Der erste Blick
Was bekam der französische Philosoph Michel de Montaigne zu sehen, als er sich am 20. Oktober 1580 gegen Mittag vom Westen her München, „der Kapitale des Herzogtums Bayern“ näherte? Von weither zeigte die Silhouette der umfriedeten Stadt viele verschiedene Türme: die charakteristischen Doppeltürme der Frauenkirche, die Kirchtürme von Heiliggeist und Sankt Peter, den Turm des Alten Rathauses sowie den gerade fertig gestellten Roten Turm an der Isar. Montaigne schätzte die Stadt auf „etwa so groß wie Bordeaux“, wo er lebte. München hatte damals gerade einmal 20 000 Einwohner in 1265 „Behausungen“. „In unseren Münchner Zimmern hatten die Betten zwar Vorhänge, aber keine Baldachine. Doch wirkt alles insgesamt sehr sauber. Sie bohnern die Fußböden mit heißer Sägemehlwichse.“ Am nächsten Tag verließ die Reisegruppe in aller Frühe die Stadt durch das Isartor. Wie Goethe auf seiner Italienischen Reise wählte bereits Montaigne die Route über den Kesselberg. Auf seiner Reise nach Italien war Montaigne als Forschungsreisender unterwegs, der Sitten, Gebräuche, Essen, Landschaft und Leute erkundete. Ganz anders sein Zeitgenosse Orlando di Lasso. Der Komponist und Hofmusiker am Hofe Herzog Albrecht V. in München wollte an den europäischen Höfen Musik machen und eilte mit seiner Kutsche auf dem schnellsten Weg von einem Konzert zum anderen.
Zweihundert Jahre später nahm der gräfliche Bibliothekar Giacomo Casanova auf seiner Fahrt von Venedig nach München bereits die Postkutsche. Sie verkehrte regelmäßig auf festen Routen mit festen Haltestationen, den sogenannten Posthaltereien. Gemeinsam mit einem lasterhaften Mönch war Casanova die Flucht aus den vermeintlich ausbruchsicheren Bleikammern seiner Heimatstadt Venedig geglückt. Auf dem Weg nach Paris machten die beiden Scharlatane am 1. November 1756 in München Station. Das Reisen in der Postkutsche muss damals ausgesprochen strapaziös gewesen sein, das belegt auch Mozarts Brief vom 8. November 1780 an seinen Vater. Mit knapp sechs Jahren hatte Mozart zum ersten Mal München gesehen. Am 12. Januar 1762 war er mit seinen Eltern und der zwölfjährigen Schwester Maria Anna von Salzburg aufgebrochen. Die Fahrt mit der Postkutsche nach München dauerte etwa 22 Stunden mit Zwischenstation in Wasserburg. München war im Juni 1763 die erste Etappe der dreieinhalbjährigen Konzertreise kreuz und quer durch Europa, wo Leopold Mozart seinen Jungvirtuosen den europäischen Höfen präsentierte. Diese Reise war für den äußerst geräuschempfindlichen Wunderknaben sicher eine einzige Qual, wenn sie auch den Mythos vom göttlichen, die Welt bezaubernden Wunderkind begründete.
Links: München von der Ostseite am Isarufer, 18. Jh. (Münchner Stadtmuseum). Mitte: Karlsplatz (Stachus) um 1900 (Stadtarchiv München). Rechts: Maxburg, 17. Jh. (Münchner Stadtmuseum).
Der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen war erstmals 1834 in München, ein Jahr bevor die erste Fahrt der Dampflok auf der sechs Kilometer langen Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth den Reiseverkehr in Deutschland revolutionierte. Als Andersen im Herbst 1840 wieder nach München kam, hatte er die Möglichkeit, in nur zweieinhalb Stunden mit der Eisenbahn von München nach Augsburg zu reisen. Der erste Streckenabschnitt bis Lochhausen im Westen Münchens wurde am 1. September 1839 in Betrieb genommen. Der russische Diplomat und Schriftsteller Tjutschew war dabei, als wenige Tage vor der offiziellen Eröffnung die Dampflok mehrmals zwischen dem hölzernen Bahnhofsprovisorium am Marsfeld und dem stillen Dörfchen Lochhausen verkehrte. Die Extrafahrt einfach dauerte 25 Minuten und war ein Werbegeschenk an die Münchner Bürger.
