Parabeln auf das Menschsein: Martin Sperr
Martin Sperr wird 1944 im niederbayerischen Steinberg geboren und profiliert sich als Schauspieler und Dramatiker. Sein bekanntestes Werk, das kritische Volkstück Jagdszenen aus Niederbayern, das die Hetze innerhalb einer Dorfgemeinschaft nachstellt, wird 1966 am Bremer Stadttheater uraufgeführt, wo Sperr sein erstes Engagement hat und zudem als Regieassistent angestellt ist. Nach Ödon von Horvath und Marieluise Fleißer gilt er als ein wichtiger Vertreter des Neuen Volksstücks. Sperr orientiert sich konsequent am politischen Auftrag des Schriftstellers, der als Dramatiker an Stelle der Wirklichkeitsnachahmung auf der Bühne die Ästhetik in die politische Aktion überführt, die nicht aus der Perspektive einer bestimmten Klasse, sondern an und für sich als ein Segment der Realität erscheint. 1967 wird Sperr als Schauspieler und Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen engagiert. Er übersetzt Edward Bonds Stück Gerettet in den bayerischen Dialekt und inszeniert das Werk zusammen mit Peter Stein. Es folgen weitere eigene Stücke, wie die beiden kapitalismuskritischen Beiträge Landshuter Erzählungen (1967) und Münchner Freiheit (1971), die zusammen mit den Jagdszenen aus Niederbayern eine Nachkriegs-Trilogie bilden.
Sperrs Jagdszenen, in denen ausgehend vom Schicksal eines homosexuellen Außenseiters die Verlogenheit der Dorfgemeinschaft an den Pranger gestellt wird, die schließlich in gleich zwei menschliche Tragödien mündet, wird ein großer Erfolg. In der Verfilmung von 1968 von Peter Fleischmann besetzt Sperr eine der Hauptrollen. Die Verfilmung darf als einer der ersten großen Erfolge des neuen deutschen Films nach Oberhausen gelten. Schauplatz des Geschehens ist das Dorf Reinöd in Niederbayern, das einen Kleinkrieg gegen die Bäuerin Maria führt: Nachdem ihr Mann an der Front geblieben ist, lebt sie mit ihrem Knecht zusammen – eine Schande in den Augen der Nachbarn. Ihr kriegstraumatisierter Sohn Rovo gilt obendrein als der Dorftrottel. Mit der Rückkehr des inhaftierten homosexuellen Abram bietet sich jedoch ein neuer Sündenbock an. Maria streut das Gerücht, er habe ihren Sohn verführt. Abram wehrt sich in Woyzeck-Manier und straft zu Unrecht die Magd Tonka: Um zu demonstrieren, dass er ein ganzer Kerl ist, vergewaltigt er diese, die sodann von Rovo als Hure diffamiert wird. Als Tonka ihren Peiniger zu erpressen versucht, indem sie behauptet von ihm schwanger zu sein, ersticht er sie im Affekt. Abram wird erneut inhaftiert. Und Rovo, der dem Psychoterror nicht standzuhalten vermag, erhängt sich. Im Gedächtnis bleiben dem Leser wohl Knecht Volkers Worte: „In der Hölle kanns auch nicht schlimmer sein“. (Martin Sperr: Jagdszenen aus Niederbayern (Bayerische Trilogie). Frankfurt a. Main 1972, S. 23.) Maria rehabilitiert sich hingegen durch ihre Heirat mit Volker, und bereinigt von den Störenfrieden kehrt wieder Ruhe im Dorf ein.
