Phantasie an die Macht: Wolfgang Bächler
Wolfgang Bächler wird 1925 in Augsburg geboren, studiert nach seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft 1945 in München Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Bächler ist ab 1967 als Schauspieler in Filmen von Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog (Die Blechtrommel) und Volker Schlöndorff zu sehen und profiliert sich als Mitbegründer der Gruppe 47. Einen Namen macht er sich vor allem ab den 1950er-Jahren als Lyriker – sein Durchbruch erfolgt mit dem Gedichtband Die Zisterne (1950), für den er großen Zuspruch von Gottfried Benn, Martin Walser und Thomas Mann erhält. Eine Depressionserkrankung zwingt ihn jedoch immer wieder zu längeren Schaffenspausen. 1954 bis 1969 dokumentiert er seine Traumnotizen in dem 1972 publizierten Traumprotokollen. Dieses Protokoll ist ursprünglich Bestandteil einer ihm verordneten Therapie. Leitmotive seiner weiteren Gedicht- und Prosabände, darunter Ausbrechen (Lyrik 1976), Stadtbesetzung (Prosa 1979), Nachtleben (Lyrik 1982), Im Schlaf. Traumprosa (1982), Einer, der auszog, sich köpfen zu lassen (Roman 1990), sind Einsamkeit und Heimatlosigkeit, die sich auch in seinem persönlich unsteten und widersprüchlichen Leben fernab von Gesellschaftsfähigkeit spiegeln.
„Phantasie an die Macht!“, skandieren die Studenten bei den Maiunruhen in Paris. Phantastisch ist das aus dem Normenkorsett der 60er-Jahre befreite Denken, phantastisch ist das menschliche Denken ganz grundsätzlich. So klingt auch in Bächlers Traumnotizen, die er im Rahmen seiner eigenen Psychoanalyse anfertigt, das Freudsche Dogma von der Wirklichkeitserfahrung des Unbewussten mit Hilfe der Traumdeutung an. Das Verfahren, unmittelbar nach dem morgendlichen Erwachen im Halbschlaf das nächtliche Kopfkino zu Papier zu bringen, erinnert an die unter den Surrealisten praktizierte Écriture automatique. Neben seinem Bett liegen ein Heft und ein Stift für die morgendliche Notiz bereit. Beim Übertragen der Niederschrift auf die Schreibmaschine formuliert der Autor aus den spontanen Anakoluthen und Stichworten ganze Sätze, nimmt aber keine inhaltlichen oder strukturellen Änderungen vor. Der Traum, die Schöpferkraft des Unbewussten liefern eine eigentümliche Inspirationsquelle; die Traumprosa operiert auf einer völlig entgegengesetzten Sphäre als die Prosa der Verhältnisse.
Den Anfang der Aufzeichnungen macht eine Autofahrt entlang der Côte d'Azur, bei der der Autor plötzlich feststellt, dass die Bremsen versagen, und aufwacht. Auf den nächsten 100 Seiten wird in Bächlers Träumen das Kriegstrauma evident, mit dessen Erfahrung der Schriftsteller eine ganze Generation repräsentiert. Angst, Flucht, Gefangenschaft sind immerwiederkehrende Motive; doch er bringt auch viele Kindheitserinnerungen zu Papier, die ihn noch im Erwachsenenalter verfolgen.
Nacht vom 30. zum 31. Mai 1954
1 Beim Hosenanziehen nach dem Baden wuchsen mir Mistkäfer aus den Zehen. Ich trat und trat auf das Hosenbein und kam nicht hinein und trat auf die Mistkäfer, trat sie tot. Aber es quollen immer wieder neue unter meinen Zehen hervor und krabbelten an meinen Beinen herauf. 2 Ich dringe mit zwei Kameraden auf der Flucht vor Verfolgern in ein Haus ein. Wir rennen über Treppen, durch Büroräume und Korridore an vielen Schränken und Spinden vorbei bis zum Dachboden hinauf. Dort stehen alte Betten und Sofas herum, unter die wir uns verkriechen. Bald kommen die […] Verfolger auf den Speicher [und] stochern mit Besenstielen unter allen auf dem Dachboden abgestellten Gegenständen und Möbeln herum. [...] An mir stochern sie lange vorbei. [...] Aber schließlich stößt mir doch ein Besenstiel in die Hüften. Ich werde entdeckt und unter dem Hohngelächter der Sieger aus meinem Versteck hervorgezerrt.
(Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch, München 1972, S. 12f.)
Die letzte Aufzeichnung schließt an diese Motive an:
Nacht vom 5. zum 6. Juni 1969
Ich dringe in ein leeres Haus ein, in einem Dorf, das vom Feind umstellt ist. Ich gehe vorsichtig immer in Deckung, [...] befürchte Schüsse auf mich [...]. Ich finde ein Zimmer, dessen Wände frisch gestrichen sind. Als einziges Möbel steht ein Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf ihm liegt ein schöner roter Apfel. Ich nehme ihn und verlasse das Haus und bin dann weiter auf der Flucht, ohne zu wissen, wohin.
(Ebda., S. 117.)
Sekundärliteratur:
Curtius, Mechthild (1991): Autorengespräche. Verwandlung der Wirklichkeit. Frankfurt a. Main.
Große, Wilhelm (2007): Wolfgang Bächler. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv. URL: URL: http://www.munzinger.de/document/16000000025, (04.10.2018).
Walser, Martin (1972): Über Traumprosa. In: Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch. München.