Als das hölzerne Bahnhofsprovisorium 1847 abbrannte, wurde der Münchner Bahnhof an seine heutige Stelle verlegt. 1849 konnte der von Friedrich Bürklein entworfene Zentralbahnhof mit der mächtigen hölzernen Einstiegshalle in Betrieb genommen werden. Dort verließ der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller 1874 auf der Heimreise nach Zürich nach achteinhalb Stunden Fahrzeit bequem den Zug aus Wien. München hatte jetzt bereits über 193000 Einwohner. Nach den Erweiterungen in den Jahren 1876 bis 1884 galt der Bahnhof im Renaissance-Stil mit einer nun von einer Eisen-Glas-Konstruktion gehaltenen vierschiffigen Gleishalle als Inbegriff des modernen deutschen Großstadtbahnhofs. Er war der erste Eindruck, den der griechische Schriftsteller Antonios Sigalas gewann, als er 1910 zum Studieren in München eintraf. Mit der Pferdedroschke, die auf dem Bahnhofsvorplatz auf ankommende Reisende wartete, begab er sich in sein Quartier. Ein Brief des englischen Komponisten Edward Elgar an seine Neffen verrät, wie fremd den Nichtmünchnern 1892 das Droschkenwesen vorkam. Man konnte zwischen der Fahrt mit dem Einspänner und dem Zweispänner (Fiaker) wählen. Die erste Viertelstunde mit dem Einspänner kostete siebzig Pfennige, jede folgende Viertelstunde fünfzig Pfennige. Der Zweispänner war gut doppelt so teuer. Der junge Franz Kafka und sein Freund Max Brod wählten im März 1911 bei ihrer Spritztour durch München bereits die „Taxometerdroschke“. Auf einer gemeinsamen Reise von Prag nach Zürich, Luzern, Lugano und Mailand nutzten sie den Zwischenhalt von nur einer halben Stunde für eine Stadtbesichtigung. Eingepfercht in ein Taxi, rasten sie in nur zwanzig Minuten in atemberaubendem Tempo durch das verregnete München.
Links: Hauptbahnhof München, um 1900. Rechts: Marienplatz, um 1890 (Stadtarchiv München).
Mit der Eröffnung des Flughafens Riem im März 1955 bekam der Bahnverkehr gewaltige Konkurrenz aus der Luft. Schon bald war die Millionenstadt München mit der ganzen Welt verbunden. Als der Amerikaner Jonathan Franzen und die Japanerin Miki Sakamoto Mitte 1970 nach München zum Studieren kamen, betraten sie am Flughafen Riem europäischen Boden. Gut zwanzig Jahre später landete der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész auf einem Inlandsflug bereits auf dem hochmodernen Flughafen München II bei Erding, der 1992 den veralteten Flughafen Riem abgelöst hatte, und nahm die S-Bahn zum Marienplatz. Die Welt war in nur 150 Jahren immer enger zusammengewachsen.
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 11-15.
Weitere Kapitel:
Was bekam der französische Philosoph Michel de Montaigne zu sehen, als er sich am 20. Oktober 1580 gegen Mittag vom Westen her München, „der Kapitale des Herzogtums Bayern“ näherte? Von weither zeigte die Silhouette der umfriedeten Stadt viele verschiedene Türme: die charakteristischen Doppeltürme der Frauenkirche, die Kirchtürme von Heiliggeist und Sankt Peter, den Turm des Alten Rathauses sowie den gerade fertig gestellten Roten Turm an der Isar. Montaigne schätzte die Stadt auf „etwa so groß wie Bordeaux“, wo er lebte. München hatte damals gerade einmal 20 000 Einwohner in 1265 „Behausungen“. „In unseren Münchner Zimmern hatten die Betten zwar Vorhänge, aber keine Baldachine. Doch wirkt alles insgesamt sehr sauber. Sie bohnern die Fußböden mit heißer Sägemehlwichse.“ Am nächsten Tag verließ die Reisegruppe in aller Frühe die Stadt durch das Isartor. Wie Goethe auf seiner Italienischen Reise wählte bereits Montaigne die Route über den Kesselberg. Auf seiner Reise nach Italien war Montaigne als Forschungsreisender unterwegs, der Sitten, Gebräuche, Essen, Landschaft und Leute erkundete. Ganz anders sein Zeitgenosse Orlando di Lasso. Der Komponist und Hofmusiker am Hofe Herzog Albrecht V. in München wollte an den europäischen Höfen Musik machen und eilte mit seiner Kutsche auf dem schnellsten Weg von einem Konzert zum anderen.
Zweihundert Jahre später nahm der gräfliche Bibliothekar Giacomo Casanova auf seiner Fahrt von Venedig nach München bereits die Postkutsche. Sie verkehrte regelmäßig auf festen Routen mit festen Haltestationen, den sogenannten Posthaltereien. Gemeinsam mit einem lasterhaften Mönch war Casanova die Flucht aus den vermeintlich ausbruchsicheren Bleikammern seiner Heimatstadt Venedig geglückt. Auf dem Weg nach Paris machten die beiden Scharlatane am 1. November 1756 in München Station. Das Reisen in der Postkutsche muss damals ausgesprochen strapaziös gewesen sein, das belegt auch Mozarts Brief vom 8. November 1780 an seinen Vater. Mit knapp sechs Jahren hatte Mozart zum ersten Mal München gesehen. Am 12. Januar 1762 war er mit seinen Eltern und der zwölfjährigen Schwester Maria Anna von Salzburg aufgebrochen. Die Fahrt mit der Postkutsche nach München dauerte etwa 22 Stunden mit Zwischenstation in Wasserburg. München war im Juni 1763 die erste Etappe der dreieinhalbjährigen Konzertreise kreuz und quer durch Europa, wo Leopold Mozart seinen Jungvirtuosen den europäischen Höfen präsentierte. Diese Reise war für den äußerst geräuschempfindlichen Wunderknaben sicher eine einzige Qual, wenn sie auch den Mythos vom göttlichen, die Welt bezaubernden Wunderkind begründete.