Sperr deckt auf, wie Fühlen, Denken und Handeln nur von einem bestimmt werden: dem Wunsch, an die Normalität, wie sie im Dorf zu herrschen hat, anzuknüpfen. Die Integrierten suchen diese zu wahren und die Außenseiter sie zu erlangen. Der bäuerliche Mikrokosmos in diesem Soziotop wirkt noch vorkapitalistisch, eher feudalistisch, ähnlich wie in Fassbinders Katzelmacher, die Bewohner leben mental noch in Kriegszeiten, der Aufschwung ist in der niederbayerischen Provinz noch nicht angekommen. Aber die repressiven und hierarchischen Strukturen des späteren Wirtschaftswunderlandes finden sich hier bereits angelegt. Eine zufällige und doch sinnfällige Koinzidenz: Am Abend des Schusses auf Rudi Dutschke steht die Erstaufführung der Jagdszenen in Wuppertal auf dem Programm. So ist auch die APO Außenseiter des Systems und wird schlussendlich erfolgreich von dem rechtskonservativen Establishment weggeduckt.
Der zweite Teil der Bayerischen Trilogie, die Landshuter Erzählungen, thematisiert die ökonomischen Zwänge und den unerbittlichen Konkurrenzkampf innerhalb eines profitorientierten Systems am Beispiel einer trostlosen Kleinstadt und ihren Unternehmern. Der dritte Teil, die Münchner Freiheit, der Gipfel des Zynismus mit erstaunlichem Gegenwartsbezug, stellt profitgierigen Immobilienspekulanten die chaotischen Linken und Pseudolinken mit ihrem unüberlegten Aktionismus entgegen. Es ist wie bei Tauben im Gras kein positives Menschenbild, das Sperr uns aufzeichnet. Die Jagdszenen dokumentieren das Rudelverhalten des Menschen gegenüber Außenstehenden, so wie die anderen beiden Teile der Trilogie das egoistische Vorteilsstreben der Menschen herausstellen und deren idealistische Gegenspieler entlarven: Sie treffen allgemein anthropologische Feststellungen, die nicht an Ort und Zeit gebunden sind. Zwar werden die Dorfbewohner als rückständig porträtiert, indem sie Fremdwörter falsch aussprechen, doch böse sind sie auf dem Land wie in der Stadt. So sagt Rovo:
Ich merk nichts vom Frieden, ich find, es ist viel wie im Krieg. Ich seh fast keinen Unterschied. Ich weiß, daß Frieden ist und trotzdem –. Wie die Leut sind.
(Jagdszenen, S. 33.)
Demgegenüber will Abram ihn von seinem Zukunftsoptimismus überzeugen, der sich auf die ökonomische Perspektive gründet, und Rovo versucht sich auf die Ermutigung einzulassen.
ABRAM: Ich seh viel Unterschied, Rovo. Ich bin froh, daß der Krieg aus ist. Man hat doch jetzt wieder Aussicht auf ein gesichertes Leben. Man kann auch ganz von vorn anfangen [...]
ROVO: [...] Du, ich hab heut eine Katz gesehen, die hab ich beim Schwanz gepackt und sie so rumgedreht und dann in die Höh geworfen, dann ist sie runtergefallen und war nicht tot.
Abram lacht, bis Rovo einstimmt.
ABRAM: Ich denk mir immer aus, ich hab ein Geschäft – und das wirft soviel Geld ab, daß ich leben kann –
ROVO: [...] Und was noch?
ABRAM: Sonst nichts. Das ist doch viel.
(Ebd., S. 33f.)
Am Ende wird diese Zuversicht enttäuscht. Die Parabel auf das Außenseitertum und den menschlichen Herdentrieb am Beispiel einer überschaubaren Dorfgemeinschaft eignet sich hervorragend für eine Übertragung auf das Setting einer Schülerklasse, innerhalb dessen sich eine ähnliche Dynamik studieren lässt. 1970 wurden die Jagdzenen aus Niederbayern umgearbeitet zu einer Fassung für Schüler: Jagd auf Außenseiter findet Eingang in die Schullektüre. Dies ist vielleicht eines der gelungensten Beispiele für die Demokratisierung des Theaters.
Sekundärliteratur:
Bünger, Torsten (1986): Annäherungen an die Wirklichkeit. Gattung und Autoren des neuen Volksstücks. Frankfurt a. Main.
