Die Vater-Sohn-Beziehung als Hassliebe
Ganz knapp ließe sich der Romaninhalt folgendermaßen wiedergeben: Ein rebellischer Sohn arbeitet sich an seinem faschistischen Vater ab und geht an seiner gescheiterten Identitätssuche zugrunde. Der Welthass ist im Kern ein Hass auf die eigene Person, und Vesper beschreibt sein grundlegendes Problem gegenüber seinem Reisegefährten:
„Ich werde ein Buch schreiben“, sagte ich zu Burton, [...]. „The title of the book will be HATE.“ [...] Ich hasse Deutschland, ich hasse die Deutschen, dieses auf den Straßen herumrollende Gemüse (vegetable). [...] Ich hasse meinen Vater. [...] über 150 bis 200 Seiten. (Und mittendrin, unvermittelt: ICH LIEBE MICH – aber das war schließlich die ungelöste Frage. Oder wäre es nicht besser, [...] sich an irgendeinem dieser Grenzpfähle aufzuhängen [...]. Ich dachte daran, daß das eine gute Geschichte geben würde... und am Ende die Szene auf nächtlicher Straße, als der Mond über dem Golf stand und ein ‚unbegreiflicher, tragischer SELBSTMORD‘.)
(Die Reise, S. 18.)
Dieses Schicksal ist zum Topos der '68er geworden: Der wohlerzogene Junge entwickelt sich ausgerechnet aufgrund seiner Wohlerzogenheit zu einem kaputten Typen. Eigentlich gäbe es da eine Perspektive: Im Leben Vespers ist der Tod des Vaters eine Zäsur. Er unterteilt seine Biografie in einen Lebensabschnitt der Indoktrination und der Selbstfindung. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist eine Hassbeziehung – er muss sich in seinem zweiten Lebensabschnitt aus dieser Beziehung befreien und zu sich finden. Doch mit Entsetzen stellt der Sohn fest, wie sehr seine Identität mit der seines Vaters innig verbunden ist – die Perspektive schwindet. Eine Schlüsselszene der Reise ist das Hofgartenerlebnis, in der der Autor von der Vorstellung besessen ist,
daß ich Hitler war [...], daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm..., ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber er ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, es ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH...
(Ebda., S. 107.)
Obwohl sich der Sohn von der elterlichen Prägung befreien, die Indoktrination überwinden will, ist er lange Zeit dem literarischen Erbe des Vaters treu geblieben. Auf dem väterlichen Gut betreibt Vesper zunächst den Verlag Triangel und will mit Gudrun Ensslin eine Gesamtausgabe seiner Werke anstrengen. Die beiden sehen dieses als ein historisches Dokument, das den ideologischen Irrweg eines Intellektuellen nachzeichnet, wie ihn ähnlich Martin Heidegger beschritten hatte. Und sie plädieren für die Berücksichtigung unpolitischer Schriften, wie „Liebe, Traum und Tod“, die Ensslin 1963 unverschämterweise einem jüdischen Rezensenten nach Jerusalem geschickt hatte, der mit großer Empörung reagiert. Doch die anfängliche Solidarität mit dem geistigen Erbe Will Vespers schwindet. Die Position des Sohnes verschiebt sich nach links, im Laufe des Studiums wird er einer der führenden Köpfe der APO und Herausgeber der Voltaire-Flugschriften. Es mag gerade diese Gespaltenheit sein, die ihn so radikalisiert hat – die Beziehung zu seinem Vater ist eine Hassliebe, die mit der linken Orientierung längst nicht überwunden ist. Der Patriarch hat auch eine fürsorgliche Seite, wie aus der Schilderung der Hepatitis-Erkrankung des Sohnes ersichtlich wird:
[...] mein Vater stand am Kopfende des Bettes, Tränen in den Augen, eingefallen, um Jahrzehnte gealtert. ‚Ich habe mir Sorgen gemacht, sagte er, mein Junge...‘ [...] Und zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass mein Vater mich lieben könnte.
(Ebda., S. 558f.)
Der Sohn zollt seinem Vater einerseits Respekt für sein dichterisches Werk, andererseits erkennt er in ihn den Faschisten. Dieser Zwiespalt begründet die Krise. So geht die Hassliebe so weit, dass der Sohn für den Vater, für die verdorbene Menschheit leidet – das Martyrium Jesu Christi auf sich nehmen will.
Und ich sah im Weiß der Wolke über den Baumkronen den VATER, und ich breitete die Arme aus, kniete [mich] ins Gras und flüsterte: „Vater, ich bin gekommen, ich bin Jesus!“ // (‚Gerade DU brauchst Jesus! Höre auch Du täglich Radio Luxemburg, Mittelwelle 208 m oder Kurzwelle 49 m die Frohe Botschaft von JESUS CHRISTUS! [...] Als das Licht auf der Wolke erschien, vergaß ich keinen Augenblick lang, daß es die Menschen waren, die Gott gemacht hatten. Er war der Vater, der sie bedrohte und liebte, der aber unfähig war, seine Liebe zu zeigen, weil er sonst sein Ansehen und seinen Glanz verloren, und hätte herabsteigen [müssen] und mit anpacken müssen.
