Blindheit III: Nina Jäckle – „Es gibt solche“: Das Erblinden anderer
Der jungen Frau gelingt es, durch die Orientierung an Geräuschen, Bewegungen, Konturen und Kontrollmechanismen wie dem Abzählen ihrer Bewegungen oder der Geschehnisse um sie herum und eine genaue Planung aller potentiellen Situationen den Schein zu waren.
Ich zähle, was man zählen kann, und es geschieht automatisch. Ich zähle Sekunden, zum Bemessen von Abständen, ich zähle die Treppenstufen im Kino, von meiner Sitzreihe bis hin zum Ausgang, ich zähle das Seufzen der Frau, die mir gegenüber im Zug sitzt. Sie seufzt alle 30 Sekunden. (S. 32)
Die Möbel stehen nicht inmitten des Raumes, ich stelle sie an die Wand, an den Rand, aus dem Weg. So bleiben die Gehzonen frei, meine ausgetretenen Pfade ohne Hindernisse, vor allem zwischen Bett und Badezimmer. Die Schuhe eines Besuchers, unachtsam oder in Eile vor das Bett geworfen, könnten mich zu Fall bringen. (S. 27)
Ich muss alle Eventualitäten mit einbeziehen, um Überraschungen vorzubeugen. Ich muss den Situationen die Schrecksekunden vorwegnehmen, darf nicht nur den Moment selbst unter Kontrolle haben, sondern auch seine Folgemomente und deren Folgen. (S. 35)
Die „Angleichung des Koordinatensystems“ scheint zu funktionieren, bis ein Mann in ihr Leben tritt und damit das sehende Außen unmittelbar in ihre kontrollierte Welt einbrechen lässt. Er sieht etwas, das sie nicht sehen kann. Und wie sich später herausstellt, ist es buchstäblich ihr Nicht-Sehen-Können, das die beiden zusammengeführt hat. Als er seine Tasche bei ihr vergisst, findet sie Fotos von sich:
Die ganze Mappe ist voll Fotografien. Er fotografierte mich hundertfach. Er weiß genau, wie an mich herankommen kann, ohne von mir erkannt zu werden. Die Grenze zwischen Unschärfe und Sehen hat er nie überschritten. Er fotografierte mich mit guten Objektiven, wählte auf meine Augen fixierte Ausschnitte. Er vergrößerte meine Orientierungslosigkeit um ein Vielfaches, mein Suchen, meine übertriebene Konzentration auf alltägliche Dinge. [...] Ich finde Notizen. Immer die gleichen Wege, lese ich in seiner Handschrift, die Dinge immer am selben Ort, ständiges Wiederholen derselben Abläufe, eine geringe Veränderung schon bringt alles in Stolpern, lese ich. (S. 39)
Sein Interesse für das „Erblinden anderer“ erklärt er ihr später als „krankes Hobby“ (S. 40). Schon anderen sei er gefolgt und habe sie fotografiert.
Den Schmerz der Trennung der Erblindenden von ihrem Vertrauten überblendet Nina Jäckle schließlich mit den schmerzenden Augen:
Alles wird wortrund und stumm und er spricht und es schneit und er spricht sich alles weiß, bis es in den Augen schmerzt. (S. 42)
Die Scheinwelt, die die Halbblinde für sich und die anderen aufgebaut hat, kann durch den Einbruch von Außen nicht länger aufrecht erhalten werden. Mit dem Bild des Sehens auf weißem Grund gelingt der Autorin schließlich der Entwurf eines komplexen Gefüges aus Wahrnehmung und Wissen, das deutlich macht, welche Einschränkungen – nicht nur der Sinne – der Verlust des Augenlichts mit sich bringt.
Halte ich meinen Blick gegen Weiß, so sehe ich präzise jede einzelne der Schlieren. Es sind ehemalige, niemals zur Gänze resorbierte Blutungen, schwimmende Fäden aus schmuddeligem Schwarz, Würmer, die sich stets in Blickrichtung mitwinden. Wenn ich meinen Blick gegen Weiß halte, dann entgeht mir kein Defekt meiner Augen, bis hin zur Hornhaut. Man kann das Sehen ins Auge hineinrichten, es ist eine Frage der Konzentration. Sehe ich nicht aus dem Auge hinaus, sondern lediglich bis zum physikalischen Augenrand hin, so bin ich mir gewiss, an welcher Stelle ich ende und somit die Welt beginnt. Es ist eine Frage der Konzentration, eine Frage auch von Weiß. (S. 41)
Sekundärliteratur:
Nina Jäckle: Es gibt solche. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2002.
