Dekoloniale Indienbilder bei Christine Wunnicke und Christopher Kloeble

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Vermählung von Siva und Parvati. Flachrelief aus den Höhlen von Elephanta, 1863.

Gleich den eben erwähnten Autor*innen wird bei Schriftsteller*innen wie Ilja Trojanow (*1965), Christine Wunnicke (*1966) und Christopher Kloeble (*1982) ein neues Indienbild ermöglicht, indem wir es – anders als zumeist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – mit europäischen Protagonist*innen zu tun haben, die auf indischem Boden Fuß setzen. Diese interkulturelle Literatur hebt sich insofern von der zuvor genannten ab, als die Interkulturalität zwischen den Figuren entsteht, nicht nur zwischen Autor*in und Erzählstoff. Des Weiteren nimmt das Erzählen hier postkolonialen Charakter an. Oft spielen diese Romane nicht nur im kolonialen Kontext, sondern verhandeln dezidiert die vorherrschenden Machtverhältnisse und laufen so weniger Gefahr, gebieterische oder romantische Indienbilder zu bedienen.

Zu einer Vertreterin der Kategorie dekolonialer Indienbilder könnte man, zumindest teilweise, die Münchner Autorin Wunnicke zählen. Ihr renommierter Roman Die Dame mit der bemalten Hand (2020) bringt die Leser*innen nach Elephanta, eine Insel vor Mumbai. Im Jahre 1764 begegnen sich dort der Forscher Carsten Niebuhr aus Bremen und Meister Musa, ein persischer Astrolabienbauer aus Jaipur. Wie bei Kloeble und Trojanow begegnet uns hier, zumindest bei Niebuhr, eine historische Persönlichkeit. Und wie in den anderen Beispielen haben wir es mit einem europäischen Protagonisten zu tun, durch dessen Augen Indien wahrgenommen wird. In gewisser Weise ist es nicht nur ein Nicht-Inder, sondern zwei, zumal auch Musa als persischer Muslim sich zu Indien – wenn auch nicht genauso wie Niebuhr – distanziert fühlt. Durch die Perspektive dieser Figuren gelingt es der Autorin, die Erfahrung des Fremden, immer auch als solche darzustellen, ohne sich ihrer dabei falsch anzueignen oder zu riskieren, sich in Klischees zu verheddern. Selbst wenn es beispielsweise heißt: „Die Inder hatten es nicht mit der Zeit“ (Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. Berlin 2021, S. 44); oder „Inder beten zu allem.“ (Ebd., S. 89.)

Wie auch bei den anderen Beispielen eröffnet dies einen Raum für das Zwischen und seinen Erfahrungen samt Gemeinsamkeiten und Unterschieden, mit all ihren Miss-, Un- und Verständnissen. Einen Raum, der durch das Aufeinandertreffen der Kulturen entsteht, der europäischen, deutschen, indischen und arabischen. Die Engländer tragen chinesische Hüte, eine indische Eingeborene ist französisch gekleidet. Der gleiche Meister Musa, der Niebuhr das Fernrohr entwendet und falsch herum hineinblickt, kleidet dies in folgende Worte: „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.“ (Ebd., S. 124.)

Wie zum Beispiel die Engländer in einer Wandfigur der Höhle auf Elephanta König Sulayman zu erblicken vermeinen. Alles ist eine Frage der Perspektive, des Blickes. Das zweite Kapitel erzählt von Niebuhrs biblischem Hintergrund und seinem Lehrer, Professor Michaelis, der zwar als Experte gilt, selbst aber nie in Arabien oder Indien war. Der Blick, der gleichermaßen für viele Romantiker und spätere deutschsprachige Autor*innen gilt, wird hier entlarvt. An anderer Stelle werden das romantische Indienbild und Niebhurs kuratorische Ambitionen dadurch unterwandert, dass er eigentlich nicht sonderlich von Indien begeistert ist. Während zwischen Meister Musa und Niebuhr eine gewisse Geistesverwandtschaft zu spüren ist, offenbart sich mit Erscheinen der Engländer, wie limitiert hingegen die koloniale Sichtweise ist.

