Traumstadt

Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler aus Alfred Kubins Roman Die andere Seite ist wie der Autor selbst Grafiker, Zeichner und Illustrator. Er lebt mit seiner Frau in München und wird eines Tages mit einem unerwarteten Angebot konfrontiert, das ihm der Agent seines einstigen Schulfreundes Claus Patera unterbreitet. 

Da – es war in München, wo wir damals wohnten – wurde mir an einem nebligen Novembernachmittag der Besuch eines Unbekannten gemeldet.

„Eintreten!“

Der Besucher war – soweit ich im Dämmerlichte unterscheiden konnte – ein Mann von Durchschnittsäußerem, der sich hastig vorstellte: „Franz Gautsch; bitte, kann ich Sie eine halbe Stunde sprechen?“

Ich bejahte, bot dem Herrn einen Stuhl an und ließ Licht und Tee bringen.

„Womit kann ich dienen?“ Und meine anfängliche Gleichgültigkeit wandelte sich erst in Neugier, dann in Erstaunen, als der Fremde ungefähr nachfolgendes erzählte.

Claus Patera sei durch „einen eigentümlichen Zufall“ zu dem „vielleicht größten Vermögen der Welt“ gekommen, habe sein eigenes von einer Mauer umgebenes Reich gegründet, um alles Fortschrittliche fernzuhalten und lade ihn, den namenlosen Protagonisten nun dazu ein, dort zu leben Der Agent versichert: „Der Herr dieses Landes ist weit davon entfernt, eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat schaffen zu wollen.“ Doch falle es ihm schwer, deutlich zu machen, „was Patera mit dem Traumreich eigentlich will“.

Obwohl er anfangs an einen Scherz glaubt, nimmt der Ich-Erzähler die Einladung an, löst seinen Hausstand auf und macht sich mit seiner Frau auf den Weg. Die Stationen sind: „München – Constanza – Barum – Baku – Krasnowodsk – Samarkand“. Nach einer langen anstrengenden Reise erreichen sie Perle, die Hauptstadt des Traumreichs, das in eine permanente Dämmerung getaucht ist. Sie fühlen sich zunächst fehl am Platz, denn sie fallen auf unter den eigentümlich altmodisch gekleideten Bewohnern und erfahren einmal mehr, dass moderne Dinge dort nicht geduldet werden. Doch ihr Widerstand ist nur von kurzer Dauer.

So waren wir nun richtige Traumstädter geworden. Ich musste meinen früher ausgesprochenen Verdacht, hier sei alles wie daheim, jeden Tag unzählige Male zurücknehmen, wenigstens in den ersten Monaten. Später vergaß ich meine Heimat gänzlich. Man gewöhnte sich im Traumland derart an das Unwahrscheinlichste, dass einem nichts mehr auffiel.

Der „Künstlerphilosoph“ und „zeichnende Literat“ Alfred Kubin schrieb seinen einzigen Roman Die andere Seite 1908 innerhalb von zwölf Wochen. Auslöser war eine Schaffenskrise gewesen, in die er durch den Tod seines Vaters gestürzt war. In seiner Selbstbiografie aus dem Jahr 1911 schildert er seine plötzliche Unfähigkeit, eine Zeichnung anzufertigen.

Ich war nicht imstande, zusammenhängende, sinnvolle Striche zu zeichnen. Es war, wie wenn ein vierjähriges Kind zum ersten Mal die Natur abkonterfeien sollte. Diesem neuen Phänomen stand ich erschrocken gegenüber, denn, ich muss es wiederholen, ich war innerlich ganz und gar mit Arbeitsdrang gefüllt. Um nur etwas zu tun und mich zu entlasten, fing ich nun an, selbst eine abenteuerliche Geschichte auszudenken und niederzuschreiben. Und nun strömten mir die Ideen in Überfülle zu, peitschten mich Tag und Nacht zur Arbeit, so dass bereits in zwölf Wochen mein phantastischer Roman Die andere Seite geschrieben war.

Man habe Kubins Roman oft als „als Vorwegnahme der Schrecken des 20. Jahrhunderts gelesen“, heißt es in Katharina Döblers Radioessay „Zwischen Traum und Wirklichkeit“ (Deutschlandradio Kultur, 30.7.2009). „Aber seine seltsam prophetische Eigenschaft scheint doch immer noch zu gelten. Heutzutage könnte man es auch als Kommentar zur Selbstverwirklichung in der Virtualität verstehen.“

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt

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Hüftbild aus Alfred Kubins "Die andere Seite" (4. Aufl.), Druck nach Tuschzeichnung um 1917 (Bayerische Staatsbibliothek/Porträtsammlung).
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