„Das Hotel“. Von Jan Himmelfarb
Jan Himmelfarb, geboren 1985 in Charkiw, zog im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach Deutschland ins Ruhrgebiet. Schon in seiner Schulzeit schrieb er Gedichte und kürzere Geschichten. Nach dem Abitur studierte er Betriebswirtschaftslehre, beschloss aber gleichzeitig, Schriftsteller zu werden. Seit 2009 ist er für ein internationales Industrieunternehmen tätig. 2015 erschien sein Debütroman Sterndeutung bei C.H. Beck München. Er erzählt das Schicksal und das Leben mit der Erinnerung einer jüdischen Familie aus Charkiw, die den Holocaust überlebte und in den 1990er-Jahren nach Deutschland einwanderte. Jan Himmelfarb lebt, wenn er nicht unterwegs ist, in Bochum, und arbeitet gerade an seinem zweiten Roman. Der folgende Text ist ein unveröffentlichtes Romankapitel über einen professionellen Schachspieler mit doppelter Staatsbürgerschaft, der zu einem Turnier in die Ukraine aufbricht und festgehalten wird, nachdem der Krieg dort ausgebrochen ist.
Audio (Lesung):
*
Das Hotel
Das Hotel liegt an der Ausfallstraße, über die ich zweimal gefahren bin – einmal auf der Flucht nach Westen und einmal zurück, noch immer flüchtend. Hier, zwischen Minimarkt, Zahnarzt mit grünem Schild und lauter mehrstöckigen Wohnhäusern schien es mir sicherer als im Stadtzentrum von Lwow. Vier Sterne weist das Hotel aus, doch im Zimmer gibt es nur zwei Steckdosen, die Matratze so durchgelegen, dass Beine und Arme sich nicht zugehörig fühlen, beige Tapeten, ein graugrüner dünnhäutiger Teppich, die Gardinen zu schmal, um von der Welt abzuschirmen. Der Übernachtungspreis an die Umstände angepasst, so die Rezeptionistin. Um das Fünffache, schätze ich mal. Aber das Internet funktioniert und solange ich Nachrichten lesen, Gedanken fassen, existieren darf, beklage ich mich nicht. Aus den zwei Steckdosen fließt zuverlässig Strom, die Heizung läuft, das Bett steht, die Kreditkarte wird akzeptiert und das Frühstück zubereitet, Brot, Butter, Käse, Spiegeleier, Obst. Ich habe auf Englisch nach Tee gefragt und einen verwunderten Blick geerntet. Besser so als einen feindseligen Blick wie beim Check-In, als ich die Rezeptionistin auf Russisch angeredet hatte – vielleicht der Zimmerpreis deshalb überhöht und nicht schlichter Raffgier wegen.
Marina schickt Mails an das deutsche Generalkonsulat, die ukrainische Botschaft, den Deutschen Schachbund, den Deutschen Olympischen Sportbund, ruft den Bürgermeister an, der sich schon mal hat mit mir ablichten lassen, und überlegt sogar, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Der Inhalt ihrer Mails und Anrufe: Es müsse ein Missverständnis vorliegen, das Schicksal eines herausragenden Sportlers stehe auf dem Spiel. Man solle bei den Ukrainern intervenieren und ein Dokument ausstellen, das meine Unentbehrlichkeit für das deutsche Schach, den Sport in Deutschland überhaupt, bezeuge.
Warum ich selbst nicht diese Mails schreibe und Anrufe tätige: weil ich unschlüssig bin, ob wirklich ein Missverständnis vorliegt. Bin ich ein herausragender Sportler? Ein deutscher dazu? Ich dachte immer, ich sei bloß ein Jude, und jetzt behaupten die einen, ich sei Ukrainer, und die anderen, ich sei Deutscher. Und wenn es heißt: Unentbehrlich – wodurch und für wen? Für meine Frau und meine Tochter vielleicht – aber für das deutsche Generalkonsulat? Den Bürgermeister?
