Carry Brachvogel und ihr Roman „Alltagsmenschen“
1895 erscheint im Fischer Verlag, der sich seit seiner Gründung 1887 in Berlin als führendes Verlagshaus des Naturalismus einen Namen gemacht hat, der Roman Alltagsmenschen der 31-jährigen Münchnerin Carry Brachvogel. Ihr Debütroman macht sie als Schriftstellerin damals deutschlandweit bekannt. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird sie eine in ganz Deutschland bekannte Schriftstellerin und Feuilletonistin sein, die am Ende ihres Lebens um die 40 Werke verfasst hat.
1892 trifft die aus einem jüdischen Elternhaus des Großbürgertums stammende 28-jährige Carry Brachvogel, die 1889 den Schriftsteller und Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten Wolfgang Brachvogel geheiratet hat, ein großer Schicksalsschlag:
Ihr Mann ertrinkt im Tegernsee. Von einem Tag auf den anderen steht sie als alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern da. Statt sich in eine neue Versorgungsehe zu begeben, wie es damals im Bürgertum üblich gewesen wäre, entschließt sie sich dazu, ihren Jugendtraum wahrzumachen und als Schriftstellerin zu arbeiten.
Im März 1894 zieht sie von der Briennerstr. 54 mit ihren Kindern an das Siegestor zu ihrer Mutter in die Ludwigstr. 17b. Hier beginnt eine große Karriere. Bereits 1894 erlebt sie ihr Debüt als Autorin, denn am 7. Mai wird ihr heute verschollenes Schauspiel Vergangenheit in Frankfurt uraufgeführt. Nach dem Tod ihres Mannes steht ihr als Berater und Förderer Ernst Freiherr von Wolzogen zur Seite, der damals im Münchner Literaturbetrieb eine einflussreiche Stellung einnimmt. Am Siegestor eröffnet Carry Brachvogel um 1894/95 auch einen literarischen Salon, der bald ein bedeutender Treffpunkt literarischen Lebens wird. Wolzogen hat sie rückblickend in seinen Lebenserinnerungen als eine überaus charismatische Persönlichkeit charakterisiert: „Die Dame des Hauses, als feingebildete Jüdin, voll gepfefferter Bosheit und schlagfertigem Geiste war der starke Magnet, der sowohl Einheimische als zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor lockte.“ Auch spätere Berühmtheiten wie Rilke sind Gast bei ihr. Carry Brachvogels Salon wird bald zu einer Münchner Institution, über den noch 1923 in Zeitungen berichtet wird. Salons und Tees gibt es im München der Jahrhundertwende in vielen weiteren Häusern. Im literarischen Leben nehmen sie damals einen hohen Stellenwert ein:
Denn in diesen Damentees, bei denen auch immer ein paar literarische Snobs erschienen und das große Wort führten, ist ohne Zweifel ein gut Teil öffentlicher Meinung in literarischen Fragen gemacht worden. Wer also bei dieser Literaturbörse nicht mittat, lief Gefahr, daß er ins Hintertreffen geriet und Einbuße an seinem Kredit erlitt. (Halbe, S. 163f.)
Als Alltagsmenschen 1895 erscheint, lebt Carry Brachvogel völlig anders als die in ihrem Roman präsentierte bürgerliche Protagonistin Elisabeth. Mit der Existenz als selbstständige, arbeitende Witwe widerspricht Brachvogel dem damals gängigen Ideal der Frau im Bürgertum des Kaiserreiches. Und so verwundert es dann auch nicht, dass sie in Alltagsmenschen satirisch Leben, Rollenvorstellungen und Geschlechterbeziehungen im Münchner Großbürgertum vor der Jahrhundertwende darstellt.
In ihrem Roman richtet sie den Blick auf das Leben einer jungen Frau, aber auch auf das Verhalten der Männer und der „guten Gesellschaft“. Anhand ihrer Protagonistin Elisabeth führt sie exemplarisch die gravierenden Folgen der herkömmlichen bürgerlichen Erziehung der Mädchen für die Charakterbildung und ihr weiteres Leben vor Augen. Sie zeigt, wie dadurch Frauen wie Elisabeth „produziert“ werden, weltfremde Menschen, die keinen wirklichen Zugang zum Leben haben, und als Folge von Langeweile phantastische Vorstellungen entwickeln, gekoppelt mit dem Bedürfnis etwas Außergewöhnliches zu erleben. Unter den gegebenen Umständen ist das bei Elisabeth ein Ehebruch und die gesellschaftliche Anerkennung und Aufmerksamkeit, die ihr durch ihre Affäre zuteil wird. Mit der satirischen Darstellung von Elisabeths Kindheit, Jugend und späterem Dasein als Ehefrau übt Carry Brachvogel Kritik an der Rolle, die der Frau in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft zugewiesen wird. Damit liegt sie 1895 auf einer Linie mit der modernen bürgerlichen Frauenbewegung, die zu diesem Zeitpunkt in ihrem unmittelbarem Umfeld in München Fuß fasst und sich für das Recht der Frauen auf Bildung und Beruf einsetzt.
