Die menschliche Geworfenheit
Die Protagonisten müssen allerdings die Konsequenz verkraften, die dieses Weltbild mit sich bringt: Die Szenerie erinnert an die Heideggersche These von der Geworfenheit, also die unausweichliche Tatsache des Daseins, zu welcher der Mensch nicht seine Zustimmung hat geben können: Und dem Existentialismus zufolge findet sich der Mensch geworfen in eine Welt, die sich abseits der (wohlwollenden) Regie eines Gottes nach dem Zufallsprinzip atomisiert hat. Innerhalb dieses Gebildes versteht der Chemiker Schnakenbach den Menschen als ein beliebiges Arrangement „wie Sand in diese Form geweht, die wir unser Ich nennen“. So beschließt auch der Philosoph Michel Foucault seine Ordnung der Dinge (1966) mit der pessimistischen Prognose: Der Mensch werde wieder verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Das ist das negative Menschenbild der Nachkriegsära, ausgehend von der Geworfenheit in eine Welt, deren Lauf sich dem Zugriff ihrer Bewohner verweigert: Die Zeit verzehrt unaufhaltsam das Leben, und der in den Strom der Zeit Geworfene ist machtlos gegenüber ihrer ziellosen Eigengesetzlichkeit. Die Zeit ist allgegenwärtig als absolute Jetzt-Erfahrung, und sie ist zugleich nicht greifbar, da sie bereits vergangen ist, ehe sie ist. In Anbetracht der Zeit als einer immerzu seienden Zwischenzeit ist das Subjekt machtlos, so wie gegenüber der Eigendynamik der Geschichte und seinem Untergang in ihrem Sog. Geworfen ist er in eine willkürliche Welt und damit Gesellschaft, die keinen Zusammenhang und -halt kennt:
Das Schicksal der Vereinzelung erfasst die Protagonisten: Philipp ist der Versager, der den Erwartungen der Anderen nicht gerecht wird, Emilia ist durch den sozialen Abstieg zur Außenseiterin geworden, Schnakenbach hat sich durch den Drogenmissbrauch so lädiert, dass er nicht mehr geregelt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, und Carla hat sich in den Dienst der Besatzungsmächte gestellt. Die soziale Isolation ist eine Vereinzelung in der Herde. Sie sind geworfen in diese Welt, die keinen Halt und Orientierung gibt, in eine politisch und gesellschaftlich nicht gefestigte Zeit, in der das sie alles Verbindende die allgemeine Orientierungslosigkeit ist. Der Schwarzmarkt blüht, die Arbeitslosigkeit wächst – der Aufbau steckt noch in den Kinderschuhen und alte Werturteile bestehen weiter. So äußert Carlas Sohn irritiert: „Meine Mutter [...] lebt mit einem Neger“. Koeppens Existentialismus fehlt der humanistische Optimismus: Das Narrativ mündet in einen perspektivlosen Schluss. Die Prügelei im Club fordert zahlreiche Todesopfer – direkt, oder indirekt: Josef ist tot und Mr. Edwin aller Wahrscheinlichkeit auch. Und die Überlebenden leben irgendwie weiter und vor sich hin. Glück scheint der Nachkriegsgeneration nicht beschieden. Mit der verlogenen Kulisse des Aufbaus kontrastiert das individuelle Scheitern.
Mit diesem Kontrast lässt sich die Grundarchitektur der Tauben im Gras beschreiben: Der Roman verdankt seine Besonderheit auch und vor allem der Verschränkung von gesellschaftspolitischer Gegenwartsdiagnose und subjektivem Existentialismus. Die allgemeine politische Lage wird in ihrer Bedrohlichkeit mit der Verlorenheitserfahrung des Individuums verknüpft. So ist Koeppens erster Teil der Trilogie einerseits ein wichtiger bundesdeutscher Nachkriegsroman, der es gleichermaßen versteht, seine Gesellschaftsproblematik um die subjektivistische Dimension des französischen Existentialismus zu erweitern – und darin so interessant für die '68er-Revolte, die sich gleichermaßen im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Veränderung (vor dem historischen Hintergrund des Holocausts und im Zusammenhang der Nachkriegsmentalität) und individueller Entwicklung bewegt.
Sekundärliteratur:
Becker, Sabine (2006): Wolfgang Koeppen und die deutsche Nachkriegsliteratur. In: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre: Bd. 2, Wolfgang Koeppen, hrsg. v. Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner und Roland Ulrich. München.
Klein, Jürgen (20142): Moderne und Intertextualität. Wolfgang Koeppens Tauben im Gras. In: Eckhard Schumacher und Katharina Krüger (Hg.): Wolfgang Koeppen. Text+Kritik 34.
Oehlenschläger, Eckart (Hg.) (1987): Wolfgang Koeppen. Suhrkamp, Frankfurt a. Main.
Spodzieja, Ryszard (2011): Wolfgang Koeppen. Ein Vertreter der literarischen Moderne. Dresden.
