Der Halbtraum

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Grafik von George Stodart nach einem Denkmal für Mary and Percy Shelley von Henry Weekes, 1853.

Mary Shelley schildert, wie sie von ihren eigenen Gedanken, Phantasien und Assoziationen gefangen genommen wird. Sie konnte nicht einschlafen, weil sich ihrer ein „halbschlummerndes Nachsinnen“ bemächtigte. Die Bilder, die „ungebeten“ vor ihren geschlossenen Augen auftauchten, waren von erschreckender Lebendigkeit und ließen sich nicht vertreiben. Im Mittelpunkt steht der „bleiche Jünger der schrecklichen Wissenschaft“, der vor dem Wesen kniet, das er selbst erschaffen hat.

Ich sah das schreckliche Zerrbild eines Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig regen. Furchtbar müsste es auf den Menschen wirken, wenn es ihm gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der Erfolg müsste den Künstler aufs tiefste erschrecken, so dass er entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müsste hoffen, dass der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen, wieder erlösche; dass das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht, wieder in die Materie zurücksinke; und er müsste einschlafen in dem Gedanken, dass das Grab sich wieder schlösse über dem hässlichen Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte.

Doch in Mary Shelleys Halbtraum findet der Schöpfer ebenso wenig Schlaf wie sie selbst. Er sieht sich dem Ungeheuer gegenüber, das ihn aufmerksam anstarrt. Die Erzählerin identifiziert sich so stark mit der von ihr imaginierten Figur des Schöpfers, dass es ihr nicht gelingt, „das gespenstische Bild meiner Phantasie wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen“.

Ich erinnere mich noch heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner Täfelung, auf der sich durch die geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich wusste, dass draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines Phantasiegebildes nicht ledig werden.

Erst nach längerem Wachliegen fiel ihr wieder von Lord Byron erdachte Plan, eine Gespenstergeschichte zu schreiben, und ihr Ziel, die Leser mit ihrer Geschichte zu erschüttern, ein.

Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt