Ausblicke
Die unmittelbare Gegenwart und die neuen Möglichkeiten, dass die Frauen nun das passive und aktive Wahlrecht erhalten haben, bewertet Carry Brachvogel noch nicht, sondern endet mit einem ironischen, offenen Ausblick. Die aktuelle Situation schildert sie so:
Eines schönen Tages aber, o Wunder!, wurden sie mit vieler Geschwindigkeit in das Geheimgemach hineingeschubst, wo die Männer sie mit ausgestreckten Händen empfingen, „Frau Kollega“ nannten, und einer von ihnen eine kleine Ansprache hielt, in der er ungefähr sagte: „Wie jeder napoleonische Soldat den Marschallsstab im Tornister trug, so trägt heute jede Frau das Ministerportefeuille in ihrer Markttasche!" Da weinten denn eisgraue Häupter, die ein halbes Jahrhundert lang vergebens petitioniert hatten, vor Freude, daß sie das Gelobte Land hatten erreichen dürfen, andere sagten mit öliger Selbstzufriedenheit: „Wir haben es uns durch unsere sozialen Leistungen verdient!", reizlose Gestalten mit Fanatikeraugen sprachen: „Nun, da wir an den Webstuhl treten, wird die Welt ganz anders gehen, als seit Jahrtausenden!", und noch andere ließen die Augen verträumt und weltfremd im Gemach umhergehen und sprachen hochmütig: „Wozu sollen wir uns eigentlich mit Politik befassen?! Goethe hat sich doch auch von aller Politik ferngehalten – –". Und dann traten Männer und Frauen gemeinsam zu dem großen Webstuhl, und alles war genau wie vorher, – nur daß im Gemach doppelt so viel Menschen standen [...] Eine kleine Gruppe von Frauen aber, die weder von Rührung, noch von Selbstzufriedenheit, noch von Männerhaß, noch von ästhetischem Hochmut erfüllt war, betrachtete die Gesichter der Männer, auf denen ein Lächeln lag. Ein Lächeln, das alles mögliche oder auch gar nichts heißen konnte, denn es waren ja alte Politiker, die es lächelten. Es war zu gleicher Zeit verbindlich und unverbindlich, freundlich und spöttisch, zutraulich und überlegen. Der kleinen Frauengruppe kam dies Lächeln allmählich unheimlich vor, wie alles, was man nicht deuten kann. Sie fragten einander flüsternd, ob die Rede vorhin wohl ernst gemeint gewesen sei, ob wirklich in Zukunft jede Frau das Ministerportefeuille in der Markttasche trage, und nicht am Ende nur den Stimmzettel. Eine heikle Frage! Das Lächeln der Männer gibt keine Antwort darauf und so muß sie wohl oder übel der Zukunft überlassen bleiben.
Carry Brachvogel fordert auch Schritte von den Frauen selbst. In einem Feuilleton von 1926, einem historischem Abriss über Die Frauen und die Industrie, stellt sie in diesem Bereich jahrhundertelanges Desinteresse der Frauen fest.
Weitere Kapitel:
Die unmittelbare Gegenwart und die neuen Möglichkeiten, dass die Frauen nun das passive und aktive Wahlrecht erhalten haben, bewertet Carry Brachvogel noch nicht, sondern endet mit einem ironischen, offenen Ausblick. Die aktuelle Situation schildert sie so:
Eines schönen Tages aber, o Wunder!, wurden sie mit vieler Geschwindigkeit in das Geheimgemach hineingeschubst, wo die Männer sie mit ausgestreckten Händen empfingen, „Frau Kollega“ nannten, und einer von ihnen eine kleine Ansprache hielt, in der er ungefähr sagte: „Wie jeder napoleonische Soldat den Marschallsstab im Tornister trug, so trägt heute jede Frau das Ministerportefeuille in ihrer Markttasche!" Da weinten denn eisgraue Häupter, die ein halbes Jahrhundert lang vergebens petitioniert hatten, vor Freude, daß sie das Gelobte Land hatten erreichen dürfen, andere sagten mit öliger Selbstzufriedenheit: „Wir haben es uns durch unsere sozialen Leistungen verdient!", reizlose Gestalten mit Fanatikeraugen sprachen: „Nun, da wir an den Webstuhl treten, wird die Welt ganz anders gehen, als seit Jahrtausenden!", und noch andere ließen die Augen verträumt und weltfremd im Gemach umhergehen und sprachen hochmütig: „Wozu sollen wir uns eigentlich mit Politik befassen?! Goethe hat sich doch auch von aller Politik ferngehalten – –". Und dann traten Männer und Frauen gemeinsam zu dem großen Webstuhl, und alles war genau wie vorher, – nur daß im Gemach doppelt so viel Menschen standen [...] Eine kleine Gruppe von Frauen aber, die weder von Rührung, noch von Selbstzufriedenheit, noch von Männerhaß, noch von ästhetischem Hochmut erfüllt war, betrachtete die Gesichter der Männer, auf denen ein Lächeln lag. Ein Lächeln, das alles mögliche oder auch gar nichts heißen konnte, denn es waren ja alte Politiker, die es lächelten. Es war zu gleicher Zeit verbindlich und unverbindlich, freundlich und spöttisch, zutraulich und überlegen. Der kleinen Frauengruppe kam dies Lächeln allmählich unheimlich vor, wie alles, was man nicht deuten kann. Sie fragten einander flüsternd, ob die Rede vorhin wohl ernst gemeint gewesen sei, ob wirklich in Zukunft jede Frau das Ministerportefeuille in der Markttasche trage, und nicht am Ende nur den Stimmzettel. Eine heikle Frage! Das Lächeln der Männer gibt keine Antwort darauf und so muß sie wohl oder übel der Zukunft überlassen bleiben.
Carry Brachvogel fordert auch Schritte von den Frauen selbst. In einem Feuilleton von 1926, einem historischem Abriss über Die Frauen und die Industrie, stellt sie in diesem Bereich jahrhundertelanges Desinteresse der Frauen fest.