Weitere Kapitel:
Die Protagonisten müssen allerdings die Konsequenz verkraften, die dieses Weltbild mit sich bringt: Die Szenerie erinnert an die Heideggersche These von der Geworfenheit, also die unausweichliche Tatsache des Daseins, zu welcher der Mensch nicht seine Zustimmung hat geben können: Und dem Existentialismus zufolge findet sich der Mensch geworfen in eine Welt, die sich abseits der (wohlwollenden) Regie eines Gottes nach dem Zufallsprinzip atomisiert hat. Innerhalb dieses Gebildes versteht der Chemiker Schnakenbach den Menschen als ein beliebiges Arrangement „wie Sand in diese Form geweht, die wir unser Ich nennen“. So beschließt auch der Philosoph Michel Foucault seine Ordnung der Dinge (1966) mit der pessimistischen Prognose: Der Mensch werde wieder verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Das ist das negative Menschenbild der Nachkriegsära, ausgehend von der Geworfenheit in eine Welt, deren Lauf sich dem Zugriff ihrer Bewohner verweigert: Die Zeit verzehrt unaufhaltsam das Leben, und der in den Strom der Zeit Geworfene ist machtlos gegenüber ihrer ziellosen Eigengesetzlichkeit. Die Zeit ist allgegenwärtig als absolute Jetzt-Erfahrung, und sie ist zugleich nicht greifbar, da sie bereits vergangen ist, ehe sie ist. In Anbetracht der Zeit als einer immerzu seienden Zwischenzeit ist das Subjekt machtlos, so wie gegenüber der Eigendynamik der Geschichte und seinem Untergang in ihrem Sog. Geworfen ist er in eine willkürliche Welt und damit Gesellschaft, die keinen Zusammenhang und -halt kennt:
Das Schicksal der Vereinzelung erfasst die Protagonisten: Philipp ist der Versager, der den Erwartungen der Anderen nicht gerecht wird, Emilia ist durch den sozialen Abstieg zur Außenseiterin geworden, Schnakenbach hat sich durch den Drogenmissbrauch so lädiert, dass er nicht mehr geregelt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, und Carla hat sich in den Dienst der Besatzungsmächte gestellt. Die soziale Isolation ist eine Vereinzelung in der Herde. Sie sind geworfen in diese Welt, die keinen Halt und Orientierung gibt, in eine politisch und gesellschaftlich nicht gefestigte Zeit, in der das sie alles Verbindende die allgemeine Orientierungslosigkeit ist. Der Schwarzmarkt blüht, die Arbeitslosigkeit wächst – der Aufbau steckt noch in den Kinderschuhen und alte Werturteile bestehen weiter. So äußert Carlas Sohn irritiert: „Meine Mutter [...] lebt mit einem Neger“. Koeppens Existentialismus fehlt der humanistische Optimismus: Das Narrativ mündet in einen perspektivlosen Schluss. Die Prügelei im Club fordert zahlreiche Todesopfer – direkt, oder indirekt: Josef ist tot und Mr. Edwin aller Wahrscheinlichkeit auch. Und die Überlebenden leben irgendwie weiter und vor sich hin. Glück scheint der Nachkriegsgeneration nicht beschieden. Mit der verlogenen Kulisse des Aufbaus kontrastiert das individuelle Scheitern.
Mit diesem Kontrast lässt sich die Grundarchitektur der Tauben im Gras beschreiben: Der Roman verdankt seine Besonderheit auch und vor allem der Verschränkung von gesellschaftspolitischer Gegenwartsdiagnose und subjektivem Existentialismus. Die allgemeine politische Lage wird in ihrer Bedrohlichkeit mit der Verlorenheitserfahrung des Individuums verknüpft. So ist Koeppens erster Teil der Trilogie einerseits ein wichtiger bundesdeutscher Nachkriegsroman, der es gleichermaßen versteht, seine Gesellschaftsproblematik um die subjektivistische Dimension des französischen Existentialismus zu erweitern – und darin so interessant für die '68er-Revolte, die sich gleichermaßen im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Veränderung (vor dem historischen Hintergrund des Holocausts und im Zusammenhang der Nachkriegsmentalität) und individueller Entwicklung bewegt.
Becker, Sabine (2006): Wolfgang Koeppen und die deutsche Nachkriegsliteratur. In: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre: Bd. 2, Wolfgang Koeppen, hrsg. v. Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner und Roland Ulrich. München.
Klein, Jürgen (20142): Moderne und Intertextualität. Wolfgang Koeppens Tauben im Gras. In: Eckhard Schumacher und Katharina Krüger (Hg.): Wolfgang Koeppen. Text+Kritik 34.
Oehlenschläger, Eckart (Hg.) (1987): Wolfgang Koeppen. Suhrkamp, Frankfurt a. Main.
Spodzieja, Ryszard (2011): Wolfgang Koeppen. Ein Vertreter der literarischen Moderne. Dresden.