Links: München von der Ostseite am Isarufer, 18. Jh. (Münchner Stadtmuseum). Mitte: Karlsplatz (Stachus) um 1900 (Stadtarchiv München). Rechts: Maxburg, 17. Jh. (Münchner Stadtmuseum).
Der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen war erstmals 1834 in München, ein Jahr bevor die erste Fahrt der Dampflok auf der sechs Kilometer langen Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth den Reiseverkehr in Deutschland revolutionierte. Als Andersen im Herbst 1840 wieder nach München kam, hatte er die Möglichkeit, in nur zweieinhalb Stunden mit der Eisenbahn von München nach Augsburg zu reisen. Der erste Streckenabschnitt bis Lochhausen im Westen Münchens wurde am 1. September 1839 in Betrieb genommen. Der russische Diplomat und Schriftsteller Tjutschew war dabei, als wenige Tage vor der offiziellen Eröffnung die Dampflok mehrmals zwischen dem hölzernen Bahnhofsprovisorium am Marsfeld und dem stillen Dörfchen Lochhausen verkehrte. Die Extrafahrt einfach dauerte 25 Minuten und war ein Werbegeschenk an die Münchner Bürger.
Als das hölzerne Bahnhofsprovisorium 1847 abbrannte, wurde der Münchner Bahnhof an seine heutige Stelle verlegt. 1849 konnte der von Friedrich Bürklein entworfene Zentralbahnhof mit der mächtigen hölzernen Einstiegshalle in Betrieb genommen werden. Dort verließ der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller 1874 auf der Heimreise nach Zürich nach achteinhalb Stunden Fahrzeit bequem den Zug aus Wien. München hatte jetzt bereits über 193000 Einwohner. Nach den Erweiterungen in den Jahren 1876 bis 1884 galt der Bahnhof im Renaissance-Stil mit einer nun von einer Eisen-Glas-Konstruktion gehaltenen vierschiffigen Gleishalle als Inbegriff des modernen deutschen Großstadtbahnhofs. Er war der erste Eindruck, den der griechische Schriftsteller Antonios Sigalas gewann, als er 1910 zum Studieren in München eintraf. Mit der Pferdedroschke, die auf dem Bahnhofsvorplatz auf ankommende Reisende wartete, begab er sich in sein Quartier. Ein Brief des englischen Komponisten Edward Elgar an seine Neffen verrät, wie fremd den Nichtmünchnern 1892 das Droschkenwesen vorkam. Man konnte zwischen der Fahrt mit dem Einspänner und dem Zweispänner (Fiaker) wählen. Die erste Viertelstunde mit dem Einspänner kostete siebzig Pfennige, jede folgende Viertelstunde fünfzig Pfennige. Der Zweispänner war gut doppelt so teuer. Der junge Franz Kafka und sein Freund Max Brod wählten im März 1911 bei ihrer Spritztour durch München bereits die „Taxometerdroschke“. Auf einer gemeinsamen Reise von Prag nach Zürich, Luzern, Lugano und Mailand nutzten sie den Zwischenhalt von nur einer halben Stunde für eine Stadtbesichtigung. Eingepfercht in ein Taxi, rasten sie in nur zwanzig Minuten in atemberaubendem Tempo durch das verregnete München.
Links: Hauptbahnhof München, um 1900. Rechts: Marienplatz, um 1890 (Stadtarchiv München).
Mit der Eröffnung des Flughafens Riem im März 1955 bekam der Bahnverkehr gewaltige Konkurrenz aus der Luft. Schon bald war die Millionenstadt München mit der ganzen Welt verbunden. Als der Amerikaner Jonathan Franzen und die Japanerin Miki Sakamoto Mitte 1970 nach München zum Studieren kamen, betraten sie am Flughafen Riem europäischen Boden. Gut zwanzig Jahre später landete der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész auf einem Inlandsflug bereits auf dem hochmodernen Flughafen München II bei Erding, der 1992 den veralteten Flughafen Riem abgelöst hatte, und nahm die S-Bahn zum Marienplatz. Die Welt war in nur 150 Jahren immer enger zusammengewachsen.
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 11-15.