Marina will, dass ich, bis eine Lösung gefunden ist, in die Karpaten weiterreise. Sie hat schon ein Hotel ausgesucht und mir den Link geschickt. Sauna, Spa und Zugang zum Skigebiet inklusive, so steht es noch immer auf der Website. Schneeflocken rieseln durchs Bild, Schneegarantie!, prangt da in blauen Lettern. Vielleicht hat sich der Webmaster bei der Territorialverteidigung eingeschrieben, oder sie führen den Betrieb tatsächlich fort und lassen die Schneekanonen laufen. In Transkarpatien, zwischen Bergen und Dörfern, sei es sicherer als in Lwow, meint Marina, da kämen die Russen als letztes hin. Ob das Benzin ausreicht, um dorthin zu gelangen, kann nur Onkel Dimas alter Mazda wissen, doch der zweifelt quietschend. Ich will auch nicht mehr alle paar Kilometer an Checkpoints angehalten werden, wie auf der überstürzten Flucht von Charkow nach Lwow geschehen, der ersten wirklichen Flucht meines Lebens. Dutzendfach sind wir angehalten worden von Leuten, die blau-gelbe Armbinden trugen und mit Maschinen- und Jagdgewehren bewaffnet waren, einmal bloß mit Baseballschlägern. Ich habe nur Schachfiguren bei mir, aus Holz, angenehm liegen sie in der Hand, Marinas Geschenk. Also bleibe ich in Lwow, rühre mich nicht weiter vom Fleck, esse mich durch das Menü auf dem Hotelzimmer (Borsch, Oliviersalat, Sandwiches, Vanilleeis). Bei Bombenalarm soll man sich, so die Rezeptionistin, unverzüglich übers Treppenhaus in den Keller begeben. Sie bemühte sich, das ruhig zu sagen, doch offensichtlich ängstigte sie sich vor dem Alarm und dem Keller. Womöglich war auch mir eine gewisse Besorgnis anzusehen, als ich fragte, ob der Keller durch ein funktionstüchtiges Notstromaggregat versorgt werde, ob Wasservorräte angelegt worden seien und Decken auslägen. Ein Notstromaggregat gebe es auf jeden Fall, antwortete sie. Ob's funktionstüchtig sei, wisse sie nicht.
Wie ein paralysiertes Tierchen lese ich ununterbrochen Nachrichten, in der FAZ, der New York Times, dem Guardian, der Nowaja Gaseta. Sie beschreiben den Krieg und er verschwindet nicht. Ich lese vom Krieg und bewege mich nicht vom Fleck. Viele russische Schachspieler wünschen sich in Tweets und Interviews Frieden. Anschließend gehen sie zum nächsten Match, der nächsten Trainingseinheit über, so wie ihre deutschen, indischen, amerikanischen Kollegen auch. Aber der ukrainische Großmeister Artem Kosanenko hat sich als Freiwilliger gemeldet und ist auf chess.com in Soldatenuniform zu sehen. Gerade noch haben wir in Charkow einander gegenübergesessen, am Schachbrett! Vielleicht hätte ich ihn nicht über die Zeit ziehen sollen. Die Stellung völlig ausgeglichen, festgefahren, doch ich brauchte den vollen Punkt – was glaubt man nicht alles, was man braucht, und dann entpuppt es sich als Schall und Rauch und selbst diese letztere Erkenntnis führt nirgendwohin –, ich zog also und zog, bis Kosanenkos Bedenkzeit auslief. Daran erinnere ich mich, aber ich verstehe nicht mehr, warum man gemein zu anderen Menschen sein soll, warum man einen Krieg beginnt oder warum man einem Kind eine Ohrfeige gibt, wie ich es auf dem Hotelflur beobachtet habe. Der Stress, der Druck, weil die Kinder und andere Länder sich nicht dem eigenen Willen beugen, die Gewalt als einziger plausibler Ausweg – ich räsoniere, weil ich nicht weiß, wohin sonst mit den Gedanken.
Vielleicht sollte ich Artem Kosanenko eine Nachricht auf chess.com schicken und mich entschuldigen. Er war ziemlich aufgebracht gewesen ob meines faulen Sieges, hatte auf Russisch etwas von Ehre und Anstand gemurmelt und dass die manchen fehlten.