Interview mit Nina Jäckle im Deutschlandfunk
Weitere Kapitel:
Der jungen Frau gelingt es, durch die Orientierung an Geräuschen, Bewegungen, Konturen und Kontrollmechanismen wie dem Abzählen ihrer Bewegungen oder der Geschehnisse um sie herum und eine genaue Planung aller potentiellen Situationen den Schein zu waren.
Ich zähle, was man zählen kann, und es geschieht automatisch. Ich zähle Sekunden, zum Bemessen von Abständen, ich zähle die Treppenstufen im Kino, von meiner Sitzreihe bis hin zum Ausgang, ich zähle das Seufzen der Frau, die mir gegenüber im Zug sitzt. Sie seufzt alle 30 Sekunden. (S. 32)
Die Möbel stehen nicht inmitten des Raumes, ich stelle sie an die Wand, an den Rand, aus dem Weg. So bleiben die Gehzonen frei, meine ausgetretenen Pfade ohne Hindernisse, vor allem zwischen Bett und Badezimmer. Die Schuhe eines Besuchers, unachtsam oder in Eile vor das Bett geworfen, könnten mich zu Fall bringen. (S. 27)
Ich muss alle Eventualitäten mit einbeziehen, um Überraschungen vorzubeugen. Ich muss den Situationen die Schrecksekunden vorwegnehmen, darf nicht nur den Moment selbst unter Kontrolle haben, sondern auch seine Folgemomente und deren Folgen. (S. 35)
Die „Angleichung des Koordinatensystems“ scheint zu funktionieren, bis ein Mann in ihr Leben tritt und damit das sehende Außen unmittelbar in ihre kontrollierte Welt einbrechen lässt. Er sieht etwas, das sie nicht sehen kann. Und wie sich später herausstellt, ist es buchstäblich ihr Nicht-Sehen-Können, das die beiden zusammengeführt hat. Als er seine Tasche bei ihr vergisst, findet sie Fotos von sich:
Die ganze Mappe ist voll Fotografien. Er fotografierte mich hundertfach. Er weiß genau, wie an mich herankommen kann, ohne von mir erkannt zu werden. Die Grenze zwischen Unschärfe und Sehen hat er nie überschritten. Er fotografierte mich mit guten Objektiven, wählte auf meine Augen fixierte Ausschnitte. Er vergrößerte meine Orientierungslosigkeit um ein Vielfaches, mein Suchen, meine übertriebene Konzentration auf alltägliche Dinge. [...] Ich finde Notizen. Immer die gleichen Wege, lese ich in seiner Handschrift, die Dinge immer am selben Ort, ständiges Wiederholen derselben Abläufe, eine geringe Veränderung schon bringt alles in Stolpern, lese ich. (S. 39)
Sein Interesse für das „Erblinden anderer“ erklärt er ihr später als „krankes Hobby“ (S. 40). Schon anderen sei er gefolgt und habe sie fotografiert.
Den Schmerz der Trennung der Erblindenden von ihrem Vertrauten überblendet Nina Jäckle schließlich mit den schmerzenden Augen:
Alles wird wortrund und stumm und er spricht und es schneit und er spricht sich alles weiß, bis es in den Augen schmerzt. (S. 42)
Die Scheinwelt, die die Halbblinde für sich und die anderen aufgebaut hat, kann durch den Einbruch von Außen nicht länger aufrecht erhalten werden. Mit dem Bild des Sehens auf weißem Grund gelingt der Autorin schließlich der Entwurf eines komplexen Gefüges aus Wahrnehmung und Wissen, das deutlich macht, welche Einschränkungen – nicht nur der Sinne – der Verlust des Augenlichts mit sich bringt.
Halte ich meinen Blick gegen Weiß, so sehe ich präzise jede einzelne der Schlieren. Es sind ehemalige, niemals zur Gänze resorbierte Blutungen, schwimmende Fäden aus schmuddeligem Schwarz, Würmer, die sich stets in Blickrichtung mitwinden. Wenn ich meinen Blick gegen Weiß halte, dann entgeht mir kein Defekt meiner Augen, bis hin zur Hornhaut. Man kann das Sehen ins Auge hineinrichten, es ist eine Frage der Konzentration. Sehe ich nicht aus dem Auge hinaus, sondern lediglich bis zum physikalischen Augenrand hin, so bin ich mir gewiss, an welcher Stelle ich ende und somit die Welt beginnt. Es ist eine Frage der Konzentration, eine Frage auch von Weiß. (S. 41)
Nina Jäckle: Es gibt solche. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2002.