Das Jahr der Jagd: Gert Heidenreich
1944 in Eberswalde bei Berlin geboren, verschlägt es Gert Heidenreich zum Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Soziologie und Philosophie nach München. 1965 heiratet er Elke Heidenreich (und wird 1972 geschieden). Heidenreich, wohnhaft im Fünf-Seen-Land, etabliert sich als Journalist für den Bayerischen Rundfunk, Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung aber auch für Reisemagazine wie GEO oder Merian. Im neuen Radioprogramm von Bayern 3 ruft er die Sendung Pop Sunday mit junger progressiver Literatur und Rockmusik ins Leben. Der eigene literarische Durchbruch gelingt ihm 1981 mit dem Theaterstück Strafmündig. Es folgen zahlreiche Retrospektiven, in denen er wie in Die Rampe (1985) die NS-Verbrechen thematisiert oder in Füchse jagen. Epilog auf das Jahr 1968 (1988) das Attentat auf Rudi Dutschke literarisiert. Weitere Beispiele deutscher Vergangenheitsbewältigung geben Die Gnade der späten Geburt (1986) oder Die Steinesammlerin (1984).
Füchse jagen – so heißt das Kommando der Berliner Polizei, die Studenten auf der Straße in Schach zu halten. Einer dieser Füchse ist Benno Ohnesorg – den die Kugel trifft. Die Reaktion der Springer-Presse: Die Studenten haben das Unglück provoziert. Das ist die Situation in der Bundesrepublik: Die Law-and-Order-Politik sucht die langhaarigen Rebellen auf der Straße mit Gewalt zu domestizieren – deren rabiates Vorgehen in der Erschießung des Studenten Ohnesorg gipfelt. So geht es ähnlich wie bei Martin Sperr auch bei Gert Heidenreich um das Ausmerzen von innergesellschaftlichen Störfaktoren. Die Heterogenität all dieser Gruppen, die in dem aufgeheizten Klima der jungen Bundesrepublik zusammenstoßen, spiegelt Heidenreich in Füchse jagen. Da gibt es die eine Gruppe der bürgerlich-elterlichen „Spießer“, der Springer-Journalisten oder ausgedienten Altherrenriege in der Regierung, die noch immer ihr NS-Vokabular pflegt (so gelten ihnen die Studenten als Blinddarm, den man aus dem Staat entfernen muss). Auf der anderen Seite sind es die aufmüpfigen Studenten, eine in sich wiederum heterogene Gruppe von Pazifisten und Steinewerfern, von elitären Bürgerkindern und Linkshegelianern. Und dann findet sich in dem Gemenge noch die dritte Gruppe der „Scheißliberalen“, wie sie von den Studenten beschimpft wird; das linke Establishment, das der Stimme ihrer Vernunft folgen will.
Füchse jagen ist ein „collegium politicum“, wie Walter Jens schreibt, es legt die Dialektik frei, die sich aus dem Aufeinanderprallen dieser Fronten ergibt, lässt aus dem Diskurs der konträren Personen Antithesen auf Thesen reagieren und Synthesen entspringen. Ebenjene Personen sind überwiegend dem Räuber-Drama entlehnt, das eine breitere Rezeption in der Kulturlandschaft um '68 erfährt (s. Kap. Demokratisierung des Theaters; Komik und Kritik: Dieter Hildebrandt). Doch gehören auch ein Gretchen und der Schah von Persien zum Pesonenkreis, was das Arrangement ziemlich komisch anmuten lässt. Eine wichtige Person ist der rechtsextreme Josef Bachmann, dessen historisches Vorbild ein Attentat auf Rudi Dutschke ausübt, der kurzum als „Rudi“ das Geschehen des Dramas zentriert. Der in Wirklichkeit bedingungslose Aktivist, der von einer besseren Gesellschaft träumt, wirkt dann schon fast wie ein „Scheißliberaler“, wenn er feststellt, dass es gegen die Prinzipien verstoßen würde, wenn er das Gegenüber, den Kapitalisten, mit Gewalt zu bekämpfen versucht:
Ich kenne nur e i n e n produktiven Haß, den Haß auf die Gewalt. Aber die Praxis macht schwankend. [...] Blutiger Nebel liegt über allem. Mitten im Nebel müssen wir Entscheidungen treffen, mitten im Schwanken. Unsere Vernunft darf nicht kalt sein. [...] Ich kann keinen Menschenhaß in mir finden. Er ist das Instrument der anderen Seite, wir erleiden ihn. Wir dürfen ihn nicht zu unserem Instrument machen.