Weitere Kapitel:
Martin Sperr wird 1944 im niederbayerischen Steinberg geboren und profiliert sich als Schauspieler und Dramatiker. Sein bekanntestes Werk, das kritische Volkstück Jagdszenen aus Niederbayern, das die Hetze innerhalb einer Dorfgemeinschaft nachstellt, wird 1966 am Bremer Stadttheater uraufgeführt, wo Sperr sein erstes Engagement hat und zudem als Regieassistent angestellt ist. Nach Ödon von Horvath und Marieluise Fleißer gilt er als ein wichtiger Vertreter des Neuen Volksstücks. Sperr orientiert sich konsequent am politischen Auftrag des Schriftstellers, der als Dramatiker an Stelle der Wirklichkeitsnachahmung auf der Bühne die Ästhetik in die politische Aktion überführt, die nicht aus der Perspektive einer bestimmten Klasse, sondern an und für sich als ein Segment der Realität erscheint. 1967 wird Sperr als Schauspieler und Dramaturg bei den Münchner Kammerspielen engagiert. Er übersetzt Edward Bonds Stück Gerettet in den bayerischen Dialekt und inszeniert das Werk zusammen mit Peter Stein. Es folgen weitere eigene Stücke, wie die beiden kapitalismuskritischen Beiträge Landshuter Erzählungen (1967) und Münchner Freiheit (1971), die zusammen mit den Jagdszenen aus Niederbayern eine Nachkriegs-Trilogie bilden.
Sperrs Jagdszenen, in denen ausgehend vom Schicksal eines homosexuellen Außenseiters die Verlogenheit der Dorfgemeinschaft an den Pranger gestellt wird, die schließlich in gleich zwei menschliche Tragödien mündet, wird ein großer Erfolg. In der Verfilmung von 1968 von Peter Fleischmann besetzt Sperr eine der Hauptrollen. Die Verfilmung darf als einer der ersten großen Erfolge des neuen deutschen Films nach Oberhausen gelten. Schauplatz des Geschehens ist das Dorf Reinöd in Niederbayern, das einen Kleinkrieg gegen die Bäuerin Maria führt: Nachdem ihr Mann an der Front geblieben ist, lebt sie mit ihrem Knecht zusammen – eine Schande in den Augen der Nachbarn. Ihr kriegstraumatisierter Sohn Rovo gilt obendrein als der Dorftrottel. Mit der Rückkehr des inhaftierten homosexuellen Abram bietet sich jedoch ein neuer Sündenbock an. Maria streut das Gerücht, er habe ihren Sohn verführt. Abram wehrt sich in Woyzeck-Manier und straft zu Unrecht die Magd Tonka: Um zu demonstrieren, dass er ein ganzer Kerl ist, vergewaltigt er diese, die sodann von Rovo als Hure diffamiert wird. Als Tonka ihren Peiniger zu erpressen versucht, indem sie behauptet von ihm schwanger zu sein, ersticht er sie im Affekt. Abram wird erneut inhaftiert. Und Rovo, der dem Psychoterror nicht standzuhalten vermag, erhängt sich. Im Gedächtnis bleiben dem Leser wohl Knecht Volkers Worte: „In der Hölle kanns auch nicht schlimmer sein“. (Martin Sperr: Jagdszenen aus Niederbayern (Bayerische Trilogie). Frankfurt a. Main 1972, S. 23.) Maria rehabilitiert sich hingegen durch ihre Heirat mit Volker, und bereinigt von den Störenfrieden kehrt wieder Ruhe im Dorf ein.