Vielleicht so: Lieber Artem, es tut mir leid, du hättest das Unentschieden verdient gehabt. Bist du wirklich an der Front, hast die Welt des Geistes, der präzisen Variantenberechnung, der stummen Schachfiguren (aber zu uns reden sie ja!) verlassen und gegen unkalkulierbare Flugbahnen metallener und mit Sprengstoff gefüllter Geschosse eingetauscht? Auch ich bin in der Ukraine, bin von Charkow nach Lwow, von Osten nach Westen gefahren, und in einem Hotel gestrandet. Man lässt mich nicht aus dem Land, stell dir das vor, weil ich in den Augen der Ukrainer, durch die Brille ihrer Datenbanken aus betrachtet, ein wehrhafter Staatsbürger bin.
Am 20. Februar kam ich in diesem Land an. Das ist, unbegreiflicherweise, erst acht Tage her, weil heute der 28. Februar ist. In sechs Tagen erschuf Gott die Welt, am siebten Tag ruhte alles, am achten Tag begann der Krieg.
Aber am 20. Februar hatte ich die Schöpfungsgeschichte noch nicht ganz durchdrungen. Ich bin kein besonders politischer Mensch. Natürlich wusste ich, als ich aufbrach, dass westliche Diplomaten aus der Ukraine auszureisen begannen. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Die Diplomaten würden ja in der Heimat weiterbezahlt. Überhaupt Befürchtungen, Beschwichtigungen, Spekulationen allenthalben, nur das Bronstein-Memorial in Charkow schien real – das, jedenfalls für mich, bedeutendste Schachturnier des in unabsehbare Länge gezogenen zweiten Corona-Winters.
Der Charkower Flughafen kam mir vertraut vor, wahrscheinlich, weil die Bedienung im Café nett lächelte und auf Russisch abrechnete. Beim Taxifahrer erkundigte ich mich nach der Fahrtdauer, als hätte ich kein Google Maps, nach der Wettervorhersage, als hätte ich keine Wetter-App, nach Restaurantempfehlungen, als hätte ich kein TripAdvisor, so sehr genoss ich es, im Taxi meine Muttersprache zu entfalten. Wir passierten Vororte mit abblätternden Fassaden, Ziegelsteine mehrstöckig aufgetürmt, grau in grau, braun in braun, geduckte Garagen, Holzhäuschen, mit Sinn fürs Notwendige erbaut und so hässlich, dass es mir beinahe leidtat. Vielleicht war seit unserer Auswanderung vor dreißig Jahren alles noch schlechter geworden. Oder aber ich sah alles wirklich zum ersten Mal, weil das Kind sich nicht für Architektur, Sauberkeit auf den Straßen, den Verfall ganzer Straßenzüge interessiert hatte.
Doch allmählich, da wir uns dem Stadtzentrum näherten, reckten die Häuser sich allmählich empor, tauchten sanierte, verzierte Bauten auf, und es wurde fast schön. Direkt gegenüber dem Hotel, auf dem Platz der Verfassung, standen zwei Panzer. Sie stehen wohl immer noch da, denn wenn sie von einer russischen Granate getroffen worden wären, hätte ich das bestimmt in den Nachrichten gelesen, von wegen, Russen zerstören sowjetische Ausstellungsstücke. Ich selbst habe nur mit den Knöcheln gegen den dunkelgrünen Stahl geklopft. Dann lief ich über die Sumskaja Straße nach Norden, am Schewtschenko-Park und Dichter-Denkmal vorüber, langte am riesigen Freiheitsplatz an. Große Autos, schmucke Fassaden, schicke Schaufenster, ungeachtet des unfreundlichen Wetters geschäftige Menschen – plötzlich empfand ich so etwas wie Stolz auf meine wiedergefundene Geburtsstadt, obwohl ich zu dieser Pracht nichts beigetragen hatte – oder vielleicht doch, durch EU-Gelder, hier genutzt und ein wenig veruntreut. Was freilich, acht Tage später, keine Rolle mehr spielt.
