Verbrecherisches Bayern

In den 1960er-Jahren rücken im Kriminalgenre Psychologie, Politik und Sozialkritik mehr und mehr in den Vordergrund der Handlung. Den Lesern und Zuschauern werden die Schattenseiten der berühmten Metropolen als Schauplätze vorgestellt – Stadtviertel, die nicht zu den bekannten Sehenswürdigkeiten gehören und bei Städtereisen verborgen bleiben. In seinem Buch Tödliches Bayern – Kriminalfälle aus zwei Jahrhunderten diagnostiziert der renommierte Krimiautor Robert Hültner: „Jede politische, wirtschaftliche und kulturelle Umwälzung bewirkt soziale Konflikte und Belastungen, auf die die Betroffenen mit zuweilen fataler Konsequenz reagieren.“

Doch nicht nur der soziale Hintergrund von Tätern und Opfern wird sorgfältig ausgeleuchtet, auch die Ermittler präsentieren sich in ihrem familiären und gesellschaftlichen Kontext. Das Verhältnis zu ihren Vorgesetzten und Kollegen entwickelt sich zum dramaturgischen Element. Zunächst bleiben allerdings die Städte, vor allem die Großstädte, bevorzugter Schauplatz der Handlung. Das verändert sich erst in den 1980er-Jahren. Da beginnen die Autoren, ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die Provinz zu richten. Nicht mehr die Anonymität, Kälte und das Chaos der Großstadt bilden den Nährboden für kriminelles Geschehen, sondern die Enge, die übergroße Nähe und die scheinbare Idylle der Dörfer und Kleinstädte. Für die Rezeption spielt auch der Wiedererkennungseffekt eine wichtige Rolle: Vielen Lesern gefällt es, ihre Heimat, die sonst nie literarisches Thema ist, so prominent dargestellt zu erleben.

In den 1990er-Jahren erreicht diese Entwicklung auch in Film und Fernsehen einen ersten Höhepunkt: Die bayerischen Fernsehserie Der Bulle von Tölz erlangt innerhalb kürzester Zeit Kultstatus. Der Protagonist, Kommissar Berghammer, ist das Paradebeispiel eines skurrilen Ermittlers, der in der bayerischen Provinz wirkt. Wie sein Allgäuer Kollege Kluftinger, den das Autorenduo Klüpfel/Kobr 2003 zum ersten Mal ermitteln ließ, ist er in seinem Wohnort bestens integriert – ein Insider, der die Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Kirche genau durchschaut. Eine Besonderheit des Provinzkrimis besteht darin, dass die Ermittler so gut wie nie von Außerhalb kommen, sondern „Hiesige“ sind: Jörg Maurers föhngeplagter Kommissar Hubertus Jennerwein genauso wie Nicola Förgs Garmischer Kommissarinnen-Duo Irmi Mangold und Kathi Reindl. Sie alle  haben ganz spezielle Gewohnheiten und lieben ganz bestimmte Speisen – bei der Krimiautorin Rita Falk prägen diese bereits die Titel ihrer Bücher: Winterkartoffelknödel, Dampfnudelblues, Schweinskopf al dente, Grießnockerlaffäre und Sauerkrautkoma. Eine weitere Gemeinsamkeit der bayerischen Kriminalromane, -geschichten und -filme besteht darin, dass Spießigkeit zu Skurrilität wird. Verschrobenheit bewährt sich als Handlungselement – dadurch wird eine gewisse Verwandtschaft zu den Klassikern der Kriminalliteratur, den amerikanischen „Lonesome Heroes“ à la Philip Marlowe hergestellt.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt

Sekundärliteratur:

Bachmann, Christoph: Kriminalfälle (19./20. Jahrhundert). In: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_46390, (25.02.2014).

Stöcker-Gietl, Isolde (2020): Auf den Spuren des Todes. Wahre Verbrechen in Ostbayern. MZ-Buchverlag, Regenstauf.

Quellen:

E.T.A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1969.

– : Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papier des Bruders Medardus eines Kapuziners. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2000.

Robert Hültner: Tödliches Bayern. Kriminalfälle aus zwei Jahrhunderten. btb Verlag, München 2013.

Volker Klüpfel & Michael Kobr: Milchgeld. Kluftingers erster Fall. Piper Verlag, München 2005.

Jörg Maurer: Föhnlage. Alpenkrimi. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009.

Andrea Maria Schenkel: Tannöd. btb Verlag, München 2008.

Friederike Schmöe: Januskopf. Katinka Palfys sechster Fall. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2007.

Martin Sperr: Bayerische Trilogie (Jagdszenen aus Niederbayern). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972.

Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes Verlag, Zürich 1985.

Sabine Thomas: Tatort Ammersee. Krimis aus dem Fünf-Seen-Land. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2008.

– : Tod am Starnberger See. Krimis aus dem Fünf-Seen-Land. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2010.

– : Tod am Tegernsee. Kriminalgeschichten vom Tegernseer Tal. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2011.

Tatort Oberpfalz. 10 Kriminalgeschichten. ars vivendi verlag, Cadolzburg 2013.

Gunna Wendt: Gnadenlos an das Gute glauben. Gespräch mit Jörg Maurer. Münchner Feuilleton, März 2013.

– : Ruth Drexel. Eine Frau mit Eigensinn. Langen Müller Verlag, München 2014.

Heinz von Wilk: Chiemsee-Cowboys. Oberbayern-Krimi. Emons Verlag, Köln 2014.



https://www.literaturportal-bayern.de/images/lpbthemes/2015/klein/crime_Hinterkaifeck-Marterl_164.jpg
Marterl bei Hinterkaifeck, in unmittelbarer Nähe des Tatortes errichtet. Die Inschrift lautet: "Gottloser Mörderhand fiel am 31. März 1922 die Familie Gabriel-Gruber von hier zum Opfer", gefolgt von den Namen und Geburtsjahren der Opfer.
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