In Kloebles Roman Das Museum der Welt (2020) wird das dekoloniale Indienbild noch deutlicher. Unter anderem, weil Wunnickes Roman, trotz der weitreichenden Erzählungen der Figuren, auf einer Insel situiert bleibt, Kloebles Text dagegen das Land bis in den Himalaya durchstreift. Kloeble wurde in Königsdorf geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend um und in Bad Tölz. Heute lebt der Schriftsteller und Drehbuchautor in Berlin und Indien, was ihn bereits biografisch in die Nähe des Erzählstoffes bringt. Der Roman erzählt von den bayerischen Gebrüdern Schlagintweit und ihrer Forschungsreise nach Indien im Jahre 1854. Auf ihrer von Alexander von Humboldt (1769-1859) protegierten Expedition werden sie von Bartholomäus unterstützt, einem indischen Waisenjungen und Übersetzer aus Bombay. Auch hier öffnen sich Zwischenräume, flankiert von Differenzen und Entsprechungen. Zum Beispiel wird Adolph Schlagintweit über den Roman hinweg indianisiert. Vor allen Dingen aber Bartholomäus ist eine Figur des Da-zwischen. Wie indisch ist er, der einen deutschen Namen trägt, Deutsch spricht und unter Deutschen aufgewachsen ist? Diese Frage wird spätestens dann beantwortet, wenn er herausfindet, dass er einen deutschen Vater hat, einen Hannoveraner. Wir haben es hier also mit einem Erzähler aus dem Zwischen zu tun, ähnlich wie in Rudyard Kiplings (1865-1936) Kim (1901). Einem Erzähler, dem gewahr wird, dass es einfacher ist, „nur eine Sache zu sein.“ (Christopher Kloeble: Das Museum der Welt. München 2020, S. 453.)

Man könnte Bartholomäus' Frage auch so stellen: Wie kolonisiert ist er bereits? Die koloniale wie missionierende Perspektive wird deutlich thematisiert. Zum Beispiel, wenn es von Seiten Hermann Schlagintweits heißt: „Dieser Eingeborene und wir haben verschwindend wenig gemein“. (Ebd., S. 158.) Oder, wenn er gleich darauf von der „Rasse der Weißen“ spricht. Der Generalgouverneur James Broun-Ramsay will aus Indien eine „Zivilisation“ machen. (Ebd., S. 191.) Selbst die Opiumkriege werden von der naiven Erzählstimme des Jungen erwähnt. Die koloniale Debatte gewinnt im Laufe des Romans zunehmend an Tiefe, bis sich Bartholomäus gegen Ende sogar entscheiden muss, wem er seine Treue schwört: den Schlagintweits oder der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Dabei wird die Mannigfaltigkeit Indiens nicht wie in vielen früheren Literaturen übergangen, im Gegenteil, sie wird betont, gelegentlich in concreto: „Wir sind eine Gruppe aus Firingi, Sikhs, Moslems, Hindus, die unterschiedlich aussehen, unterschiedliche Sprachen sprechen und zu unterschiedlichen Göttern beten.“ (Ebd., S. 399.) Eleazar, der Name, den sich Bartholomäus zum Schluss der Geschichte gibt, zeugt in gleicher Weise von der Vielfalt wie Widersprüchlichkeit Indiens.

Das Besondere an diesem Protagonisten ist, dass er – anders als etwa in Trojanows Roman Der Weltensammler (2006) – im kolonialen Kontext aus der Sichtweise eines (Halb-)Inders erzählt (Wunnickes Roman nimmt kapitelweise Meister Musas Perspektive ein, allerdings sieht er sich nicht als Inder). Selbst die Tatsache, dass Kloeble kein Glossar für die indischen Wörter verwendet, wie ihm vorgeworfen wurde, kann als Teil des dekolonialen Indienbildes verstanden werden, da es das Fremde fremd sein lässt, ohne es stetig erklären zu müssen.

Diese dekolonialen Bilder unterscheiden sich von der nächsten Kategorie, da sie allesamt geschichtliche Annäherung darstellen. So rechercheintensiv sie auch sein mögen, bietet diese Herangehensweise eine gewisse Sicherheit. Denn sie ist insofern paritätisch, als alle Autor*innen – egal, ob indischer oder anderer Herkunft – sich mit der gleichen Zeitdistanz konfrontiert sehen und somit der gleichen Ausgangslage. Zumindest ist dies bei größeren Zeitabständen der Fall. Die kulturelle Nähe zu einem, sagen wir, mittelalterlichen Stoff ist dann nur noch ein geringer Vorteil, da der gesellschaftliche Wandel über die Jahrhunderte oft zu groß ist, direkte Erfahrungen damit zumeist nicht mehr in Verbindung stehen. Die nächsten Dichter*innen wagen sich in die Gegenwart.

Verfasst von: Dr. Krisha Kops

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Der Mathematiker, Kartograf und Forschungsreisende Carsten Niebuhr während seiner Arabischen Reise, 1761/67.
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