Das Feindbild: Ultramontane Zentrumspfarrer und moralisierende Pastoren
Die Auseinandersetzung des erklärten Bismarck-Anhängers Ludwig Thoma mit der Kirche ist nicht zu verstehen, ohne einen Blick auf den Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts zu werfen, von dessen Nachwirkungen die deutsche Kirchen- und Geistesgeschichte bis hin zum Ersten Weltkrieg geprägt ist. Kulturkampf nennt man das Bündel von Maßnahmen, das der liberale Bismarck-Staat gegen die Katholiken aufbietet, die er – ähnlich den Sozialdemokraten – den zentrifugalen Kräften seines neuen Reiches zurechnet. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes befinden sich die meisten preußischen Bischöfe im Gefängnis oder im Exil, mit ihren Bistümern allenfalls durch Geheimdelegaten verbunden. 1878 amtieren in Preußen nur noch drei katholische Bischöfe. Die Bistümer Fulda, Osnabrück und Trier können jahrelang nicht besetzt werden. Aber dennoch wäre es zu kurz gegriffen, den Kulturkampf allein als einseitige Repression des protestantisch-liberalen Bismarck-Staates hinzustellen. Der Konflikt ist eher als Eskalation eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses zu verstehen, in dem Staat und Kirche mitunter mühsam ihre eigene Identität im modernen Gesellschaftswesen zu finden suchen. Schon der Krieg von 1866 war für die Katholiken ein schwer zu überwindender Schock gewesen, ihr Herz hatte überwiegend großdeutsch und pro-österreichisch geschlagen. Von protestantisch-liberaler Seite wird dieser Sieg denn auch als geschichtlicher Beweis der Überlegenheit des Protestantismus gefeiert.
Im katholischen Lager versteht man die Welt nicht mehr. Man will mit dem neuen, fremden Staatswesen unter preußischer Führung nichts zu tun haben. Lamentierend zieht man sich ein geistiges Getto zurück. Die Folgen zeigen sich zunächst in bildungspolitischer Hinsicht. Während die protestantischen Bevölkerungsteile weitgehend im Bürgertum verwurzelt sind und alle Formen der Bildung nutzen können, wird die Kluft zwischen den vielfach in ländlichen Regionen lebenden Katholiken und dem allgemeinen Bildungsstandard immer tiefer. Die Katholiken verlieren vor allem auf dem flachen Land den Zugang zu den höheren Bildungsanstalten, denn das Humboldt'sche Gymnasium ist eine ausschließlich städtische Angelegenheit. Der Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen der Zeit ist man in katholischen Kreisen – Ausnahmen bestätigen die Regel – kaum mehr gewachsen. Dafür schließt man sich umso enger zum politischen Katholizismus zusammen und entwickelt in der Zentrumspartei ein wichtiges politisches Sprachrohr. Der Pfarrer sieht sich plötzlich nicht mehr als der einfache Seelenhirte des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern als eine ultramontan agierende und politisch mobilisierende Kraft.[1]
Die Polemik Ludwig Thomas gegen diese politisierten, für die Zentrumspartei agitierenden Kleriker beginnt schon in der Frühzeit seines schriftstellerischen und journalistischen Wirkens und findet einen ersten Höhepunkt im Jahr 1904, als er in der Simplicissimus-Spezialnummer Das Zentrum unter dem Titel „Über die sittliche Erziehung. Eine Fastenpredigt. Von Abraham a Santa Clara II.“ eine offenkundige Analogie zwischen Zentrum und „vorreformatorischer Pfaffenherrschaft“ konstatiert[2]. Nachdem die Nummer von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wird, schreibt Thoma an seinen Freund und Anwalt Conrad Hausmann: „Ich schicke Ihnen die Nummer und urteilen Sie selbst, ob darin die 'Religion' angegriffen ist. Nach bayerischer momentan herrschender Meinung allerdings, weil hier Zentrum und Religion gleichbedeutend sind.“[3]
Je wichtiger der Typus des Bauern und seiner Familie für Thoma werden, desto häufiger stellt er ihre Bodenständigkeit und Schlichtheit jetzt in Gegensatz zur Weltfremdheit und Geschraubtheit mancher Kleriker: „Eine sterbende alte Bäuerin und an ihrem Totenbette den phrasenhaften Kooperator, ein Gegensatz, wie ich ihn lange bei mir herumtrug. Ein arbeitsreiches, braves Leben, und die Theologie, die der Arbeit und der Bravheit so fremd gegenübersteht, wie aller schönen Menschlichkeit.“[4]
