Nahum Goldmann in Murnau
In einem kleinen Häuschen am Staffelsee entwickelt der jüdische Philosoph und Publizist Nahum Goldmann zwischen 1922 und 1924 zusammen mit Jakob Klatzkin die Idee für eine Encyclopaedia Judaica (1928-1934). Am Staffelsee bekommen sie außerdem Besuch von dem in Starnberg lebenden Schriftsteller Arnold Zweig. Eine besondere Episode aus dieser Zeit erzählt Goldmann Jahre später in New York dem Schriftsteller Stefan Zweig, der darüber beinahe einen Novellenband verfasst:
Murnau ist ein kleines bayrisches Städtchen, wenige Minuten von Garmisch-Partenkirchen und etwa eine Stunde von München entfernt, das damals schon längst eines der lebendigsten Kunst- und Literaturzentren war, berühmt durch seine Künstlerkolonie in Schwabing, seinen Fasching, sein Theater und seine sorglos verspielte Atmosphäre. Am reizvollen Staffelsee abseits genug gelegen, um einem die Konzentration auf sich selbst zu erlauben, befand es sich doch nahe genug an der bayrischen Hauptstadt, um gutes Theater und schöne Musik erreichbar zu machen, wenn einen danach gelüstete. Reich wie ich durch die amerikanischen Dollarschecks war, konnte ich für mich allein wohnen und hatte doch Anschluss an eine bayrische Familie, der das Haus gehörte und die mir die Wirtschaft besorgte. So lebte ich wie Gott in Bayern! Auch an Gesellschaft fehlte es nicht. Klatzkin war nahebei; eine halbe Stunde entfernt, in Starnberg, wohnten mein Freund Arnold Zweig und seine Frau; außerdem besuchten mich häufig Bekannte und Freunde, denen ich in meinem Haus leicht Unterkunft und Gastfreundschaft gewähren konnte. Ich war damals noch unverheiratet, hatte keine materiellen Sorgen und war für viele Frauen und junge Mädchen sehr attraktiv. Von meinen vielen Erlebnissen erwähne ich eines, das mir psychologisch interessant erscheint. Ich hatte in Bonn eine junge Studentin kennengelernt, die Schwägerin eines damals sehr bekannten deutschen Malers, und wir verliebten uns. Sie muss in ihrer Kindheit ein traumatisches erotisches Erlebnis gehabt haben, von dem sie nie sprach und das sich dann äußerte, dass sie, wann immer sie einem Mann die Hand gegeben hatte, sofort ins Badezimmer lief, um sich die Hände zu waschen, und sich manchmal sogar übergab. Ich bin überzeugt, dass sie in einem Irrenhaus geendet hätte, wenn sie bei ihrem ersten Liebeserlebnis einem rücksichtslosen Mann in die Hände gefallen wäre. Wir machten einst eine Schlittenfahrt in die Eifel. Der Schlitten kippte plötzlich um und ich lag mitten im Schnee auf ihr unter dem Schlitten. Ich rief dem Kutscher zu, er solle uns ruhig liegen lassen. Nach langen Überredungsversuchen stimmte sie endlich zu, in den Sommerferien zu mir nach Murnau zu kommen, allerdings unter der Bedingung, dass sie ein Zimmer für sich alleine habe und dass sie sich darin verriegeln dürfe, ohne dass ich einen zweiten Schlüssel besitze. Ich stimmte allem zu. Sie schlief zwei, drei Wochen allein in ihrem verschlossenen Zimmer, dann öffnete sie die Tür, dann schlief sie zwei Wochen mit mir in einem Bett, ohne dass ich sie berührte, bis sie schließlich selbst das Verlangen hatte, dass unsere Liebesbeziehung sich erfüllte. Ich habe sie auch später noch öfters wiedergesehen, ohne unser erotisches Verhältnis fortzusetzen. Ich bin – das habe ich Frauen oft gesagt - an Zweitauflagen nur bei Büchern, nicht in der Liebe, interessiert.
Jahre später, in New York, habe ich diese Episode, zusammen mit anderen Liebeserlebnissen aus meinem Leben, Stefan Zweig erzählt. Er machte sich, während ich sprach, Notizen, und wollte – ohne natürlich meinen Namen zu nennen – einen Novellenband darüber verfassen. Das Buch wurde nie geschrieben, weil er nach Brasilien auswanderte und dort, zum Teil in der Überzeugung, dass Hitler den Krieg gewinnen würde, mit seiner zweiten Frau Selbstmord beging. (Zit. aus: Nahum Goldmann: Mein Leben als deutscher Jude. München 1980, S. 140-154.)
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 122f., S. 250f.
