Ansichten eines Alt-68ers

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Demonstration in Helsinki gegen die sowjetische Invasion der Tschechoslowakei im August 1968.

Im Mittelpunkt der Handlung von Uwe Timms bekanntestem '68er-Roman Heißer Sommer steht der Student Ullrich Krause, der in einer Wohngemeinschaft in München wohnt. Ullrich hat sich gerade von seiner Freundin Ingeborg getrennt, die von ihm schwanger geworden ist und abgetrieben hat. Anstatt seinem Studium nachzugehen, das ihm durch die konservative Atmosphäre der Universität verleidet wird, faulenzt er am Badesee und zieht durch Kneipen. Als er im Radio vom Mord Benno Ohnesorgs hört, wird sein Interesse an Politik geweckt.

Die Kugel hatte die rechte Großhirnhälfte durchschlagen. In seinem Kopf hatte man ein deformiertes Mittelmantelgeschoß gefunden. [...] Ullrich legte die Zeitung auf den Tisch und sah die Leopoldstraße hinunter. Das wird heute wieder heiß, sagte die Kellnerin, als sie Ullrich die Tasse Kaffee auf den Tisch stellte. Er überlegte, an welchem Tag der Schah in München gewesen war. Am Nebentisch lachte eine Frau, die ein Butterhörnchen in der Hand hielt und zwei breite Goldringe am Zeigefinger trug. […] Ullrich sah die Fotos in der Zeitung. Der Student am Boden liegend. Über ihn gebeugt eine junge Frau in einem weiten schwarzen Abendkleid. Sie hält seinen Kopf. Am Hinterkopf und auf dem Boden: Blut. [...] Und [...] das Foto von dem lachenden Schah und Farah Diba, die eine kleine Krone im Haar trägt. Ullrich hörte das kreischende Anfahren eines Autos und dann wieder dieses Lachen vom Nebentisch. Zahlen, schrie er, zahlen. [...] Er trank seinen Kaffee nicht aus. Er stand sofort auf. Ullrich hörte seine Schritte laut auf dem Pflaster der Leopoldstraße.

(Uwe Timm: Heißer Sommer. 11. Aufl. München 2017, S. 57f.)

Enthusiastisch schließt er sich einer Demonstration gegen den Springer-Verlag an. Seine Eltern begegnen der zunehmend linken Orientierung des Sohnes argwöhnisch und drängen aufgrund finanzieller Engpässe zum Studienabschluss. Doch Ullrich zieht nach Hamburg, wo er sich radikalisiert: Er beteiligt sich an Aktionen des SDS, kommt in Berührung mit linksradikalen Gewalttaten und zieht in eine Kommune, wo Cannabis konsumiert und „freie Liebe“ praktiziert wird. Schließlich bricht er sein Studium ab und nimmt die Arbeit in einer Stahlfabrik auf. Während er Flugblattaktionen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen anzettelt, zerschlägt sich die Kommune: Seine Mitbewohner wollen auf einen Bauernhof ziehen, um dort einen alternativen grünen Lebensstil zu pflegen. Und ein SDS-Freund will ihn dazu überzeugen, gegen das System mit Waffengewalt vorzugehen. Ullrich lehnt ab und kündigt in der Firma. Er will zurück nach München und sein Studium beenden. Und wieder Kontakt zu Ingeborg aufnehmen.

Heißer Sommer liefert ein paradigmatisches Bild der Studentenbewegung und der charakteristischen revolutionären Atmosphäre und orientiert sich dabei erzählstrategisch vornehmlich an einer äußerlichen Beschreibung, die zugleich im Verzicht auf die Apostrophisierung der direkten Rede sehr unpersönlich wirkt. Es gibt wenig innere Beschreibung der Gefühle, die Emotionen werden im Handeln und in den Konsequenzen ersichtlich. Auf den ersten Blick zeigen sich Parallelen zwischen der Situation des Protagonisten und der Biografie des Autors. Aber der Charakter Ullrichs entspricht eher dem eines Antihelden: Er droht an seinem Studium ebenso zu scheitern wie an seinen Liebesbeziehungen – Ullrich ist ein Prototyp der zeittypischen Verunsicherung und Selbstsuche. So sind es auch zwei Stränge, die die Erzählung strukturieren: die Persönlichkeitsentwicklung des Protagonisten auf der einen und der Hergang der Revolte auf der anderen Seite. Dabei steht die Selbstbewusstwerdung am Ende über dem politischen Engagement.

Die zeitliche Dreiteilung des Romans, die sich wie drei Stadien der Persönlichkeitsentwicklung lesen lässt, spiegelt den Prozess der Selbstwerdung: Ullrich verbummelt in München seine Studienzeit, zeigt sich orientierungslos. Im zweiten Teil lässt er sich mitreißen und wird politisch aktiv. Im dritten Teil wiederum wirkt er reifer und abgeklärter und erkennt die Schattenseiten der idealistischen Entwürfe. So mag sich diese spätere Einsicht in das Bild einfügen, das von vielen Timm-Büchern bleibt: Es ist die rückblickend abgeklärte Sicht eines zur Ruhe gekommenen Alt-'68ers auf das leidenschaftliche Engagement der Revolutionäre. Der Autor macht die Beweggründe der Hingabe an die politischen Ideale plausibel, in der er sich einst selbst wiederfand, ohne diese zu verklären. Bringt er einerseits Versäumnisse und Irrtümer der jugendlichen Hitzköpfe zur Sprache, so ist das Thema für ihn keineswegs abgegolten – die Verhandlung der '68er-Ideologie reicht bis in das gegenwärtige Werk des Autors.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Hielscher, Martin (2007): Uwe Timm. München.

Weisz, Sabine (2009): Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm. Marburg.