Die zahlreichen Proteste und Anfeindungen, die solche Provokationen unweigerlich mit sich bringen, stacheln den Zorn Thomas erst recht an, und so machte er sich mit besonderem Eifer an die Fertigstellung eines seit 1902 gehegten Projektes, seines ersten Romans Andreas Vöst. 1905 ist das Werk abgeschlossen und lässt Thomas Konflikte mit kirchlichen Kreisen eskalieren. Ursprünglich sollte der Roman Der Pfarrer von Erlbach heißen, denn Georg Baustätter, „Pfarrer vom Erlbach und Kämmerer des Kapitels Berghofen“ spielt darin eine mindest ebenso wichtige Rolle, wie der Titelheld Andreas Vöst, der sich gegen einen ehrverletzenden Eintrag des Pfarrers ins Kirchenbuch seiner Pfarrei zur Wehr setzen will. Der Konflikt mit dem reaktionären Geistlichen, der sein Amt offensichtlich für demagogische und politische Zwecke missbraucht, treibt den Schullerbauern schließlich in die Katastrophe. Historischer Hintergrund des Stoffes ist die Entstehung des „Bayerischen Bauernbundes“ um die Jahrhundertwende, einer demokratischen und antiklerikalen Bewegung unter den Bauern. Und so sind der Figur des Schullerbauern Andreas Vöst zwei historische Vorbilder Pate gestanden: Peter Loder, Scharlbauer aus Puchschlagen, Pfarrei Kreuzholzhausen im Bezirk Dachau, der mit seinem Pfarrer einen vergleichbaren Konflikt austragen musste, und Georg Eisenberger, Hutzenauer aus Ruhpolding, Aktivist und späterer Vorsitzender der Bauernbund-Bewegung. Vösts Widersacher Georg Baustätter zeichnet Thoma als engstirnigen und gehässigen Vertreter der Zentrumspartei, der soweit geht, den früh verstorbenen Säugling des Schullerbauern nicht in geweihter Erde begraben zu lassen, weil er nicht getauft ist. „Ich weiß nicht“, so lässt Thoma seine Überzeugung in den Roman einfließen, „ob der liebe Gott den unchristlichen Zustand eines Kindleins so hart beurteilt wie seine Geistlichen, aber das eine ist gewiss, dass es nicht in geweihter Erde ruhen darf, worin nur Christen liegen; darunter manche sonderbare.“[5]
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[1] Weitlauff, Manfred (1988): „Modernismus litterarius“. Der „Katholische Literaturstreit“. In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 37, S. 97-175. Und: Weber, Christoph (1992): „Eine starke, eng geschlossene Phalanx. Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871“. Essen.
[2] Simplicissimus 8 (1903), Nr. 42, S. 330f.
[3] Ludwig Thoma an Conrad Haussmann, München 9. Januar 1904. In: Ludwig Thoma. Ein Leben in Briefen, a.a.O., S. 146.
[4] Ein Leben in Briefen, ebda., S. 160.
[5] Ludwig Thoma: Andreas Vöst. Bauernroman. In: Ludwig Thoma. Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 38.
Sekundärliteratur:
Der Roman Andreas Vöst in der Wikipedia
Weitere Kapitel:
Die Auseinandersetzung des erklärten Bismarck-Anhängers Ludwig Thoma mit der Kirche ist nicht zu verstehen, ohne einen Blick auf den Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts zu werfen, von dessen Nachwirkungen die deutsche Kirchen- und Geistesgeschichte bis hin zum Ersten Weltkrieg geprägt ist. Kulturkampf nennt man das Bündel von Maßnahmen, das der liberale Bismarck-Staat gegen die Katholiken aufbietet, die er – ähnlich den Sozialdemokraten – den zentrifugalen Kräften seines neuen Reiches zurechnet. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes befinden sich die meisten preußischen Bischöfe im Gefängnis oder im Exil, mit ihren Bistümern allenfalls durch Geheimdelegaten verbunden. 1878 amtieren in Preußen nur noch drei katholische Bischöfe. Die Bistümer Fulda, Osnabrück und Trier können jahrelang nicht besetzt werden. Aber dennoch wäre es zu kurz gegriffen, den Kulturkampf allein als einseitige Repression des protestantisch-liberalen Bismarck-Staates hinzustellen. Der Konflikt ist eher als Eskalation eines jahrzehntelangen Entwicklungsprozesses zu verstehen, in dem Staat und Kirche mitunter mühsam ihre eigene Identität im modernen Gesellschaftswesen zu finden suchen. Schon der Krieg von 1866 war für die Katholiken ein schwer zu überwindender Schock gewesen, ihr Herz hatte überwiegend großdeutsch und pro-österreichisch geschlagen. Von protestantisch-liberaler Seite wird dieser Sieg denn auch als geschichtlicher Beweis der Überlegenheit des Protestantismus gefeiert.