(Gert Heidenreich: Füchse jagen. Epilog auf das Jahr 1968. München 1988, S. 89f.)
Der Revolutionär kommt zu dem Schluss, dass der Zweck der Revolution nicht alle Mittel heiligt:
Wenn meine Utopie zum Teufel geht, oder meine Sehnsucht, oder das Licht in den Gedanken ausgelöscht wird, oder wenn jetzt auch wir anfangen, den Pazifismus in die unerreichbare Ferne der Ideale zu rücken – und wenn jetzt auch ich sagen soll, daß wir den Haß brauchen für die Liebe wie die Zuchthäuser für den Sozialismus und den Krieg für den Frieden, und wenn ich Not predigen soll für das Glück und Zwang für die Freiheit, den Tod für das Leben, Spiegelberg, dann… scheiß ich auf die Revolution.
(Ebd., S. 90.)
Rudi lässt sich nicht verführen. Sein Idealismus ist ein Idealismus der Menschlichkeit, so wie auch seine Vorlage Karl Moor im Schiller-Drama mit den grausamen Methoden seiner Räuberbande hadert. So kreist Füchse jagen um die Thematik der Legitimität von Gewalt und stellt zwanzig Jahre später, in einer Zeit, die auf die spätere terroristische Radikalisierung der linken Revolutionäre zurückblickt, die Frage, wo die Grenzen des Idealismus eigentlich liegen.
Weitere Kapitel:
1944 in Eberswalde bei Berlin geboren, verschlägt es Gert Heidenreich zum Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Soziologie und Philosophie nach München. 1965 heiratet er Elke Heidenreich (und wird 1972 geschieden). Heidenreich, wohnhaft im Fünf-Seen-Land, etabliert sich als Journalist für den Bayerischen Rundfunk, Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung aber auch für Reisemagazine wie GEO oder Merian. Im neuen Radioprogramm von Bayern 3 ruft er die Sendung Pop Sunday mit junger progressiver Literatur und Rockmusik ins Leben. Der eigene literarische Durchbruch gelingt ihm 1981 mit dem Theaterstück Strafmündig. Es folgen zahlreiche Retrospektiven, in denen er wie in Die Rampe (1985) die NS-Verbrechen thematisiert oder in Füchse jagen. Epilog auf das Jahr 1968 (1988) das Attentat auf Rudi Dutschke literarisiert. Weitere Beispiele deutscher Vergangenheitsbewältigung geben Die Gnade der späten Geburt (1986) oder Die Steinesammlerin (1984).
Füchse jagen – so heißt das Kommando der Berliner Polizei, die Studenten auf der Straße in Schach zu halten. Einer dieser Füchse ist Benno Ohnesorg – den die Kugel trifft. Die Reaktion der Springer-Presse: Die Studenten haben das Unglück provoziert. Das ist die Situation in der Bundesrepublik: Die Law-and-Order-Politik sucht die langhaarigen Rebellen auf der Straße mit Gewalt zu domestizieren – deren rabiates Vorgehen in der Erschießung des Studenten Ohnesorg gipfelt. So geht es ähnlich wie bei Martin Sperr auch bei Gert Heidenreich um das Ausmerzen von innergesellschaftlichen Störfaktoren. Die Heterogenität all dieser Gruppen, die in dem aufgeheizten Klima der jungen Bundesrepublik zusammenstoßen, spiegelt Heidenreich in Füchse jagen. Da gibt es die eine Gruppe der bürgerlich-elterlichen „Spießer“, der Springer-Journalisten oder ausgedienten Altherrenriege in der Regierung, die noch immer ihr NS-Vokabular pflegt (so gelten ihnen die Studenten als Blinddarm, den man aus dem Staat entfernen muss). Auf der anderen Seite sind es die aufmüpfigen Studenten, eine in sich wiederum heterogene Gruppe von Pazifisten und Steinewerfern, von elitären Bürgerkindern und Linkshegelianern. Und dann findet sich in dem Gemenge noch die dritte Gruppe der „Scheißliberalen“, wie sie von den Studenten beschimpft wird; das linke Establishment, das der Stimme ihrer Vernunft folgen will.