Sperr deckt auf, wie Fühlen, Denken und Handeln nur von einem bestimmt werden: dem Wunsch, an die Normalität, wie sie im Dorf zu herrschen hat, anzuknüpfen. Die Integrierten suchen diese zu wahren und die Außenseiter sie zu erlangen. Der bäuerliche Mikrokosmos in diesem Soziotop wirkt noch vorkapitalistisch, eher feudalistisch, ähnlich wie in Fassbinders Katzelmacher, die Bewohner leben mental noch in Kriegszeiten, der Aufschwung ist in der niederbayerischen Provinz noch nicht angekommen. Aber die repressiven und hierarchischen Strukturen des späteren Wirtschaftswunderlandes finden sich hier bereits angelegt. Eine zufällige und doch sinnfällige Koinzidenz: Am Abend des Schusses auf Rudi Dutschke steht die Erstaufführung der Jagdszenen in Wuppertal auf dem Programm. So ist auch die APO Außenseiter des Systems und wird schlussendlich erfolgreich von dem rechtskonservativen Establishment weggeduckt.
Der zweite Teil der Bayerischen Trilogie, die Landshuter Erzählungen, thematisiert die ökonomischen Zwänge und den unerbittlichen Konkurrenzkampf innerhalb eines profitorientierten Systems am Beispiel einer trostlosen Kleinstadt und ihren Unternehmern. Der dritte Teil, die Münchner Freiheit, der Gipfel des Zynismus mit erstaunlichem Gegenwartsbezug, stellt profitgierigen Immobilienspekulanten die chaotischen Linken und Pseudolinken mit ihrem unüberlegten Aktionismus entgegen. Es ist wie bei Tauben im Gras kein positives Menschenbild, das Sperr uns aufzeichnet. Die Jagdszenen dokumentieren das Rudelverhalten des Menschen gegenüber Außenstehenden, so wie die anderen beiden Teile der Trilogie das egoistische Vorteilsstreben der Menschen herausstellen und deren idealistische Gegenspieler entlarven: Sie treffen allgemein anthropologische Feststellungen, die nicht an Ort und Zeit gebunden sind. Zwar werden die Dorfbewohner als rückständig porträtiert, indem sie Fremdwörter falsch aussprechen, doch böse sind sie auf dem Land wie in der Stadt. So sagt Rovo:
Ich merk nichts vom Frieden, ich find, es ist viel wie im Krieg. Ich seh fast keinen Unterschied. Ich weiß, daß Frieden ist und trotzdem –. Wie die Leut sind.
(Jagdszenen, S. 33.)
Demgegenüber will Abram ihn von seinem Zukunftsoptimismus überzeugen, der sich auf die ökonomische Perspektive gründet, und Rovo versucht sich auf die Ermutigung einzulassen.
ABRAM: Ich seh viel Unterschied, Rovo. Ich bin froh, daß der Krieg aus ist. Man hat doch jetzt wieder Aussicht auf ein gesichertes Leben. Man kann auch ganz von vorn anfangen [...]
ROVO: [...] Du, ich hab heut eine Katz gesehen, die hab ich beim Schwanz gepackt und sie so rumgedreht und dann in die Höh geworfen, dann ist sie runtergefallen und war nicht tot.
Abram lacht, bis Rovo einstimmt.
ABRAM: Ich denk mir immer aus, ich hab ein Geschäft – und das wirft soviel Geld ab, daß ich leben kann –
ROVO: [...] Und was noch?
ABRAM: Sonst nichts. Das ist doch viel.
(Ebd., S. 33f.)
Am Ende wird diese Zuversicht enttäuscht. Die Parabel auf das Außenseitertum und den menschlichen Herdentrieb am Beispiel einer überschaubaren Dorfgemeinschaft eignet sich hervorragend für eine Übertragung auf das Setting einer Schülerklasse, innerhalb dessen sich eine ähnliche Dynamik studieren lässt. 1970 wurden die Jagdzenen aus Niederbayern umgearbeitet zu einer Fassung für Schüler: Jagd auf Außenseiter findet Eingang in die Schullektüre. Dies ist vielleicht eines der gelungensten Beispiele für die Demokratisierung des Theaters.
Bünger, Torsten (1986): Annäherungen an die Wirklichkeit. Gattung und Autoren des neuen Volksstücks. Frankfurt a. Main.