Bei jenem ersten Spaziergang vermochten sich meine Kindheitserinnerungen nicht an die prunkvollen Bauten und Plätze zu heften, sondern kreisten eher um Spaziergänge, auf denen mein um dreißig Jahre jüngeres Ich Worte von jeder Reklametafel abgelesen hatte, eine Kirmes, zu der es mit Mutter gegangen war, einen Streit mit Großvater, weil es den Gogol-Mogol aufgegessen hatte, ohne zu teilen. Und Schach, Schach vor allem, im Verein, bei Turnieren, zu Hause. Charkow selbst, als Ort, in weite Ferne gerückt, wie weggeschleudert. Doch dann betrat ich den Gorki-Park, sah die Kindereisenbahn still und leer auf dem Abstellgleis stehen und hatte die Fahrten mit Mutter vor Augen. Oder war es andersherum, ich betrat den Park, weil ich mich an die Fahrten erinnerte? Nein, ich hatte nicht meine eigenen Eindrücke mit jenen meiner Tochter im Westfalenpark in Dortmund verwechselt; am Fernsehturm steigt man in die Kleinbahn, mehrere Spielplätze, der See, das Rosarium ruckeln vorüber, und dann noch einmal und noch einmal, in einem eigenen Waggon, das ist Noemi wichtig, und wenn wir etwa Gefahr laufen, die Bank mit jemandem teilen zu müssen, fährt sie lieber gar nicht mit, gehen wir zu Fuß den Rosenweg entlang und vergraben unsere Nasen in den Blüten. Aber der Gorki-Park roch anders und sprach anders zu mir. Februarnass, unwirtlich sagte er: Ja, aus Charkow kommst du.
Denn nichts anderes konnte es bedeuten, dort mit der Kindereisenbahn gefahren zu sein.
Vielleicht sollte ich Artem Kosanenko wirklich schreiben. Obwohl die einzigen Worte, die wir zuvor gewechselt haben (beziehungsweise ich von ihm gehört habe), von Ehre und Anstand handelten, könnte er derjenige sein, der mich am ehesten versteht. Weil er Schach spielt, weil er dem Spiel und allem anderen, was ihm ehedem das Leben bedeuten mochte, abgeschworen und eine Soldatenuniform angezogen hat. Ob er sich erinnert, wie scheinbar unbekümmert die Leute noch am 20. Februar durch die Straßen schlenderten? Sie gingen den gewöhnlichsten Geschäften nach, ich selbst unter ihnen. Auf der Sumskaja betrat ich einen Buchladen und fragte nach Büchern von Swetlana Alexijewitsch. Die Verkäuferin erwiderte auf Russisch, sie führten nur Bücher auf Ukrainisch und Englisch. Ich verließ den Laden und lief weiter. Alle 20 Meter hing in der Straßenmitte unter Stromkabeln die blau-gelbe Flagge. Ich nahm dies nicht bloß als eine angenehme Farbenkombination wahr, wie auf einer Blumenwiese, sondern dachte, dass ich das Bronstein-Memorial gewinnen muss, weil's meine Heimat, meine Stadt, mein Turnier ist. Mich in den Turnier-, ja, in den Stadtannalen verewigen! Selbst wenn die Turnierberichte und Partieaufzeichnungen einstmals verloren gehen sollten oder niemand mehr existierte, um sie zu lesen und die Partien nachzuspielen, selbst wenn die zehntausend Euro Preisgeld und die tausend Euro Antrittsgeld den Lauf allen Geldes nähmen und ausgegeben würden – der Triumph von Charkow bliebe.
Ununterbrochen lese ich Kriegsnachrichten. Bilder von angeblich russischen Hubschraubern über dem abgedunkelten Kiew, russischen Panzern vor Charkow. Aber das sind nur Pixel auf dem Smartphone, es könnte sich auch um Hubschrauber über dem nächtlichen Tripolis von vor zehn Jahren handeln. In Wahrheit ist der Krieg mir verborgen. Die russische Armee rückt vor, heißt es. Aber was genau bedeutet das, wie genau machen die Russen das? Und wie wehren sich die Ukrainer dagegen? Und warum kehren meine Gedanken unentwegt zu dem begonnenen, nicht beendeten Schachturnier zurück? Ich bin frei, durch Onkel Dimas Mazda, durch eine funktionierende Kreditkarte, durch den Umstand, dass ich wahrscheinlich, hoffentlich, nicht zur ukrainischen Armee eingezogen werde, weil ich nie eine Waffe in der Hand gehalten und, darüber hinaus, keine feste Adresse habe, sodass ich kaum ausfindig gemacht werden kann – frei bin ich, grenzwertig frei in den Grenzen dieses Landes, das, womöglich, in Abhängigkeit von der jeweils verwendeten Definition, meine Heimat ist.
