Das positive Leitbild: Der Seelsorger Sailer'scher Prägung
Bei all diesen Tiraden und Polemiken mag man den Eindruck gewinnen, Thoma wäre ein radikaler Kirchenfeind und Christentumsgegner gewesen. Das ist in dieser Pauschalität gewiss nicht der Fall. Höchste Sympathie hegt er etwa für jenen Typus von Seelsorger, der sich durch Mitmenschlichkeit und Humor auszeichnet, die Sorgen der Menschen kennt und sich ihnen, jenseits aller politischen Gegensätze zuwendet. Viele solcher Geistlicher hat Thoma im Laufe seines Lebens kennen- und schätzen gelernt und manchem von ihnen eine literarische Erinnerung gewidmet. So zum Beispiel jenem namentlich unbekannten Religionslehrer, der den jungen Thoma von seinen Suizidgedanken abbringt („Damals habe ich mich ein paar Tage lang mit Selbstmordabsichten getragen, und ich glaube, daß ich nahe genug daran war, die Torheit zu begehen.“[1]), als er wegen eines Liebesbriefes an eine Schulfreundin das Münchner Wilhelmsgymnasium verlassen muss. Vor allem aber wird er geprägt vom Geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger (1799-1883). Daisenberger war von 1845 bis 1869 Pfarrer von Oberammergau, Verfasser des damaligen Passionstextes, Leiter der Festspiele von 1850 bis 1880 und Übersetzer der Antigone. Er hat Thoma am 21. Januar 1867 getauft und ihn später noch väterlich begleitet. Thoma schreibt über ihn in seinen 1917 verfassten Erinnerungen:
Daisenberger war das Urbild eines gütigen Priesters, über dessen Lippen nie ein hartes Wort kam, und der mit einem stillen Lächeln es ruhig dem Leben überließ, stürmische Meinungen zu glätten. Er kümmerte sich nicht um die Ansichten, sondern um das Schicksal eines jeden, er war Freund und Vater in jedem Hause, immer bereit zu helfen. [...] Er hatte stets ein gutes Wort für mich, den er getauft hat; ein Umstand, der meiner Mutter zur Hoffnung und Beruhigung diente, wenn es bei mir im Aufwachsen nicht immer schnurgerade nach oben ging.[2]
Der Regensburger Germanist Bernhard Gajek hat darauf hingewiesen, dass alle positiv gezeichneten Priesterfiguren in Thomas Werk eine eklatante Ähnlichkeit mit Daisenberger aufweisen[3]. Es kommt nicht von ungefähr, dass Daisenberger Schüler von Johann Michael Sailer (1751-1832), dem Landshuter Theologen und späteren Bischof von Regensburg war, aus dessen Schule überwiegend menschenfreundliche, aufgeschlossene „Geistlich-Geistliche“ hervorgingen, die sich nicht vor Ideologie- oder Parteiinteressen spannen ließen. Die pastorale Hinwendung zu jedem Menschen, gleich welcher Gesinnung und Herkunft, gilt heute noch als Erkennungszeichen der Anhängerschaft des bayerischen Kirchenvaters Johann Michael Sailer, einem „Schülerkreis gleichgestimmter Seelen, die zeitlebens mit ihm verbunden waren und ihm die Kraft und Glut ihrer Herzensfrömmigkeit und ihr lebendiges Christentum verdankten“[4].
Diese Eigenschaften mag auch der Pfarrer von Grassau besessen haben, der mit Vater Max Thoma befreundet war und den Ludwig Thoma folgendermaßen skizziert:
Damals in den fünfziger und sechziger Jahren, freute man sich an den Pfarrern, die fröhliche Junggesellen waren, jeden Spaß in Ehren gelten ließen und sich beim Scheibenschießen und Jagen offenbar tüchtig zeigten. In allen Darstellungen spielte der Hochwürdige niemals, etwa so wie der Landrichter, Assessor oder Lehrer eine komische Figur [...]. Als er (der Pfarrer von Grassau, d.Verf.) schon hochbetagt war, hetzte ein junger Kooperator die Bauern gegen ihn auf, indem er seinen Eifer oder gar seine Rechtgläubigkeit in Zweifel zog, und es fanden sich wirklich Leute, die dem gütigen Manne bei Katzenmusik die Fenster einwarfen zum Danke für die vielen Wohltaten, die er den Armen erwiesen hatte.[5]
Auch der alte Pfarrer von Allershausen, wo eine Schwester Thomas und seine alte Haushälterin Viktor leben, findet Thomas Sympathie:
Er war noch aus der alten Schule, die keine Zeloten und Politiker erzog; er stand nicht außerhalb der Welt, in der er wirkte, sondern mit tüchtigem Verstand mittendrin. Er kannte die Bauern und verstand seine Aufgabe, in ihnen den ererbten Sinn für tätiges Leben und ehrbare Sitte wachzuhalten. Wie sie mochte er kein übertriebenes Wesen leiden, er war fröhlich mit ihnen, ohne seinem Stande etwas zu vergeben, er hatte volles Verständnis für ihre Vorzüge und Fehler und zeigte sich nie empört über natürliches Geschehen. In ernsten Dingen bewahrte er Ruhe und kleine Schmerzen heilte er am liebsten mit einem Scherzworte.[6]