Füchse jagen ist ein „collegium politicum“, wie Walter Jens schreibt, es legt die Dialektik frei, die sich aus dem Aufeinanderprallen dieser Fronten ergibt, lässt aus dem Diskurs der konträren Personen Antithesen auf Thesen reagieren und Synthesen entspringen. Ebenjene Personen sind überwiegend dem Räuber-Drama entlehnt, das eine breitere Rezeption in der Kulturlandschaft um '68 erfährt (s. Kap. Demokratisierung des Theaters; Komik und Kritik: Dieter Hildebrandt). Doch gehören auch ein Gretchen und der Schah von Persien zum Pesonenkreis, was das Arrangement ziemlich komisch anmuten lässt. Eine wichtige Person ist der rechtsextreme Josef Bachmann, dessen historisches Vorbild ein Attentat auf Rudi Dutschke ausübt, der kurzum als „Rudi“ das Geschehen des Dramas zentriert. Der in Wirklichkeit bedingungslose Aktivist, der von einer besseren Gesellschaft träumt, wirkt dann schon fast wie ein „Scheißliberaler“, wenn er feststellt, dass es gegen die Prinzipien verstoßen würde, wenn er das Gegenüber, den Kapitalisten, mit Gewalt zu bekämpfen versucht:
Ich kenne nur e i n e n produktiven Haß, den Haß auf die Gewalt. Aber die Praxis macht schwankend. [...] Blutiger Nebel liegt über allem. Mitten im Nebel müssen wir Entscheidungen treffen, mitten im Schwanken. Unsere Vernunft darf nicht kalt sein. [...] Ich kann keinen Menschenhaß in mir finden. Er ist das Instrument der anderen Seite, wir erleiden ihn. Wir dürfen ihn nicht zu unserem Instrument machen.
(Gert Heidenreich: Füchse jagen. Epilog auf das Jahr 1968. München 1988, S. 89f.)
Der Revolutionär kommt zu dem Schluss, dass der Zweck der Revolution nicht alle Mittel heiligt:
Wenn meine Utopie zum Teufel geht, oder meine Sehnsucht, oder das Licht in den Gedanken ausgelöscht wird, oder wenn jetzt auch wir anfangen, den Pazifismus in die unerreichbare Ferne der Ideale zu rücken – und wenn jetzt auch ich sagen soll, daß wir den Haß brauchen für die Liebe wie die Zuchthäuser für den Sozialismus und den Krieg für den Frieden, und wenn ich Not predigen soll für das Glück und Zwang für die Freiheit, den Tod für das Leben, Spiegelberg, dann… scheiß ich auf die Revolution.
(Ebd., S. 90.)
Rudi lässt sich nicht verführen. Sein Idealismus ist ein Idealismus der Menschlichkeit, so wie auch seine Vorlage Karl Moor im Schiller-Drama mit den grausamen Methoden seiner Räuberbande hadert. So kreist Füchse jagen um die Thematik der Legitimität von Gewalt und stellt zwanzig Jahre später, in einer Zeit, die auf die spätere terroristische Radikalisierung der linken Revolutionäre zurückblickt, die Frage, wo die Grenzen des Idealismus eigentlich liegen.