Weitere Kapitel:
In einem kleinen Häuschen am Staffelsee entwickelt der jüdische Philosoph und Publizist Nahum Goldmann zwischen 1922 und 1924 zusammen mit Jakob Klatzkin die Idee für eine Encyclopaedia Judaica (1928-1934). Am Staffelsee bekommen sie außerdem Besuch von dem in Starnberg lebenden Schriftsteller Arnold Zweig. Eine besondere Episode aus dieser Zeit erzählt Goldmann Jahre später in New York dem Schriftsteller Stefan Zweig, der darüber beinahe einen Novellenband verfasst:
Murnau ist ein kleines bayrisches Städtchen, wenige Minuten von Garmisch-Partenkirchen und etwa eine Stunde von München entfernt, das damals schon längst eines der lebendigsten Kunst- und Literaturzentren war, berühmt durch seine Künstlerkolonie in Schwabing, seinen Fasching, sein Theater und seine sorglos verspielte Atmosphäre. Am reizvollen Staffelsee abseits genug gelegen, um einem die Konzentration auf sich selbst zu erlauben, befand es sich doch nahe genug an der bayrischen Hauptstadt, um gutes Theater und schöne Musik erreichbar zu machen, wenn einen danach gelüstete. Reich wie ich durch die amerikanischen Dollarschecks war, konnte ich für mich allein wohnen und hatte doch Anschluss an eine bayrische Familie, der das Haus gehörte und die mir die Wirtschaft besorgte. So lebte ich wie Gott in Bayern! Auch an Gesellschaft fehlte es nicht. Klatzkin war nahebei; eine halbe Stunde entfernt, in Starnberg, wohnten mein Freund Arnold Zweig und seine Frau; außerdem besuchten mich häufig Bekannte und Freunde, denen ich in meinem Haus leicht Unterkunft und Gastfreundschaft gewähren konnte. Ich war damals noch unverheiratet, hatte keine materiellen Sorgen und war für viele Frauen und junge Mädchen sehr attraktiv. Von meinen vielen Erlebnissen erwähne ich eines, das mir psychologisch interessant erscheint. Ich hatte in Bonn eine junge Studentin kennengelernt, die Schwägerin eines damals sehr bekannten deutschen Malers, und wir verliebten uns. Sie muss in ihrer Kindheit ein traumatisches erotisches Erlebnis gehabt haben, von dem sie nie sprach und das sich dann äußerte, dass sie, wann immer sie einem Mann die Hand gegeben hatte, sofort ins Badezimmer lief, um sich die Hände zu waschen, und sich manchmal sogar übergab. Ich bin überzeugt, dass sie in einem Irrenhaus geendet hätte, wenn sie bei ihrem ersten Liebeserlebnis einem rücksichtslosen Mann in die Hände gefallen wäre. Wir machten einst eine Schlittenfahrt in die Eifel. Der Schlitten kippte plötzlich um und ich lag mitten im Schnee auf ihr unter dem Schlitten. Ich rief dem Kutscher zu, er solle uns ruhig liegen lassen. Nach langen Überredungsversuchen stimmte sie endlich zu, in den Sommerferien zu mir nach Murnau zu kommen, allerdings unter der Bedingung, dass sie ein Zimmer für sich alleine habe und dass sie sich darin verriegeln dürfe, ohne dass ich einen zweiten Schlüssel besitze. Ich stimmte allem zu. Sie schlief zwei, drei Wochen allein in ihrem verschlossenen Zimmer, dann öffnete sie die Tür, dann schlief sie zwei Wochen mit mir in einem Bett, ohne dass ich sie berührte, bis sie schließlich selbst das Verlangen hatte, dass unsere Liebesbeziehung sich erfüllte. Ich habe sie auch später noch öfters wiedergesehen, ohne unser erotisches Verhältnis fortzusetzen. Ich bin – das habe ich Frauen oft gesagt - an Zweitauflagen nur bei Büchern, nicht in der Liebe, interessiert.
Jahre später, in New York, habe ich diese Episode, zusammen mit anderen Liebeserlebnissen aus meinem Leben, Stefan Zweig erzählt. Er machte sich, während ich sprach, Notizen, und wollte – ohne natürlich meinen Namen zu nennen – einen Novellenband darüber verfassen. Das Buch wurde nie geschrieben, weil er nach Brasilien auswanderte und dort, zum Teil in der Überzeugung, dass Hitler den Krieg gewinnen würde, mit seiner zweiten Frau Selbstmord beging. (Zit. aus: Nahum Goldmann: Mein Leben als deutscher Jude. München 1980, S. 140-154.)
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 122f., S. 250f.