Journalistenromane: gerne gelesen, mehr nicht

Der Selbstversuch zeigt zweierlei: Dass Schriftsteller Schley (Trefferquote 80 Prozent) erheblich besser tippte als Journalist Unger (57 Prozent). Die durchschnittliche Trefferquote von 68,5 Prozent zeigt außerdem, dass es so etwas wie „Journalistenromane“ geben könnte. Gemeint sind Romane, die einander ähneln. Meiner Ansicht nach in folgenden Punkten:

• Das Buch beginnt gern mit einer „ungeheuren Begebenheit“. Etwa Brüder und Schwestern des großen Reporters Birk Meinhardt, wo zwei Freunde ein paar Schweine in den Fluss treiben, ihnen nachspringen und um ein Haar darin ums Leben kommen. Gemäß dem alten Richtwert beim Schreiben von Reportagen: Mit der stärksten Szene ein- und mit der zweistärksten aussteigen.
• Es kracht, spritzt und zischt, damit's nicht langweilig wird. Gewalt, Sex, Elend, Unter- und Parallelwelt gehen immer. Etwa Alexander Gorkows Mona, in dem ein Münchner Spezialist für Kühlkettensysteme sich in Bukarest verliebt. „Eine Begegnung, die ein Blaufeuer der Liebe entfacht, in deren Folge es bedauerlicherweise zu ein paar Leichen kommt“, wie der Verlag nonchalant wirbt.
• Das Buch ist flüssig geschrieben, und das bedeutet: Der Satzbau ist nicht komplex. (Nein, komplexer Satzbau ist kein Qualitätsmerkmal, ich sage nur, wie es ist.)
• Das Buch ist gekonnt geplottet: Wenn man es loben möchte, erzählt man am besten die Handlung.
• Es rechnet mit einem Leser, dem man nicht zu viel langen Atem zutraut.
• Sehr häufig sollen Kausalitäten plausibel gemacht, Rätselhaftigkeiten aufgelöst werden.
• Es finden sich wenige riskante Metaphern.
• Es finden sich wenige gelungene Metaphern.
• Der Sprachduktus der Protagonisten charakterisiert diese kaum, und falls doch, karikiert er sie.
• Möchte der Autor das Innenleben seiner Figuren beschreiben, lässt er sie miteinander in Dialog treten und den Leser mithorchen. Die Figuren dürfen sich also selbst erklären.
• Das Lyrische Ich sitzt fest im Sattel.

Wenn Sie jetzt denken: Das sind doch nicht unbedingt Mängel, dann gebe ich Ihnen recht. Einige dieser Merkmale tauchen auch in Meisterwerken auf, ein paar davon von ihnen sind sogar Tugenden. Ich behaupte nur, dass diese Merkmale in Journalistenromanen so häufig vorkommen, dass diese einander ähneln.

Was können diese Romane? Sie bringen den Lesern Milieus und Zeiten nahe, erzählen von den Leiden, Sehnsüchten, Denkweisen, Gefühlen und Seinszwängen ihrer Protagonisten, erweitern den Horizont. Weil sie sich selbst erklären, sind sie gut verständlich. Ich habe sie gerne gelesen. Aber genau darin liegt das Problem. Einen Text „gerne gelesen“ zu haben, das ist unter Journalisten die schlappste Form der Anerkennung, ein läppisches Wohlwollen, beinahe herablassend. Man verwendet die Wendung so, wie man einen früher einen unauffälligen Mitschüler, in Ermangelung eines charakteristischeren Lobes, „freundlich und hilfsbereit“ nannte.

Verfasst von: Andreas Unger

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Alexander Gorkow: Mona. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, Cover (c) Kiepenheuer & Witsch
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