Von Thomas Klupp
Manchmal würde ich mich gern wie Heidi fühlen. Ich wüsste dann genau, wo ich zu Haus’ und glücklich wäre: und zwar in den Bergen, unter dunklen Tannen und auf grünen Wiesen im Sonnenschein. Ich meine das nicht ironisch. Ich stelle es mir wirklich schön vor, Heimweh allein und ausschließlich nach einem einzigen, klar definierten Ort zu empfinden. Die eigene Identität und das eigene Gefühlsleben würden mir dann ohne Frage in einem weniger diffusen Licht erscheinen, als sie es in der Wirklichkeit tun. Nicht zuletzt auch würde mir als ein in der Oberpfalz aufgewachsenes Heidi-Update dieser Text sehr leicht von der Hand gehen. Ich könnte jetzt mit Überzeugung sagen: Meine Heimat sind dunkel bewaldete Hügel unter träge dahin ziehenden Wolken, sind wogende Kornfelder und Schilf umsäumte Weiher, über die bläulich schimmernde Libellen schwirren. Etc. Wäre ich noch etwas kitschiger veranlagt, als ich es ohnehin schon bin, ich würde dergleichen tatsächlich behaupten. Ich kann es aber (leider) nicht. Heimat ist kein Ort für mich. Oder genauer: Heimat ist nicht nur ein Ort für mich. Heimat sind auch meine Eltern und Geschwister, sind meine Freundin und meine Freunde, sind die Bücher, die ich gelesen, und die Filme, die ich gesehen habe, Heimat sind die Erlebnisse, die mich geprägt haben (die Guten wie die Schlechten), und die Gedanken, die ich gedacht habe. Anders gesagt: Nur eine Heimat kenne oder besser gesagt: empfinde ich nicht. Ich empfinde Heimatsplitter, eine Vielzahl von ihnen. Solche Splitter sind zum Beispiel: der leicht modrige Apfelgeruch in der Speisekammer meines Elternhauses; das Hitzeflimmern über dem Asphalt auf südlichen Autobahnen; das scheppernde Geräusch meiner Laptoptastatur (mein Anschlag ist zu fest); die Johannisbeersträucher im Garten meiner Großeltern vor dem braun lackierten Jägerzaun; das unhintergehbare Gefühl, allen Anstrengungen zum Trotz bis zu einem gewissen Grad immer ein Mitläufer zu bleiben; die nächtliche Betriebsamkeit im Wrangelkiez in Kreuzberg; Jason Bournes Suche nach sich selbst in The Bourne Identity; die Euphorie beim Schreiben eines guten Textes; das Wissen darum, dass ich niemals irgendetwas wirklich wissen werde (auch Wikipedia hilft da nicht, im Gegenteil)… Weshalb ausgerechnet diese Momente bei mir Heimatgefühle auslösen, weshalb ausgerechnet sie sich in meinen tiefsten Erinnerungsschichten abgelagert haben (während ich mich beispielsweise nicht mehr an meinen ersten Kuss erinnern kann), ist mir ein Rätsel. Es ist nicht das einzige Rätsel in diesem Zusammenhang. Erstaunlich finde ich auch, dass Jahr für Jahr neue Heimatsplitter hinzukommen. Je älter ich werde, mit desto mehr Heimat scheine ich mich anzufüllen. Als wäre Heimat nicht nur der Vergangenheit zugehörig sondern als würde sie mir zugleich aus der Zukunft entgegenkommen. Heimat verstanden als etwas Prozessuales bzw. Dynamisches – als etwas, das sich ausbreitet, das wächst im Lauf der Zeit und dabei immer vielgestaltiger wird. Vielleicht, zuweilen hege ich diesen Verdacht, hat mein gebrochenes Heimatverständnis auch damit zu tun, dass ich ein tendenziell treuloser Mensch bin. Oder anders, positiver formuliert: Aufgrund der Vielzahl von Möglichkeiten, die diese Welt mir bietet, habe ich mein Herz nicht an nur einen Ort oder nur eine Sache oder nur einen Gedanken oder nur einen Menschen verloren. Ich bin in den 1980er und 90er Jahren groß geworden, in einer Zeit des Überflusses. Womöglich bin ich zu viel gereist und zu oft umgezogen, habe zu viele Orte gesehen und zu viele Menschen kennen gelernt und mich – last but not least – zu sehr vom großen Auftritt der elektronischen Massenmedien beeindrucken lassen. (Heidi, um es einmal pointiert zu sagen, kannte weder ICEs noch das Internet). Vielleicht hat es aber auch einfach mit meinem Alter zu tun. Vielleicht bin ich mit Anfang Dreißig noch zu jung, um begreifen zu können, welche elementaren Einflüsse mich zu dem gemacht haben, der ich bin. Vielleicht muss ich Vierzig oder Fünfzig werden, um meine ganz persönliche Heimat zu finden. Die Zukunft wird es zeigen, die Suchbewegung hält erst einmal an.