(Ebda., S. 220f.)
Und etwas weiter heißt es:
Ich dachte an meinen Vater und versöhnte mich mit ihm. Er war ein Gefangener in dem Gestänge seiner Illusionen, ein weißer Lichtstrahl verband seine Gestalt mit der Gestalt Hitlers, seines Führers...
(Ebda., S. 222.)
Und er zerschlägt mit einer Axt den Lichtstrahl, die Verbindung zum falschen Gott seines Vaters.
Die Vielzahl an religiösen, biblischen Bezügen, angefangen von der Idee der Wiedergeburt in Form der durch den Drogenkonsum induzierten Subjektwerdung bis hin zur Identifizierung seines Vaters mit Gott und der Parallele seiner eigenen Person zu Gottes Sohn, lassen sich auch durch die christlich geprägte Kinderstube Vespers erklären. Es gibt aber auch ideologische Gründe: Der historische Jesus wird für den Ich-Erzähler zur revolutionären Figur, der Trip hat heilsgeschichtlichen Erlösungscharakter (die Marxsche These vom „Opium fürs Volk“ ließe sich in diesem Zusammenhang konterkarieren). Und die Revolution hat den Anklang eines Kreuzzuges, untergräbt der Autor die messianische Botschaft auch gleichzeitig mit blasphemischen Spitzen – analog zur Revolte gegen die Autoritäten:
Ich freute mich, daß ich den Proleten Jesus endlich verstanden hatte, der vor zweitausend Jahren den Gott herausforderte, aber Gott hatte versagt. Und die Religion hatte sich als unbrauchbar erwiesen und wurde zum alten Eisen geworfen auf den Schuttplatz der Weltgeschichte.
(Ebda., S. 221.)
Sekundärliteratur:
Karlheim, Marina (2010): Schreiben über die Väter. Erinnerungstopografien – eine Analyse. Marburg.
Luckscheiter, Roman (2001): Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung. Berlin.
Weitere Kapitel:
Ganz knapp ließe sich der Romaninhalt folgendermaßen wiedergeben: Ein rebellischer Sohn arbeitet sich an seinem faschistischen Vater ab und geht an seiner gescheiterten Identitätssuche zugrunde. Der Welthass ist im Kern ein Hass auf die eigene Person, und Vesper beschreibt sein grundlegendes Problem gegenüber seinem Reisegefährten:
„Ich werde ein Buch schreiben“, sagte ich zu Burton, [...]. „The title of the book will be HATE.“ [...] Ich hasse Deutschland, ich hasse die Deutschen, dieses auf den Straßen herumrollende Gemüse (vegetable). [...] Ich hasse meinen Vater. [...] über 150 bis 200 Seiten. (Und mittendrin, unvermittelt: ICH LIEBE MICH – aber das war schließlich die ungelöste Frage. Oder wäre es nicht besser, [...] sich an irgendeinem dieser Grenzpfähle aufzuhängen [...]. Ich dachte daran, daß das eine gute Geschichte geben würde... und am Ende die Szene auf nächtlicher Straße, als der Mond über dem Golf stand und ein ‚unbegreiflicher, tragischer SELBSTMORD‘.)
(Die Reise, S. 18.)
Dieses Schicksal ist zum Topos der '68er geworden: Der wohlerzogene Junge entwickelt sich ausgerechnet aufgrund seiner Wohlerzogenheit zu einem kaputten Typen. Eigentlich gäbe es da eine Perspektive: Im Leben Vespers ist der Tod des Vaters eine Zäsur. Er unterteilt seine Biografie in einen Lebensabschnitt der Indoktrination und der Selbstfindung. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist eine Hassbeziehung – er muss sich in seinem zweiten Lebensabschnitt aus dieser Beziehung befreien und zu sich finden. Doch mit Entsetzen stellt der Sohn fest, wie sehr seine Identität mit der seines Vaters innig verbunden ist – die Perspektive schwindet. Eine Schlüsselszene der Reise ist das Hofgartenerlebnis, in der der Autor von der Vorstellung besessen ist,
daß ich Hitler war [...], daß ich da nicht herauskommen würde, daß es ein Kampf auf Leben und Tod ist, der mein Leben verseucht, seine gottverdammte Existenz hat sich an meine geklebt wie Napalm..., ich muß versuchen, die brennende Flamme zu löschen, aber er ist gar nicht Hitler, es ist mein Vater, es ist meine Kindheit, meine Erfahrung BIN ICH...
(Ebda., S. 107.)
