Die Gleichgültigkeit
„Immer wenn ich verloren oder fast verloren bin, erzähle ich mir die Geschichte meiner Verlorenheit, und das geht so. Erst frage ich mich, ob ich sie hören will, und gähne und sage mir: Nein! aber dann überzeuge ich mich, dass ich sie, weil es sonst keinen Ausweg gibt, hören muss. Also still jetzt! Also soll ich? Und fange also an.“
(Auf dem Turm)
Die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers gilt den Ereignissen, die sich um einen Turm ranken. Aus der nächtlichen Selbsterzählung entsteht der Roman Auf dem Turm (1993): Ein Mann reist mit seiner Frau durch Sizilien. Er nähert sich einem Turm. Sein Weg dorthin verläuft in eigenartigem Rhythmus: Anziehung und Abstoßung treiben ihr Spiel mit dem Suchenden. Mal kommt er seinem Ziel nahe, mal scheint er wieder weit davon entfernt.
„Also gut, sage ich, zum Turm! Damit du dir den Turm, an den du seltsamerweise ja wirklich die ganze Zeit denkst, endlich einmal ansiehst und weißt, wie hoch, alt, verfallen etc. er ist. Und dich nicht mehr immerzu fragen musst, warum du an den Turm denkst, sondern dann hast du ihn leibhaftig vor und dann gleich hinter dir.“
(Auf dem Turm)
Der Kustode, Herr Hans, bietet an, den beiden Reisenden die Welt zu erklären. Sie meinen, die Welt zu kennen, aber Herr Hans lässt das nicht gelten und richtet die Aufmerksamkeit auf das kommende Geschehen, bei dem ein Junge, Mimiddu, der Hauptakteur sein wird. Er vollzieht seinen Tanz in schwindelnder Höhe auf dem Turm vor einer Gruppe von Zuschauern. Jeder weiß, dass niemand seinen Tanz sehen will, sondern alle auf seinen Tod warten. Das anschließende Entsetzen ist ein eingeübtes Ritual und dient der Gewissenshygiene.
„Und da, beim Anblick der stygischen Gestalten, durch die Ahnung der Nacht, die kommt, wird mir, zu meinem unaussprechlichem Entsetzen, klar, dass in D., an diesem schwülen Abend, alles auf eine eindrucksvolle, vielleicht erschütternde, womöglich künstlerische Vorführung des Todes, auf eine Todesnummer hofft. Jawohl, alles hofft, seien wir ehrlich, dass der Junge nicht tanzt, sondern springt.“
(Auf dem Turm)
Der Reisende verpasst den Moment, in dem er hätte eingreifen können -- vielleicht ist es derselbe Moment, in dem der Junge den Sprung und damit die Opferrolle hätte verweigern können. Vielleicht hätte ein Treffen der beiden Augenpaare die Bewegung aufhalten können. Doch der Reisende gähnt zu dem Jungen hinauf und vergrößert damit noch dessen Einsamkeit. Und nach dem Sprung dann Ekel, Scham, Reue und allen voran der Versuch, das Geschehene umzudeuten, um es damit beinahe ungeschehen zu machen.
„Der entsetzliche Ausgang, rufe ich, und breite die Arme aus, war ja nicht vorauszusehen. Der Junge war, sage ich, ein Künstler, der gestürzt ist, als er oben hat tanzen wollen und dabei einen falschen Schritt getan hat, ich habe es gesehen.“
(Auf dem Turm)
Wie ein Mensch unter Schock versucht der Ich-Erzähler das Geschehene ungeschehen zu machen, die Zeit zurückzudrehen, vielleicht nur eine Sekunde. Mit seinem Neuanfang beginnt er dort, wo Mimiddu herabgesehen und auf ein Zeichen der Erlösung gewartet hat. Die Augen des Reisenden hätten ihm signalisieren können, nicht zu springen. Der Reisende hätte sich erheben und mit lauter Stimme dem touristischen Blutopfer Einhalt gebieten können. Stattdessen verharrt er in der Kollektivhypnose des Publikums und vergibt die Chance, ein einzelner Handelnder zu werden.