Der Schriftsteller Thoma verarbeitet die Begegnungen mit diesen Seelsorgern nicht nur in Briefen und Erinnerungen, sondern auch in seinem belletristischen Werk. So etwa in seinem Roman Der Ruepp, wo der alte Pfarrer Holderied überraschend viel Verständnis für den jungen Studiosus Michel aufbringt, der so ganz und gar nicht zum Pfarrerberuf zu taugen scheint, aber vom ehrgeizigen und bigotten Vater dazu gezwungen werden soll. Ganz unverkennbar zeigt sich hier die historische Nähe zum alten Oberammergauer Pfarrer Daisenberger, der der Romanfigur in einer ersten Fassung sogar seinen Namen leihen soll. Demselben Priestertyp begegnen wir wieder im Pfarrer von Ainhofen, der im Heiligen Hies dem grobschlächtigen Theologiestudenten Georg Fottner einen Studienwechsel nahe legt und im Pfarrer Maurus Held, der im Vöst dem schwankend gewordenen Theologiestudenten Sylvester Mang beisteht und damit einen scharfen Kontrast zum intrigierenden Pfarrer Georg Baustätter bietet. Das Motiv des abspringenden Theologiestudenten ist bei Thoma ein wiederkehrendes Thema. Ist es autobiographisch bedingt? Bernhard Gajek meint dazu: „Ein Beleg dafür, daß Ludwig Thoma selbst hätte Pfarrer werden sollen, fand sich noch nicht. Doch ist in den Erzählungen das Motiv vom abgesprungenen Theologen häufig und wichtig – im Vöst, in den Entwürfen und der Druckfassung des Ruepp und im Kaspar Lorinser; dieser sollte eine halb fiktionale, halb tatsächliche Jugendgeschichte werden.“[7]
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[1] Ludwig Thoma: Erinnerungen. In: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 130.
[2] Ebd., S. 66.
[3] Gajek, Bernhard (1988): Nachwort zum Andreas Vöst. Piper, München, S. 21f.
[4] Schiel, Hubert (1948f.): Johann Michael Sailer. Leben und Briefe. Regensburg, S. 46f.
[5] Ludwig Thoma: Erinnerungen, a.a.O., S. 70.
[6] Ebda., S. 187.
[7] Gajek, Bernhard (1988): Nachwort, a.a.O., S. 292.
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Bei all diesen Tiraden und Polemiken mag man den Eindruck gewinnen, Thoma wäre ein radikaler Kirchenfeind und Christentumsgegner gewesen. Das ist in dieser Pauschalität gewiss nicht der Fall. Höchste Sympathie hegt er etwa für jenen Typus von Seelsorger, der sich durch Mitmenschlichkeit und Humor auszeichnet, die Sorgen der Menschen kennt und sich ihnen, jenseits aller politischen Gegensätze zuwendet. Viele solcher Geistlicher hat Thoma im Laufe seines Lebens kennen- und schätzen gelernt und manchem von ihnen eine literarische Erinnerung gewidmet. So zum Beispiel jenem namentlich unbekannten Religionslehrer, der den jungen Thoma von seinen Suizidgedanken abbringt („Damals habe ich mich ein paar Tage lang mit Selbstmordabsichten getragen, und ich glaube, daß ich nahe genug daran war, die Torheit zu begehen.“[1]), als er wegen eines Liebesbriefes an eine Schulfreundin das Münchner Wilhelmsgymnasium verlassen muss. Vor allem aber wird er geprägt vom Geistlichen Rat Joseph Aloys Daisenberger (1799-1883). Daisenberger war von 1845 bis 1869 Pfarrer von Oberammergau, Verfasser des damaligen Passionstextes, Leiter der Festspiele von 1850 bis 1880 und Übersetzer der Antigone. Er hat Thoma am 21. Januar 1867 getauft und ihn später noch väterlich begleitet. Thoma schreibt über ihn in seinen 1917 verfassten Erinnerungen:
Daisenberger war das Urbild eines gütigen Priesters, über dessen Lippen nie ein hartes Wort kam, und der mit einem stillen Lächeln es ruhig dem Leben überließ, stürmische Meinungen zu glätten. Er kümmerte sich nicht um die Ansichten, sondern um das Schicksal eines jeden, er war Freund und Vater in jedem Hause, immer bereit zu helfen. [...] Er hatte stets ein gutes Wort für mich, den er getauft hat; ein Umstand, der meiner Mutter zur Hoffnung und Beruhigung diente, wenn es bei mir im Aufwachsen nicht immer schnurgerade nach oben ging.[2]
Der Regensburger Germanist Bernhard Gajek hat darauf hingewiesen, dass alle positiv gezeichneten Priesterfiguren in Thomas Werk eine eklatante Ähnlichkeit mit Daisenberger aufweisen[3]. Es kommt nicht von ungefähr, dass Daisenberger Schüler von Johann Michael Sailer (1751-1832), dem Landshuter Theologen und späteren Bischof von Regensburg war, aus dessen Schule überwiegend menschenfreundliche, aufgeschlossene „Geistlich-Geistliche“ hervorgingen, die sich nicht vor Ideologie- oder Parteiinteressen spannen ließen. Die pastorale Hinwendung zu jedem Menschen, gleich welcher Gesinnung und Herkunft, gilt heute noch als Erkennungszeichen der Anhängerschaft des bayerischen Kirchenvaters Johann Michael Sailer, einem „Schülerkreis gleichgestimmter Seelen, die zeitlebens mit ihm verbunden waren und ihm die Kraft und Glut ihrer Herzensfrömmigkeit und ihr lebendiges Christentum verdankten“[4].