Obwohl sich der Sohn von der elterlichen Prägung befreien, die Indoktrination überwinden will, ist er lange Zeit dem literarischen Erbe des Vaters treu geblieben. Auf dem väterlichen Gut betreibt Vesper zunächst den Verlag Triangel und will mit Gudrun Ensslin eine Gesamtausgabe seiner Werke anstrengen. Die beiden sehen dieses als ein historisches Dokument, das den ideologischen Irrweg eines Intellektuellen nachzeichnet, wie ihn ähnlich Martin Heidegger beschritten hatte. Und sie plädieren für die Berücksichtigung unpolitischer Schriften, wie „Liebe, Traum und Tod“, die Ensslin 1963 unverschämterweise einem jüdischen Rezensenten nach Jerusalem geschickt hatte, der mit großer Empörung reagiert. Doch die anfängliche Solidarität mit dem geistigen Erbe Will Vespers schwindet. Die Position des Sohnes verschiebt sich nach links, im Laufe des Studiums wird er einer der führenden Köpfe der APO und Herausgeber der Voltaire-Flugschriften. Es mag gerade diese Gespaltenheit sein, die ihn so radikalisiert hat – die Beziehung zu seinem Vater ist eine Hassliebe, die mit der linken Orientierung längst nicht überwunden ist. Der Patriarch hat auch eine fürsorgliche Seite, wie aus der Schilderung der Hepatitis-Erkrankung des Sohnes ersichtlich wird:
[...] mein Vater stand am Kopfende des Bettes, Tränen in den Augen, eingefallen, um Jahrzehnte gealtert. ‚Ich habe mir Sorgen gemacht, sagte er, mein Junge...‘ [...] Und zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke, dass mein Vater mich lieben könnte.
(Ebda., S. 558f.)
Der Sohn zollt seinem Vater einerseits Respekt für sein dichterisches Werk, andererseits erkennt er in ihn den Faschisten. Dieser Zwiespalt begründet die Krise. So geht die Hassliebe so weit, dass der Sohn für den Vater, für die verdorbene Menschheit leidet – das Martyrium Jesu Christi auf sich nehmen will.
Und ich sah im Weiß der Wolke über den Baumkronen den VATER, und ich breitete die Arme aus, kniete [mich] ins Gras und flüsterte: „Vater, ich bin gekommen, ich bin Jesus!“ // (‚Gerade DU brauchst Jesus! Höre auch Du täglich Radio Luxemburg, Mittelwelle 208 m oder Kurzwelle 49 m die Frohe Botschaft von JESUS CHRISTUS! [...] Als das Licht auf der Wolke erschien, vergaß ich keinen Augenblick lang, daß es die Menschen waren, die Gott gemacht hatten. Er war der Vater, der sie bedrohte und liebte, der aber unfähig war, seine Liebe zu zeigen, weil er sonst sein Ansehen und seinen Glanz verloren, und hätte herabsteigen [müssen] und mit anpacken müssen.
(Ebda., S. 220f.)
Und etwas weiter heißt es:
Ich dachte an meinen Vater und versöhnte mich mit ihm. Er war ein Gefangener in dem Gestänge seiner Illusionen, ein weißer Lichtstrahl verband seine Gestalt mit der Gestalt Hitlers, seines Führers...
(Ebda., S. 222.)
Und er zerschlägt mit einer Axt den Lichtstrahl, die Verbindung zum falschen Gott seines Vaters.
Die Vielzahl an religiösen, biblischen Bezügen, angefangen von der Idee der Wiedergeburt in Form der durch den Drogenkonsum induzierten Subjektwerdung bis hin zur Identifizierung seines Vaters mit Gott und der Parallele seiner eigenen Person zu Gottes Sohn, lassen sich auch durch die christlich geprägte Kinderstube Vespers erklären. Es gibt aber auch ideologische Gründe: Der historische Jesus wird für den Ich-Erzähler zur revolutionären Figur, der Trip hat heilsgeschichtlichen Erlösungscharakter (die Marxsche These vom „Opium fürs Volk“ ließe sich in diesem Zusammenhang konterkarieren). Und die Revolution hat den Anklang eines Kreuzzuges, untergräbt der Autor die messianische Botschaft auch gleichzeitig mit blasphemischen Spitzen – analog zur Revolte gegen die Autoritäten:
Ich freute mich, daß ich den Proleten Jesus endlich verstanden hatte, der vor zweitausend Jahren den Gott herausforderte, aber Gott hatte versagt. Und die Religion hatte sich als unbrauchbar erwiesen und wurde zum alten Eisen geworfen auf den Schuttplatz der Weltgeschichte.
(Ebda., S. 221.)
Karlheim, Marina (2010): Schreiben über die Väter. Erinnerungstopografien – eine Analyse. Marburg.
Luckscheiter, Roman (2001): Der postmoderne Impuls. Die Krise der Literatur um 1968 und ihre Überwindung. Berlin.