Erfundene Behinderung?

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Tancrède Dumas (1830-1905): Ein blinder Mann trägt einen gelähmten Mann, Fotografie 1889

Literatur ist unscharfes Sprechen auf unsicherem Grund, ist sanft fließendes Stottern und taubes Überhören, ist hinkendes Tanzen und stummes Blechtrommeln, ist halbblindes Hellsehen eines anderen Zustandes.

Seit jeher dient Literatur dem Sichtbarmachen gesellschaftlicher Problemstellungen, ihrer Diskussion und der Erprobung von Lösungsentwürfen, die scheitern oder gelingen – in jedem Fall aber auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Themen verweisen. Das Leben mit einer Behinderung, Inklusion und die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft müssen damit nicht nur ein soziales oder politisches Thema sein, sondern auch ein literarisches.

Liest man einen literarischen Text mit einem Protagonisten, der von einer geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderung betroffen ist, so können Figur und Behinderung erfunden sein, die Erfahrungen, Gefühle, Gedanken und Interaktionen des „fiktiven Behinderten“ dagegen sind authentisch. Sie liefern dem Leser eine literarische Perspektive auf eine reelle Existenz mit Behinderung.

Die Erfahrungen und Handlungsweisen der erzählten Figuren können unterschiedlich, sogar gegensätzlich sein: Das Spektrum reicht von Stigmatisierung und offener Ausgrenzung über Ignoranz oder ein Nicht-Sehen-Wollen bis hin zu Akzeptanz, der Wahrnehmung einer Chance auf Veränderung und einer (auch heute noch) utopischen Vorstellung von funktionierender gesamtgesellschaftlicher Inklusion.

Taktile Anordnung wie sie in der Optacon-Lesemaschine für Blinde verwendet wird

In ihrer fiktiven Existenz bieten uns die Erzähler, Protagonisten oder lyrischen Ichs der Texte – und ebendies macht gerade das literarische Schreiben aus – ambivalente Möglichkeiten zu Identifikation oder Irritation. Beiden Mechanismen ist gemeinsam, dass sie die Wahrnehmung des Lesers beeinflussen. Sie verändern den Blick auf uns selbst, auf andere Menschen, auf die Gesellschaft, auf die Welt. Den Figuren aus den ausgewählten Erzählungen und Gedichten der bayerischen Literatur gelingt dies vor allem durch ihre Einzigartigkeit.

Verfasst von: Laura Velte / Bayerische Staatsbibliothek

Sekundärliteratur:

Mürner, Christian (1990): Behinderung als Metapher. Pädagogik und Psychologie zwischen Behinderung und Kunst am Beispiel von Behinderten in der Literatur. Verlag Paul Haupt, Stuttgart/Bern.

Ders. (2010): Erfundene Behinderungen. Bibliothek behinderter Figuren. AG SPAK-Bücher, Neu-Ulm.