Weitere Kapitel:
1895 erscheint im Fischer Verlag, der sich seit seiner Gründung 1887 in Berlin als führendes Verlagshaus des Naturalismus einen Namen gemacht hat, der Roman Alltagsmenschen der 31-jährigen Münchnerin Carry Brachvogel. Ihr Debütroman macht sie als Schriftstellerin damals deutschlandweit bekannt. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird sie eine in ganz Deutschland bekannte Schriftstellerin und Feuilletonistin sein, die am Ende ihres Lebens um die 40 Werke verfasst hat.
1892 trifft die aus einem jüdischen Elternhaus des Großbürgertums stammende 28-jährige Carry Brachvogel, die 1889 den Schriftsteller und Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten Wolfgang Brachvogel geheiratet hat, ein großer Schicksalsschlag:
Ihr Mann ertrinkt im Tegernsee. Von einem Tag auf den anderen steht sie als alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern da. Statt sich in eine neue Versorgungsehe zu begeben, wie es damals im Bürgertum üblich gewesen wäre, entschließt sie sich dazu, ihren Jugendtraum wahrzumachen und als Schriftstellerin zu arbeiten.
Im März 1894 zieht sie von der Briennerstr. 54 mit ihren Kindern an das Siegestor zu ihrer Mutter in die Ludwigstr. 17b. Hier beginnt eine große Karriere. Bereits 1894 erlebt sie ihr Debüt als Autorin, denn am 7. Mai wird ihr heute verschollenes Schauspiel Vergangenheit in Frankfurt uraufgeführt. Nach dem Tod ihres Mannes steht ihr als Berater und Förderer Ernst Freiherr von Wolzogen zur Seite, der damals im Münchner Literaturbetrieb eine einflussreiche Stellung einnimmt. Am Siegestor eröffnet Carry Brachvogel um 1894/95 auch einen literarischen Salon, der bald ein bedeutender Treffpunkt literarischen Lebens wird. Wolzogen hat sie rückblickend in seinen Lebenserinnerungen als eine überaus charismatische Persönlichkeit charakterisiert: „Die Dame des Hauses, als feingebildete Jüdin, voll gepfefferter Bosheit und schlagfertigem Geiste war der starke Magnet, der sowohl Einheimische als zugereiste Gäste an den Teetisch am Siegestor lockte.“ Auch spätere Berühmtheiten wie Rilke sind Gast bei ihr. Carry Brachvogels Salon wird bald zu einer Münchner Institution, über den noch 1923 in Zeitungen berichtet wird. Salons und Tees gibt es im München der Jahrhundertwende in vielen weiteren Häusern. Im literarischen Leben nehmen sie damals einen hohen Stellenwert ein:
Denn in diesen Damentees, bei denen auch immer ein paar literarische Snobs erschienen und das große Wort führten, ist ohne Zweifel ein gut Teil öffentlicher Meinung in literarischen Fragen gemacht worden. Wer also bei dieser Literaturbörse nicht mittat, lief Gefahr, daß er ins Hintertreffen geriet und Einbuße an seinem Kredit erlitt. (Halbe, S. 163f.)
Als Alltagsmenschen 1895 erscheint, lebt Carry Brachvogel völlig anders als die in ihrem Roman präsentierte bürgerliche Protagonistin Elisabeth. Mit der Existenz als selbstständige, arbeitende Witwe widerspricht Brachvogel dem damals gängigen Ideal der Frau im Bürgertum des Kaiserreiches. Und so verwundert es dann auch nicht, dass sie in Alltagsmenschen satirisch Leben, Rollenvorstellungen und Geschlechterbeziehungen im Münchner Großbürgertum vor der Jahrhundertwende darstellt.
In ihrem Roman richtet sie den Blick auf das Leben einer jungen Frau, aber auch auf das Verhalten der Männer und der „guten Gesellschaft“. Anhand ihrer Protagonistin Elisabeth führt sie exemplarisch die gravierenden Folgen der herkömmlichen bürgerlichen Erziehung der Mädchen für die Charakterbildung und ihr weiteres Leben vor Augen. Sie zeigt, wie dadurch Frauen wie Elisabeth „produziert“ werden, weltfremde Menschen, die keinen wirklichen Zugang zum Leben haben, und als Folge von Langeweile phantastische Vorstellungen entwickeln, gekoppelt mit dem Bedürfnis etwas Außergewöhnliches zu erleben. Unter den gegebenen Umständen ist das bei Elisabeth ein Ehebruch und die gesellschaftliche Anerkennung und Aufmerksamkeit, die ihr durch ihre Affäre zuteil wird. Mit der satirischen Darstellung von Elisabeths Kindheit, Jugend und späterem Dasein als Ehefrau übt Carry Brachvogel Kritik an der Rolle, die der Frau in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft zugewiesen wird. Damit liegt sie 1895 auf einer Linie mit der modernen bürgerlichen Frauenbewegung, die zu diesem Zeitpunkt in ihrem unmittelbarem Umfeld in München Fuß fasst und sich für das Recht der Frauen auf Bildung und Beruf einsetzt.