© Jan Himmelfarb
Weitere Kapitel:
Jan Himmelfarb, geboren 1985 in Charkiw, zog im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach Deutschland ins Ruhrgebiet. Schon in seiner Schulzeit schrieb er Gedichte und kürzere Geschichten. Nach dem Abitur studierte er Betriebswirtschaftslehre, beschloss aber gleichzeitig, Schriftsteller zu werden. Seit 2009 ist er für ein internationales Industrieunternehmen tätig. 2015 erschien sein Debütroman Sterndeutung bei C.H. Beck München. Er erzählt das Schicksal und das Leben mit der Erinnerung einer jüdischen Familie aus Charkiw, die den Holocaust überlebte und in den 1990er-Jahren nach Deutschland einwanderte. Jan Himmelfarb lebt, wenn er nicht unterwegs ist, in Bochum, und arbeitet gerade an seinem zweiten Roman. Der folgende Text ist ein unveröffentlichtes Romankapitel über einen professionellen Schachspieler mit doppelter Staatsbürgerschaft, der zu einem Turnier in die Ukraine aufbricht und festgehalten wird, nachdem der Krieg dort ausgebrochen ist.
Audio (Lesung):
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Das Hotel
Das Hotel liegt an der Ausfallstraße, über die ich zweimal gefahren bin – einmal auf der Flucht nach Westen und einmal zurück, noch immer flüchtend. Hier, zwischen Minimarkt, Zahnarzt mit grünem Schild und lauter mehrstöckigen Wohnhäusern schien es mir sicherer als im Stadtzentrum von Lwow. Vier Sterne weist das Hotel aus, doch im Zimmer gibt es nur zwei Steckdosen, die Matratze so durchgelegen, dass Beine und Arme sich nicht zugehörig fühlen, beige Tapeten, ein graugrüner dünnhäutiger Teppich, die Gardinen zu schmal, um von der Welt abzuschirmen. Der Übernachtungspreis an die Umstände angepasst, so die Rezeptionistin. Um das Fünffache, schätze ich mal. Aber das Internet funktioniert und solange ich Nachrichten lesen, Gedanken fassen, existieren darf, beklage ich mich nicht. Aus den zwei Steckdosen fließt zuverlässig Strom, die Heizung läuft, das Bett steht, die Kreditkarte wird akzeptiert und das Frühstück zubereitet, Brot, Butter, Käse, Spiegeleier, Obst. Ich habe auf Englisch nach Tee gefragt und einen verwunderten Blick geerntet. Besser so als einen feindseligen Blick wie beim Check-In, als ich die Rezeptionistin auf Russisch angeredet hatte – vielleicht der Zimmerpreis deshalb überhöht und nicht schlichter Raffgier wegen.
Marina schickt Mails an das deutsche Generalkonsulat, die ukrainische Botschaft, den Deutschen Schachbund, den Deutschen Olympischen Sportbund, ruft den Bürgermeister an, der sich schon mal hat mit mir ablichten lassen, und überlegt sogar, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Der Inhalt ihrer Mails und Anrufe: Es müsse ein Missverständnis vorliegen, das Schicksal eines herausragenden Sportlers stehe auf dem Spiel. Man solle bei den Ukrainern intervenieren und ein Dokument ausstellen, das meine Unentbehrlichkeit für das deutsche Schach, den Sport in Deutschland überhaupt, bezeuge.
Warum ich selbst nicht diese Mails schreibe und Anrufe tätige: weil ich unschlüssig bin, ob wirklich ein Missverständnis vorliegt. Bin ich ein herausragender Sportler? Ein deutscher dazu? Ich dachte immer, ich sei bloß ein Jude, und jetzt behaupten die einen, ich sei Ukrainer, und die anderen, ich sei Deutscher. Und wenn es heißt: Unentbehrlich – wodurch und für wen? Für meine Frau und meine Tochter vielleicht – aber für das deutsche Generalkonsulat? Den Bürgermeister?
