung der Linken in den 1970er-Jahren:
Im Alten Ofen standen die Veteranen der 68er Jahre, die meisten bärtig und langhaarig, einige waren kahl. Sie standen, als warteten sie schon seit Jahren hier, tranken ihr Bier und redeten davon, daß unter dem Asphalt der Strand liege, man müsse nur das Pflaster aufreißen.
(Uwe Timm: Kerbels Flucht. München 1980, S. 21.)
Kerbels Flucht reflektiert gescheiterte Lebensentwürfe im Dunstkreis der '68er-Ideologie. Der Lebensentwurf scheint in der Ablösung von den elterlichen Wertvorstellungen nicht mehr festgelegt, die Identitätsfrage rückt in den Vordergrund. Die Freiheit ist ein hervorragender Nährboden für das Scheitern – das Credo Sartres ließe sich geradewegs zu der These verkehren: Freiheit ist Freiheit zum Scheitern.
Das Ergebnis der Befreiung ist die Orientierungslosigkeit. Kerbels Flucht liest sich als eine Aneinanderreihung von Tagebucheinträgen; in seinen Notizen arbeitet der Protagonist seine Vergangenheit auf, fängt Erinnerungen an seine Kindheit, an das Familienleben, reflektiert das distanzierte Verhältnis zum Vater, die liebevollere Mutter – und die Enttäuschung seiner Hoffnungen, die er sich von der Studentenrevolte versprochen hat: „Und ich kann von dieser Zeit in mir nichts finden, außer dem faden Gefühl, Zeit vertan zu haben“ (ebda., S. 19). Doch jenseits der Aktivitäten der Studentenbewegung sieht er erst recht keinen Sinn. Das Verlorenheitsgefühl wird in dem Verlust von Bindung gedoppelt: Kerbel ist auf sich zurückgeworfen, das Beziehungsmodell der freien Liebe ist gescheitert, da es keinen Halt zu geben vermag. So lässt er über seine Freundin verlauten: „Sie hat mir meine Austauschbarkeit bewiesen, das verzeihe ich ihr nicht und kann es mir nicht verzeihen“ (ebda., S. 57). Auf den psychischen folgt der körperliche Abbau. Kerbel wird krank. Somatisch tut sich der Abbau in Übelkeit und Magenbeschwerden kund, die psychischen Folgen sind:
In meinem Kopf, was für ein Kuddelmuddel. Mir ist, als müßte ich meinen Gedanken nachlaufen. Setze ich mich, beginnt alles zu kribbeln, Hitze steigt auf, ich muß wieder aufspringen. Wenig später muß ich mich setzen, weil alles so unerträglich langsam sich dahinschleppt.
(Ebda., S. 162.)
Die Studentenbewegung kann diese in der Befreiung verlorengegangenen familiären wie partnerschaftlichen Bindungen nicht ersetzen, und die utopischen Ideale werden an der gesellschaftlichen Wirklichkeit relativiert.
Sekundärliteratur:
Finlay, Frank; Cornils, Ingo (Hg.) (2006): „(Un-)erfüllte Wirklichkeit“. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg.
Hielscher, Martin (2007): Uwe Timm. München.
Nicklas, Simone Christina (2015): „Erinnern führt ins Innere“. Erinnerung und Identität bei Uwe Timm. Marburg.
Weisz, Sabine (2009): Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm. Marburg.
Weitere Kapitel:
Das Spannungsfeld von Identitätsfindung und gesellschaftlichem Engagement ist ebenso zentrales Thema in Kerbels Flucht. Kerbel fährt bewusst mit seinem Auto in eine Polizeiabsperrung, wird für einen Terroristen gehalten und erschossen. Tatsächliche Vorlage ist der Fall eines befreundeten Kommunarden, der Selbstmord begeht. Doch Kerbel geht es im Wesentlichen nicht um die Selbstaufopferung für gesellschaftliche Ideale. Es ist eine persönliche Erfahrung: der Liebes- und Weltschmerz, eine Depression, die ihn zur Selbstaufgabe treibt. Am Beispiel der Figur Kerbels illustriert Timm die Desillusionierung der Linken in den 1970er-Jahren:
Im Alten Ofen standen die Veteranen der 68er Jahre, die meisten bärtig und langhaarig, einige waren kahl. Sie standen, als warteten sie schon seit Jahren hier, tranken ihr Bier und redeten davon, daß unter dem Asphalt der Strand liege, man müsse nur das Pflaster aufreißen.
(Uwe Timm: Kerbels Flucht. München 1980, S. 21.)
Kerbels Flucht reflektiert gescheiterte Lebensentwürfe im Dunstkreis der '68er-Ideologie. Der Lebensentwurf scheint in der Ablösung von den elterlichen Wertvorstellungen nicht mehr festgelegt, die Identitätsfrage rückt in den Vordergrund. Die Freiheit ist ein hervorragender Nährboden für das Scheitern – das Credo Sartres ließe sich geradewegs zu der These verkehren: Freiheit ist Freiheit zum Scheitern.
Das Ergebnis der Befreiung ist die Orientierungslosigkeit. Kerbels Flucht liest sich als eine Aneinanderreihung von Tagebucheinträgen; in seinen Notizen arbeitet der Protagonist seine Vergangenheit auf, fängt Erinnerungen an seine Kindheit, an das Familienleben, reflektiert das distanzierte Verhältnis zum Vater, die liebevollere Mutter – und die Enttäuschung seiner Hoffnungen, die er sich von der Studentenrevolte versprochen hat: „Und ich kann von dieser Zeit in mir nichts finden, außer dem faden Gefühl, Zeit vertan zu haben“ (ebda., S. 19). Doch jenseits der Aktivitäten der Studentenbewegung sieht er erst recht keinen Sinn. Das Verlorenheitsgefühl wird in dem Verlust von Bindung gedoppelt: Kerbel ist auf sich zurückgeworfen, das Beziehungsmodell der freien Liebe ist gescheitert, da es keinen Halt zu geben vermag. So lässt er über seine Freundin verlauten: „Sie hat mir meine Austauschbarkeit bewiesen, das verzeihe ich ihr nicht und kann es mir nicht verzeihen“ (ebda., S. 57). Auf den psychischen folgt der körperliche Abbau. Kerbel wird krank. Somatisch tut sich der Abbau in Übelkeit und Magenbeschwerden kund, die psychischen Folgen sind:
In meinem Kopf, was für ein Kuddelmuddel. Mir ist, als müßte ich meinen Gedanken nachlaufen. Setze ich mich, beginnt alles zu kribbeln, Hitze steigt auf, ich muß wieder aufspringen. Wenig später muß ich mich setzen, weil alles so unerträglich langsam sich dahinschleppt.
(Ebda., S. 162.)
Die Studentenbewegung kann diese in der Befreiung verlorengegangenen familiären wie partnerschaftlichen Bindungen nicht ersetzen, und die utopischen Ideale werden an der gesellschaftlichen Wirklichkeit relativiert.
Finlay, Frank; Cornils, Ingo (Hg.) (2006): „(Un-)erfüllte Wirklichkeit“. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg.
Hielscher, Martin (2007): Uwe Timm. München.
Nicklas, Simone Christina (2015): „Erinnern führt ins Innere“. Erinnerung und Identität bei Uwe Timm. Marburg.
Weisz, Sabine (2009): Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm. Marburg.