Im katholischen Lager versteht man die Welt nicht mehr. Man will mit dem neuen, fremden Staatswesen unter preußischer Führung nichts zu tun haben. Lamentierend zieht man sich ein geistiges Getto zurück. Die Folgen zeigen sich zunächst in bildungspolitischer Hinsicht. Während die protestantischen Bevölkerungsteile weitgehend im Bürgertum verwurzelt sind und alle Formen der Bildung nutzen können, wird die Kluft zwischen den vielfach in ländlichen Regionen lebenden Katholiken und dem allgemeinen Bildungsstandard immer tiefer. Die Katholiken verlieren vor allem auf dem flachen Land den Zugang zu den höheren Bildungsanstalten, denn das Humboldt'sche Gymnasium ist eine ausschließlich städtische Angelegenheit. Der Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen der Zeit ist man in katholischen Kreisen – Ausnahmen bestätigen die Regel – kaum mehr gewachsen. Dafür schließt man sich umso enger zum politischen Katholizismus zusammen und entwickelt in der Zentrumspartei ein wichtiges politisches Sprachrohr. Der Pfarrer sieht sich plötzlich nicht mehr als der einfache Seelenhirte des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern als eine ultramontan agierende und politisch mobilisierende Kraft.[1]
Die Polemik Ludwig Thomas gegen diese politisierten, für die Zentrumspartei agitierenden Kleriker beginnt schon in der Frühzeit seines schriftstellerischen und journalistischen Wirkens und findet einen ersten Höhepunkt im Jahr 1904, als er in der Simplicissimus-Spezialnummer Das Zentrum unter dem Titel „Über die sittliche Erziehung. Eine Fastenpredigt. Von Abraham a Santa Clara II.“ eine offenkundige Analogie zwischen Zentrum und „vorreformatorischer Pfaffenherrschaft“ konstatiert[2]. Nachdem die Nummer von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wird, schreibt Thoma an seinen Freund und Anwalt Conrad Hausmann: „Ich schicke Ihnen die Nummer und urteilen Sie selbst, ob darin die 'Religion' angegriffen ist. Nach bayerischer momentan herrschender Meinung allerdings, weil hier Zentrum und Religion gleichbedeutend sind.“[3]
Je wichtiger der Typus des Bauern und seiner Familie für Thoma werden, desto häufiger stellt er ihre Bodenständigkeit und Schlichtheit jetzt in Gegensatz zur Weltfremdheit und Geschraubtheit mancher Kleriker: „Eine sterbende alte Bäuerin und an ihrem Totenbette den phrasenhaften Kooperator, ein Gegensatz, wie ich ihn lange bei mir herumtrug. Ein arbeitsreiches, braves Leben, und die Theologie, die der Arbeit und der Bravheit so fremd gegenübersteht, wie aller schönen Menschlichkeit.“[4]
Die zahlreichen Proteste und Anfeindungen, die solche Provokationen unweigerlich mit sich bringen, stacheln den Zorn Thomas erst recht an, und so machte er sich mit besonderem Eifer an die Fertigstellung eines seit 1902 gehegten Projektes, seines ersten Romans Andreas Vöst. 1905 ist das Werk abgeschlossen und lässt Thomas Konflikte mit kirchlichen Kreisen eskalieren. Ursprünglich sollte der Roman Der Pfarrer von Erlbach heißen, denn Georg Baustätter, „Pfarrer vom Erlbach und Kämmerer des Kapitels Berghofen“ spielt darin eine mindest ebenso wichtige Rolle, wie der Titelheld Andreas Vöst, der sich gegen einen ehrverletzenden Eintrag des Pfarrers ins Kirchenbuch seiner Pfarrei zur Wehr setzen will. Der Konflikt mit dem reaktionären Geistlichen, der sein Amt offensichtlich für demagogische und politische Zwecke missbraucht, treibt den Schullerbauern schließlich in die Katastrophe. Historischer Hintergrund des Stoffes ist die Entstehung des „Bayerischen Bauernbundes“ um die Jahrhundertwende, einer demokratischen und antiklerikalen Bewegung unter den Bauern. Und so sind der Figur des Schullerbauern Andreas Vöst zwei historische Vorbilder Pate gestanden: Peter Loder, Scharlbauer aus Puchschlagen, Pfarrei Kreuzholzhausen im Bezirk Dachau, der mit seinem Pfarrer einen vergleichbaren Konflikt austragen musste, und Georg Eisenberger, Hutzenauer aus Ruhpolding, Aktivist und späterer Vorsitzender der Bauernbund-Bewegung. Vösts Widersacher Georg Baustätter zeichnet Thoma als engstirnigen und gehässigen Vertreter der Zentrumspartei, der soweit geht, den früh verstorbenen Säugling des Schullerbauern nicht in geweihter Erde begraben zu lassen, weil er nicht getauft ist. „Ich weiß nicht“, so lässt Thoma seine Überzeugung in den Roman einfließen, „ob der liebe Gott den unchristlichen Zustand eines Kindleins so hart beurteilt wie seine Geistlichen, aber das eine ist gewiss, dass es nicht in geweihter Erde ruhen darf, worin nur Christen liegen; darunter manche sonderbare.“[5]
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[1] Weitlauff, Manfred (1988): „Modernismus litterarius“. Der „Katholische Literaturstreit“. In: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 37, S. 97-175. Und: Weber, Christoph (1992): „Eine starke, eng geschlossene Phalanx. Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871“. Essen.
[2] Simplicissimus 8 (1903), Nr. 42, S. 330f.
[3] Ludwig Thoma an Conrad Haussmann, München 9. Januar 1904. In: Ludwig Thoma. Ein Leben in Briefen, a.a.O., S. 146.
[4] Ein Leben in Briefen, ebda., S. 160.
[5] Ludwig Thoma: Andreas Vöst. Bauernroman. In: Ludwig Thoma. Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 5, S. 38.