Marina will, dass ich, bis eine Lösung gefunden ist, in die Karpaten weiterreise. Sie hat schon ein Hotel ausgesucht und mir den Link geschickt. Sauna, Spa und Zugang zum Skigebiet inklusive, so steht es noch immer auf der Website. Schneeflocken rieseln durchs Bild, Schneegarantie!, prangt da in blauen Lettern. Vielleicht hat sich der Webmaster bei der Territorialverteidigung eingeschrieben, oder sie führen den Betrieb tatsächlich fort und lassen die Schneekanonen laufen. In Transkarpatien, zwischen Bergen und Dörfern, sei es sicherer als in Lwow, meint Marina, da kämen die Russen als letztes hin. Ob das Benzin ausreicht, um dorthin zu gelangen, kann nur Onkel Dimas alter Mazda wissen, doch der zweifelt quietschend. Ich will auch nicht mehr alle paar Kilometer an Checkpoints angehalten werden, wie auf der überstürzten Flucht von Charkow nach Lwow geschehen, der ersten wirklichen Flucht meines Lebens. Dutzendfach sind wir angehalten worden von Leuten, die blau-gelbe Armbinden trugen und mit Maschinen- und Jagdgewehren bewaffnet waren, einmal bloß mit Baseballschlägern. Ich habe nur Schachfiguren bei mir, aus Holz, angenehm liegen sie in der Hand, Marinas Geschenk. Also bleibe ich in Lwow, rühre mich nicht weiter vom Fleck, esse mich durch das Menü auf dem Hotelzimmer (Borsch, Oliviersalat, Sandwiches, Vanilleeis). Bei Bombenalarm soll man sich, so die Rezeptionistin, unverzüglich übers Treppenhaus in den Keller begeben. Sie bemühte sich, das ruhig zu sagen, doch offensichtlich ängstigte sie sich vor dem Alarm und dem Keller. Womöglich war auch mir eine gewisse Besorgnis anzusehen, als ich fragte, ob der Keller durch ein funktionstüchtiges Notstromaggregat versorgt werde, ob Wasservorräte angelegt worden seien und Decken auslägen. Ein Notstromaggregat gebe es auf jeden Fall, antwortete sie. Ob's funktionstüchtig sei, wisse sie nicht.
Wie ein paralysiertes Tierchen lese ich ununterbrochen Nachrichten, in der FAZ, der New York Times, dem Guardian, der Nowaja Gaseta. Sie beschreiben den Krieg und er verschwindet nicht. Ich lese vom Krieg und bewege mich nicht vom Fleck. Viele russische Schachspieler wünschen sich in Tweets und Interviews Frieden. Anschließend gehen sie zum nächsten Match, der nächsten Trainingseinheit über, so wie ihre deutschen, indischen, amerikanischen Kollegen auch. Aber der ukrainische Großmeister Artem Kosanenko hat sich als Freiwilliger gemeldet und ist auf chess.com in Soldatenuniform zu sehen. Gerade noch haben wir in Charkow einander gegenübergesessen, am Schachbrett! Vielleicht hätte ich ihn nicht über die Zeit ziehen sollen. Die Stellung völlig ausgeglichen, festgefahren, doch ich brauchte den vollen Punkt – was glaubt man nicht alles, was man braucht, und dann entpuppt es sich als Schall und Rauch und selbst diese letztere Erkenntnis führt nirgendwohin –, ich zog also und zog, bis Kosanenkos Bedenkzeit auslief. Daran erinnere ich mich, aber ich verstehe nicht mehr, warum man gemein zu anderen Menschen sein soll, warum man einen Krieg beginnt oder warum man einem Kind eine Ohrfeige gibt, wie ich es auf dem Hotelflur beobachtet habe. Der Stress, der Druck, weil die Kinder und andere Länder sich nicht dem eigenen Willen beugen, die Gewalt als einziger plausibler Ausweg – ich räsoniere, weil ich nicht weiß, wohin sonst mit den Gedanken.
Vielleicht sollte ich Artem Kosanenko eine Nachricht auf chess.com schicken und mich entschuldigen. Er war ziemlich aufgebracht gewesen ob meines faulen Sieges, hatte auf Russisch etwas von Ehre und Anstand gemurmelt und dass die manchen fehlten.