Diese Eigenschaften mag auch der Pfarrer von Grassau besessen haben, der mit Vater Max Thoma befreundet war und den Ludwig Thoma folgendermaßen skizziert:
Damals in den fünfziger und sechziger Jahren, freute man sich an den Pfarrern, die fröhliche Junggesellen waren, jeden Spaß in Ehren gelten ließen und sich beim Scheibenschießen und Jagen offenbar tüchtig zeigten. In allen Darstellungen spielte der Hochwürdige niemals, etwa so wie der Landrichter, Assessor oder Lehrer eine komische Figur [...]. Als er (der Pfarrer von Grassau, d.Verf.) schon hochbetagt war, hetzte ein junger Kooperator die Bauern gegen ihn auf, indem er seinen Eifer oder gar seine Rechtgläubigkeit in Zweifel zog, und es fanden sich wirklich Leute, die dem gütigen Manne bei Katzenmusik die Fenster einwarfen zum Danke für die vielen Wohltaten, die er den Armen erwiesen hatte.[5]
Auch der alte Pfarrer von Allershausen, wo eine Schwester Thomas und seine alte Haushälterin Viktor leben, findet Thomas Sympathie:
Er war noch aus der alten Schule, die keine Zeloten und Politiker erzog; er stand nicht außerhalb der Welt, in der er wirkte, sondern mit tüchtigem Verstand mittendrin. Er kannte die Bauern und verstand seine Aufgabe, in ihnen den ererbten Sinn für tätiges Leben und ehrbare Sitte wachzuhalten. Wie sie mochte er kein übertriebenes Wesen leiden, er war fröhlich mit ihnen, ohne seinem Stande etwas zu vergeben, er hatte volles Verständnis für ihre Vorzüge und Fehler und zeigte sich nie empört über natürliches Geschehen. In ernsten Dingen bewahrte er Ruhe und kleine Schmerzen heilte er am liebsten mit einem Scherzworte.[6]
Der Schriftsteller Thoma verarbeitet die Begegnungen mit diesen Seelsorgern nicht nur in Briefen und Erinnerungen, sondern auch in seinem belletristischen Werk. So etwa in seinem Roman Der Ruepp, wo der alte Pfarrer Holderied überraschend viel Verständnis für den jungen Studiosus Michel aufbringt, der so ganz und gar nicht zum Pfarrerberuf zu taugen scheint, aber vom ehrgeizigen und bigotten Vater dazu gezwungen werden soll. Ganz unverkennbar zeigt sich hier die historische Nähe zum alten Oberammergauer Pfarrer Daisenberger, der der Romanfigur in einer ersten Fassung sogar seinen Namen leihen soll. Demselben Priestertyp begegnen wir wieder im Pfarrer von Ainhofen, der im Heiligen Hies dem grobschlächtigen Theologiestudenten Georg Fottner einen Studienwechsel nahe legt und im Pfarrer Maurus Held, der im Vöst dem schwankend gewordenen Theologiestudenten Sylvester Mang beisteht und damit einen scharfen Kontrast zum intrigierenden Pfarrer Georg Baustätter bietet. Das Motiv des abspringenden Theologiestudenten ist bei Thoma ein wiederkehrendes Thema. Ist es autobiographisch bedingt? Bernhard Gajek meint dazu: „Ein Beleg dafür, daß Ludwig Thoma selbst hätte Pfarrer werden sollen, fand sich noch nicht. Doch ist in den Erzählungen das Motiv vom abgesprungenen Theologen häufig und wichtig – im Vöst, in den Entwürfen und der Druckfassung des Ruepp und im Kaspar Lorinser; dieser sollte eine halb fiktionale, halb tatsächliche Jugendgeschichte werden.“[7]
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[1] Ludwig Thoma: Erinnerungen. In: Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 1, S. 130.
[2] Ebd., S. 66.
[3] Gajek, Bernhard (1988): Nachwort zum Andreas Vöst. Piper, München, S. 21f.
[4] Schiel, Hubert (1948f.): Johann Michael Sailer. Leben und Briefe. Regensburg, S. 46f.
[5] Ludwig Thoma: Erinnerungen, a.a.O., S. 70.
[6] Ebda., S. 187.
[7] Gajek, Bernhard (1988): Nachwort, a.a.O., S. 292.