Weitere Kapitel:
„Immer wenn ich verloren oder fast verloren bin, erzähle ich mir die Geschichte meiner Verlorenheit, und das geht so. Erst frage ich mich, ob ich sie hören will, und gähne und sage mir: Nein! aber dann überzeuge ich mich, dass ich sie, weil es sonst keinen Ausweg gibt, hören muss. Also still jetzt! Also soll ich? Und fange also an.“
(Auf dem Turm)
Die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers gilt den Ereignissen, die sich um einen Turm ranken. Aus der nächtlichen Selbsterzählung entsteht der Roman Auf dem Turm (1993): Ein Mann reist mit seiner Frau durch Sizilien. Er nähert sich einem Turm. Sein Weg dorthin verläuft in eigenartigem Rhythmus: Anziehung und Abstoßung treiben ihr Spiel mit dem Suchenden. Mal kommt er seinem Ziel nahe, mal scheint er wieder weit davon entfernt.
„Also gut, sage ich, zum Turm! Damit du dir den Turm, an den du seltsamerweise ja wirklich die ganze Zeit denkst, endlich einmal ansiehst und weißt, wie hoch, alt, verfallen etc. er ist. Und dich nicht mehr immerzu fragen musst, warum du an den Turm denkst, sondern dann hast du ihn leibhaftig vor und dann gleich hinter dir.“
(Auf dem Turm)
Der Kustode, Herr Hans, bietet an, den beiden Reisenden die Welt zu erklären. Sie meinen, die Welt zu kennen, aber Herr Hans lässt das nicht gelten und richtet die Aufmerksamkeit auf das kommende Geschehen, bei dem ein Junge, Mimiddu, der Hauptakteur sein wird. Er vollzieht seinen Tanz in schwindelnder Höhe auf dem Turm vor einer Gruppe von Zuschauern. Jeder weiß, dass niemand seinen Tanz sehen will, sondern alle auf seinen Tod warten. Das anschließende Entsetzen ist ein eingeübtes Ritual und dient der Gewissenshygiene.
„Und da, beim Anblick der stygischen Gestalten, durch die Ahnung der Nacht, die kommt, wird mir, zu meinem unaussprechlichem Entsetzen, klar, dass in D., an diesem schwülen Abend, alles auf eine eindrucksvolle, vielleicht erschütternde, womöglich künstlerische Vorführung des Todes, auf eine Todesnummer hofft. Jawohl, alles hofft, seien wir ehrlich, dass der Junge nicht tanzt, sondern springt.“
(Auf dem Turm)
Der Reisende verpasst den Moment, in dem er hätte eingreifen können -- vielleicht ist es derselbe Moment, in dem der Junge den Sprung und damit die Opferrolle hätte verweigern können. Vielleicht hätte ein Treffen der beiden Augenpaare die Bewegung aufhalten können. Doch der Reisende gähnt zu dem Jungen hinauf und vergrößert damit noch dessen Einsamkeit. Und nach dem Sprung dann Ekel, Scham, Reue und allen voran der Versuch, das Geschehene umzudeuten, um es damit beinahe ungeschehen zu machen.
„Der entsetzliche Ausgang, rufe ich, und breite die Arme aus, war ja nicht vorauszusehen. Der Junge war, sage ich, ein Künstler, der gestürzt ist, als er oben hat tanzen wollen und dabei einen falschen Schritt getan hat, ich habe es gesehen.“
(Auf dem Turm)
Wie ein Mensch unter Schock versucht der Ich-Erzähler das Geschehene ungeschehen zu machen, die Zeit zurückzudrehen, vielleicht nur eine Sekunde. Mit seinem Neuanfang beginnt er dort, wo Mimiddu herabgesehen und auf ein Zeichen der Erlösung gewartet hat. Die Augen des Reisenden hätten ihm signalisieren können, nicht zu springen. Der Reisende hätte sich erheben und mit lauter Stimme dem touristischen Blutopfer Einhalt gebieten können. Stattdessen verharrt er in der Kollektivhypnose des Publikums und vergibt die Chance, ein einzelner Handelnder zu werden.