Vielleicht so: Lieber Artem, es tut mir leid, du hättest das Unentschieden verdient gehabt. Bist du wirklich an der Front, hast die Welt des Geistes, der präzisen Variantenberechnung, der stummen Schachfiguren (aber zu uns reden sie ja!) verlassen und gegen unkalkulierbare Flugbahnen metallener und mit Sprengstoff gefüllter Geschosse eingetauscht? Auch ich bin in der Ukraine, bin von Charkow nach Lwow, von Osten nach Westen gefahren, und in einem Hotel gestrandet. Man lässt mich nicht aus dem Land, stell dir das vor, weil ich in den Augen der Ukrainer, durch die Brille ihrer Datenbanken aus betrachtet, ein wehrhafter Staatsbürger bin.
Am 20. Februar kam ich in diesem Land an. Das ist, unbegreiflicherweise, erst acht Tage her, weil heute der 28. Februar ist. In sechs Tagen erschuf Gott die Welt, am siebten Tag ruhte alles, am achten Tag begann der Krieg.
Aber am 20. Februar hatte ich die Schöpfungsgeschichte noch nicht ganz durchdrungen. Ich bin kein besonders politischer Mensch. Natürlich wusste ich, als ich aufbrach, dass westliche Diplomaten aus der Ukraine auszureisen begannen. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Die Diplomaten würden ja in der Heimat weiterbezahlt. Überhaupt Befürchtungen, Beschwichtigungen, Spekulationen allenthalben, nur das Bronstein-Memorial in Charkow schien real – das, jedenfalls für mich, bedeutendste Schachturnier des in unabsehbare Länge gezogenen zweiten Corona-Winters.
Der Charkower Flughafen kam mir vertraut vor, wahrscheinlich, weil die Bedienung im Café nett lächelte und auf Russisch abrechnete. Beim Taxifahrer erkundigte ich mich nach der Fahrtdauer, als hätte ich kein Google Maps, nach der Wettervorhersage, als hätte ich keine Wetter-App, nach Restaurantempfehlungen, als hätte ich kein TripAdvisor, so sehr genoss ich es, im Taxi meine Muttersprache zu entfalten. Wir passierten Vororte mit abblätternden Fassaden, Ziegelsteine mehrstöckig aufgetürmt, grau in grau, braun in braun, geduckte Garagen, Holzhäuschen, mit Sinn fürs Notwendige erbaut und so hässlich, dass es mir beinahe leidtat. Vielleicht war seit unserer Auswanderung vor dreißig Jahren alles noch schlechter geworden. Oder aber ich sah alles wirklich zum ersten Mal, weil das Kind sich nicht für Architektur, Sauberkeit auf den Straßen, den Verfall ganzer Straßenzüge interessiert hatte.
Doch allmählich, da wir uns dem Stadtzentrum näherten, reckten die Häuser sich allmählich empor, tauchten sanierte, verzierte Bauten auf, und es wurde fast schön. Direkt gegenüber dem Hotel, auf dem Platz der Verfassung, standen zwei Panzer. Sie stehen wohl immer noch da, denn wenn sie von einer russischen Granate getroffen worden wären, hätte ich das bestimmt in den Nachrichten gelesen, von wegen, Russen zerstören sowjetische Ausstellungsstücke. Ich selbst habe nur mit den Knöcheln gegen den dunkelgrünen Stahl geklopft. Dann lief ich über die Sumskaja Straße nach Norden, am Schewtschenko-Park und Dichter-Denkmal vorüber, langte am riesigen Freiheitsplatz an. Große Autos, schmucke Fassaden, schicke Schaufenster, ungeachtet des unfreundlichen Wetters geschäftige Menschen – plötzlich empfand ich so etwas wie Stolz auf meine wiedergefundene Geburtsstadt, obwohl ich zu dieser Pracht nichts beigetragen hatte – oder vielleicht doch, durch EU-Gelder, hier genutzt und ein wenig veruntreut. Was freilich, acht Tage später, keine Rolle mehr spielt.
