Helen Hessel in Hohenschäftlarn

Der Berliner Schriftsteller Franz Hessel mietet im August 1920 für sich, seine Frau Helen und die beiden Söhne den Sommer über ein Haus in Hohenschäftlarn. Am 20. August bekommen sie Besuch von ihrem gemeinsamen Freund Henri-Pierre Roché, der ein paar Tage auf dem Land verbringen will. Zwischen Henri-Pierre und dem Ehepaar Hessel entspinnt sich eine komplizierte Liebesbeziehung, die seinerzeit im Dorf Hohenschäftlarn für großes Aufsehen sorgt und die später noch mit François Truffauts Jules et Jim (1962) in die Filmgeschichte eingeht:

Garten. Matratze. Pierre leiht mir seinen Federhalter. Ich mag seine Sachen gern. Ernsthafte Arbeit. Das Wort Schwangerschaft ekelt mich. Diskussion. Freud. Pierre macht Fotos von ganz nah. Ich bin weder verwirrt noch verliebt. Als das Manuskript fertig ist, große Spiele auf dem Rasen. Tennisschläger. Der Bogen. Ich bin ungeschickt. Pierre macht Tanzschritte. Mir ist zu heiß. Heimlich übe ich Bogenschießen. Pierre ist ehrgeizig. Ich auch. [...] Pierres Faust auf dem Tisch. Ich lege meine Hand darauf. Stille. Helen: Ihre Faust ist wie ein Krummstab, auf den man sich stützen kann. Pierre und Helen auf der Matratze. In den Armen von Pierre. Wie Blut, das fließt. Erleichterung. Heiterkeit. Keine Sentimentalität. Das höchste Spiel. Ich helfe ihm schlecht. Ich frage mich, ob er ein Programm hat. Von dem Moment an, wo der Gott mich verläßt, habe ich das Gefühl, daß wir zu dritt sind. Daß Pierre durch sein Geschlecht ersetzt wird, – er geht weg und läßt mich allein mit diesem Monster. Vielleicht werde ich aufhören, den lieben Gott, die ganze Welt, die Gefahr und den Tod zu umarmen – das Unbekannte. Aber wenn ich es lernen würde, ihn auf seine Art gut zu behandeln, was soll ich mit meiner überschüssigen Kraft machen? (Zit. aus: Helen Hessel: Journal d'Helen. Lettres à Henri-Pierre Roché. Marseille 1991, dt. Übers. von Ulrike Voswinckel.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 121, S. 251f.