Weitere Kapitel:
Manchmal würde ich mich gern wie Heidi fühlen. Ich wüsste dann genau, wo ich zu Haus’ und glücklich wäre: und zwar in den Bergen, unter dunklen Tannen und auf grünen Wiesen im Sonnenschein. Ich meine das nicht ironisch. Ich stelle es mir wirklich schön vor, Heimweh allein und ausschließlich nach einem einzigen, klar definierten Ort zu empfinden. Die eigene Identität und das eigene Gefühlsleben würden mir dann ohne Frage in einem weniger diffusen Licht erscheinen, als sie es in der Wirklichkeit tun. Nicht zuletzt auch würde mir als ein in der Oberpfalz aufgewachsenes Heidi-Update dieser Text sehr leicht von der Hand gehen. Ich könnte jetzt mit Überzeugung sagen: Meine Heimat sind dunkel bewaldete Hügel unter träge dahin ziehenden Wolken, sind wogende Kornfelder und Schilf umsäumte Weiher, über die bläulich schimmernde Libellen schwirren. Etc. Wäre ich noch etwas kitschiger veranlagt, als ich es ohnehin schon bin, ich würde dergleichen tatsächlich behaupten. Ich kann es aber (leider) nicht. Heimat ist kein Ort für mich. Oder genauer: Heimat ist nicht nur ein Ort für mich. Heimat sind auch meine Eltern und Geschwister, sind meine Freundin und meine Freunde, sind die Bücher, die ich gelesen, und die Filme, die ich gesehen habe, Heimat sind die Erlebnisse, die mich geprägt haben (die Guten wie die Schlechten), und die Gedanken, die ich gedacht habe. Anders gesagt: Nur eine Heimat kenne oder besser gesagt: empfinde ich nicht. Ich empfinde Heimatsplitter, eine Vielzahl von ihnen. Solche Splitter sind zum Beispiel: der leicht modrige Apfelgeruch in der Speisekammer meines Elternhauses; das Hitzeflimmern über dem Asphalt auf südlichen Autobahnen; das scheppernde Geräusch meiner Laptoptastatur (mein Anschlag ist zu fest); die Johannisbeersträucher im Garten meiner Großeltern vor dem braun lackierten Jägerzaun; das unhintergehbare Gefühl, allen Anstrengungen zum Trotz bis zu einem gewissen Grad immer ein Mitläufer zu bleiben; die nächtliche Betriebsamkeit im Wrangelkiez in Kreuzberg; Jason Bournes Suche nach sich selbst in The Bourne Identity; die Euphorie beim Schreiben eines guten Textes; das Wissen darum, dass ich niemals irgendetwas wirklich wissen werde (auch Wikipedia hilft da nicht, im Gegenteil)… Weshalb ausgerechnet diese Momente bei mir Heimatgefühle auslösen, weshalb ausgerechnet sie sich in meinen tiefsten Erinnerungsschichten abgelagert haben (während ich mich beispielsweise nicht mehr an meinen ersten Kuss erinnern kann), ist mir ein Rätsel. Es ist nicht das einzige Rätsel in diesem Zusammenhang. Erstaunlich finde ich auch, dass Jahr für Jahr neue Heimatsplitter hinzukommen. Je älter ich werde, mit desto mehr Heimat scheine ich mich anzufüllen. Als wäre Heimat nicht nur der Vergangenheit zugehörig sondern als würde sie mir zugleich aus der Zukunft entgegenkommen. Heimat verstanden als etwas Prozessuales bzw. Dynamisches – als etwas, das sich ausbreitet, das wächst im Lauf der Zeit und dabei immer vielgestaltiger wird. Vielleicht, zuweilen hege ich diesen Verdacht, hat mein gebrochenes Heimatverständnis auch damit zu tun, dass ich ein tendenziell treuloser Mensch bin. Oder anders, positiver formuliert: Aufgrund der Vielzahl von Möglichkeiten, die diese Welt mir bietet, habe ich mein Herz nicht an nur einen Ort oder nur eine Sache oder nur einen Gedanken oder nur einen Menschen verloren. Ich bin in den 1980er und 90er Jahren groß geworden, in einer Zeit des Überflusses. Womöglich bin ich zu viel gereist und zu oft umgezogen, habe zu viele Orte gesehen und zu viele Menschen kennen gelernt und mich – last but not least – zu sehr vom großen Auftritt der elektronischen Massenmedien beeindrucken lassen. (Heidi, um es einmal pointiert zu sagen, kannte weder ICEs noch das Internet). Vielleicht hat es aber auch einfach mit meinem Alter zu tun. Vielleicht bin ich mit Anfang Dreißig noch zu jung, um begreifen zu können, welche elementaren Einflüsse mich zu dem gemacht haben, der ich bin. Vielleicht muss ich Vierzig oder Fünfzig werden, um meine ganz persönliche Heimat zu finden. Die Zukunft wird es zeigen, die Suchbewegung hält erst einmal an.