Bei jenem ersten Spaziergang vermochten sich meine Kindheitserinnerungen nicht an die prunkvollen Bauten und Plätze zu heften, sondern kreisten eher um Spaziergänge, auf denen mein um dreißig Jahre jüngeres Ich Worte von jeder Reklametafel abgelesen hatte, eine Kirmes, zu der es mit Mutter gegangen war, einen Streit mit Großvater, weil es den Gogol-Mogol aufgegessen hatte, ohne zu teilen. Und Schach, Schach vor allem, im Verein, bei Turnieren, zu Hause. Charkow selbst, als Ort, in weite Ferne gerückt, wie weggeschleudert. Doch dann betrat ich den Gorki-Park, sah die Kindereisenbahn still und leer auf dem Abstellgleis stehen und hatte die Fahrten mit Mutter vor Augen. Oder war es andersherum, ich betrat den Park, weil ich mich an die Fahrten erinnerte? Nein, ich hatte nicht meine eigenen Eindrücke mit jenen meiner Tochter im Westfalenpark in Dortmund verwechselt; am Fernsehturm steigt man in die Kleinbahn, mehrere Spielplätze, der See, das Rosarium ruckeln vorüber, und dann noch einmal und noch einmal, in einem eigenen Waggon, das ist Noemi wichtig, und wenn wir etwa Gefahr laufen, die Bank mit jemandem teilen zu müssen, fährt sie lieber gar nicht mit, gehen wir zu Fuß den Rosenweg entlang und vergraben unsere Nasen in den Blüten. Aber der Gorki-Park roch anders und sprach anders zu mir. Februarnass, unwirtlich sagte er: Ja, aus Charkow kommst du.
Denn nichts anderes konnte es bedeuten, dort mit der Kindereisenbahn gefahren zu sein.
Vielleicht sollte ich Artem Kosanenko wirklich schreiben. Obwohl die einzigen Worte, die wir zuvor gewechselt haben (beziehungsweise ich von ihm gehört habe), von Ehre und Anstand handelten, könnte er derjenige sein, der mich am ehesten versteht. Weil er Schach spielt, weil er dem Spiel und allem anderen, was ihm ehedem das Leben bedeuten mochte, abgeschworen und eine Soldatenuniform angezogen hat. Ob er sich erinnert, wie scheinbar unbekümmert die Leute noch am 20. Februar durch die Straßen schlenderten? Sie gingen den gewöhnlichsten Geschäften nach, ich selbst unter ihnen. Auf der Sumskaja betrat ich einen Buchladen und fragte nach Büchern von Swetlana Alexijewitsch. Die Verkäuferin erwiderte auf Russisch, sie führten nur Bücher auf Ukrainisch und Englisch. Ich verließ den Laden und lief weiter. Alle 20 Meter hing in der Straßenmitte unter Stromkabeln die blau-gelbe Flagge. Ich nahm dies nicht bloß als eine angenehme Farbenkombination wahr, wie auf einer Blumenwiese, sondern dachte, dass ich das Bronstein-Memorial gewinnen muss, weil's meine Heimat, meine Stadt, mein Turnier ist. Mich in den Turnier-, ja, in den Stadtannalen verewigen! Selbst wenn die Turnierberichte und Partieaufzeichnungen einstmals verloren gehen sollten oder niemand mehr existierte, um sie zu lesen und die Partien nachzuspielen, selbst wenn die zehntausend Euro Preisgeld und die tausend Euro Antrittsgeld den Lauf allen Geldes nähmen und ausgegeben würden – der Triumph von Charkow bliebe.
Ununterbrochen lese ich Kriegsnachrichten. Bilder von angeblich russischen Hubschraubern über dem abgedunkelten Kiew, russischen Panzern vor Charkow. Aber das sind nur Pixel auf dem Smartphone, es könnte sich auch um Hubschrauber über dem nächtlichen Tripolis von vor zehn Jahren handeln. In Wahrheit ist der Krieg mir verborgen. Die russische Armee rückt vor, heißt es. Aber was genau bedeutet das, wie genau machen die Russen das? Und wie wehren sich die Ukrainer dagegen? Und warum kehren meine Gedanken unentwegt zu dem begonnenen, nicht beendeten Schachturnier zurück? Ich bin frei, durch Onkel Dimas Mazda, durch eine funktionierende Kreditkarte, durch den Umstand, dass ich wahrscheinlich, hoffentlich, nicht zur ukrainischen Armee eingezogen werde, weil ich nie eine Waffe in der Hand gehalten und, darüber hinaus, keine feste Adresse habe, sodass ich kaum ausfindig gemacht werden kann – frei bin ich, grenzwertig frei in den Grenzen dieses Landes, das, womöglich, in Abhängigkeit von der jeweils verwendeten Definition, meine Heimat ist.
© Jan Himmelfarb