Weitere Kapitel:
Wolfgang Bächler wird 1925 in Augsburg geboren, studiert nach seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft 1945 in München Germanistik, Romanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Bächler ist ab 1967 als Schauspieler in Filmen von Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog (Die Blechtrommel) und Volker Schlöndorff zu sehen und profiliert sich als Mitbegründer der Gruppe 47. Einen Namen macht er sich vor allem ab den 1950er-Jahren als Lyriker – sein Durchbruch erfolgt mit dem Gedichtband Die Zisterne (1950), für den er großen Zuspruch von Gottfried Benn, Martin Walser und Thomas Mann erhält. Eine Depressionserkrankung zwingt ihn jedoch immer wieder zu längeren Schaffenspausen. 1954 bis 1969 dokumentiert er seine Traumnotizen in dem 1972 publizierten Traumprotokollen. Dieses Protokoll ist ursprünglich Bestandteil einer ihm verordneten Therapie. Leitmotive seiner weiteren Gedicht- und Prosabände, darunter Ausbrechen (Lyrik 1976), Stadtbesetzung (Prosa 1979), Nachtleben (Lyrik 1982), Im Schlaf. Traumprosa (1982), Einer, der auszog, sich köpfen zu lassen (Roman 1990), sind Einsamkeit und Heimatlosigkeit, die sich auch in seinem persönlich unsteten und widersprüchlichen Leben fernab von Gesellschaftsfähigkeit spiegeln.
„Phantasie an die Macht!“, skandieren die Studenten bei den Maiunruhen in Paris. Phantastisch ist das aus dem Normenkorsett der 60er-Jahre befreite Denken, phantastisch ist das menschliche Denken ganz grundsätzlich. So klingt auch in Bächlers Traumnotizen, die er im Rahmen seiner eigenen Psychoanalyse anfertigt, das Freudsche Dogma von der Wirklichkeitserfahrung des Unbewussten mit Hilfe der Traumdeutung an. Das Verfahren, unmittelbar nach dem morgendlichen Erwachen im Halbschlaf das nächtliche Kopfkino zu Papier zu bringen, erinnert an die unter den Surrealisten praktizierte Écriture automatique. Neben seinem Bett liegen ein Heft und ein Stift für die morgendliche Notiz bereit. Beim Übertragen der Niederschrift auf die Schreibmaschine formuliert der Autor aus den spontanen Anakoluthen und Stichworten ganze Sätze, nimmt aber keine inhaltlichen oder strukturellen Änderungen vor. Der Traum, die Schöpferkraft des Unbewussten liefern eine eigentümliche Inspirationsquelle; die Traumprosa operiert auf einer völlig entgegengesetzten Sphäre als die Prosa der Verhältnisse.
Den Anfang der Aufzeichnungen macht eine Autofahrt entlang der Côte d'Azur, bei der der Autor plötzlich feststellt, dass die Bremsen versagen, und aufwacht. Auf den nächsten 100 Seiten wird in Bächlers Träumen das Kriegstrauma evident, mit dessen Erfahrung der Schriftsteller eine ganze Generation repräsentiert. Angst, Flucht, Gefangenschaft sind immerwiederkehrende Motive; doch er bringt auch viele Kindheitserinnerungen zu Papier, die ihn noch im Erwachsenenalter verfolgen.
Nacht vom 30. zum 31. Mai 1954
1 Beim Hosenanziehen nach dem Baden wuchsen mir Mistkäfer aus den Zehen. Ich trat und trat auf das Hosenbein und kam nicht hinein und trat auf die Mistkäfer, trat sie tot. Aber es quollen immer wieder neue unter meinen Zehen hervor und krabbelten an meinen Beinen herauf. 2 Ich dringe mit zwei Kameraden auf der Flucht vor Verfolgern in ein Haus ein. Wir rennen über Treppen, durch Büroräume und Korridore an vielen Schränken und Spinden vorbei bis zum Dachboden hinauf. Dort stehen alte Betten und Sofas herum, unter die wir uns verkriechen. Bald kommen die […] Verfolger auf den Speicher [und] stochern mit Besenstielen unter allen auf dem Dachboden abgestellten Gegenständen und Möbeln herum. [...] An mir stochern sie lange vorbei. [...] Aber schließlich stößt mir doch ein Besenstiel in die Hüften. Ich werde entdeckt und unter dem Hohngelächter der Sieger aus meinem Versteck hervorgezerrt.
(Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch, München 1972, S. 12f.)
Die letzte Aufzeichnung schließt an diese Motive an:
Nacht vom 5. zum 6. Juni 1969
Ich dringe in ein leeres Haus ein, in einem Dorf, das vom Feind umstellt ist. Ich gehe vorsichtig immer in Deckung, [...] befürchte Schüsse auf mich [...]. Ich finde ein Zimmer, dessen Wände frisch gestrichen sind. Als einziges Möbel steht ein Tisch in der Mitte des Zimmers. Auf ihm liegt ein schöner roter Apfel. Ich nehme ihn und verlasse das Haus und bin dann weiter auf der Flucht, ohne zu wissen, wohin.
(Ebda., S. 117.)
Curtius, Mechthild (1991): Autorengespräche. Verwandlung der Wirklichkeit. Frankfurt a. Main.
Große, Wilhelm (2007): Wolfgang Bächler. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur. Munzinger Online/Personen - Internationales Biographisches Archiv. URL: URL: http://www.munzinger.de/document/16000000025, (04.10.2018).
Walser, Martin (1972): Über Traumprosa. In: Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch. München.