Von Silke Scheuermann
In meinem im Frühjahr veröffentlichten Roman Shanghai Performance habe ich ausführlich das Gegenteil von Heimat beschrieben: die globalisierte Welt. Die Protagonistin Luisa ist die Assistentin der international bekannten Performancekünstlerin Margot Winkraft; das Zweiergespann verbringt viele Monate in fremden Städten. Doch während Margot ihr mobiles Leben genießt, macht Luisa sich durchaus ihre Gedanken, vor allem, seit sich ihr Freund Christopher von ihr getrennt hat – sie sei ja immer unterwegs, wie solle da Zukunft stattfinden, wirft er ihr vor.
Zwei Textabschnitte möchte ich zitieren, die das Problem „Heimat“ dennoch behandeln, sozusagen ex negativo. Einmal ist da der Besuch, den die Ich-Erzählerin Luisa im sehr touristischen Stadtteil Xian Tian Di macht, ein Stadtteil mit nachgemachten Shikumen-Häusern, in denen Chinesinnen in nachgemachten Qipaos Teeservices, Püppchen und Fächer verkaufen. Luisa sagt: „Ich hatte mich an die existenzielle Fremdheit in Shanghai gewöhnt, eine Fremdheit, die vor allem aus meinem Gefühl herrührte, in die Zukunft katapultiert worden zu sein. Aber diese Gegend war mir nicht fremder als die rekonstruierten Bauernhöfe im Schwarzwald in der Gegend, aus der ich kam, als die gusseisernen Töpfe in den engen, dunklen Küchen und die rostigen, unhandlichen Pflüge in den Scheunen. Es war, als wäre der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden plötzlich aufgehoben, weil die Fremde sich in Kuschel-Folklore bei der eigenen Vergangenheit bediente und dabei zu gefallen suchte.“ Heimat, so scheint es meiner Protagonistin, biedert sich nicht an.
An einer anderen Stelle – Luisa hat gerade gehört, dass sie länger in Shanghai bleiben, aus dem Hotel in ein Apartment ziehen soll – versucht sie, sich auf etwas unbeholfene Art und Weise ein Stück „Heimat“ zu schaffen: Sie geht in einen Alldays Supermarkt und sucht ein paar Vorräte zusammen. An der Kasse stellt sie fest, dass sie gekauft hat, was sie immer kauft: Wein, Chips, Niveacreme: „ – mit anderen Worten, ich hatte exakt die Dinge gekauft, die ich auch zu Hause in Frankfurt im Laden um die Ecke geholt hätte, um mich auf einen Abend allein zu Hause vorzubereiten. Auf einmal widerte mich meine Phantasielosigkeit an. Ausgerechnet hier, in dieser Hyper-Metropole, fiel mir nichts anderes ein, als meine ewiggleichen Vorlieben und Abneigungen zu bedienen. Wie hilflos war ich eigentlich meinen Ritualen ausgeliefert, dass mir nichts anderes in den Sinn kam, als eine raubkopierte, amerikanische DVD einzulegen und mich hinter einem Buch zu verschanzen und bei Chips und Weißwein meine üblichen Gewohnheiten weiter zu pflegen. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, meinen Geist zu erweitern, hielt ich ihn in seinen Grenzen – als ob es mir möglich wäre, eine unübersichtliche Welt dadurch wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, dass ich mich wie ein Automat benahm.“
Daraus lässt sich, so meine ich, eventuell ableiten, dass sich Heimat erstens künstlich schaffen lässt durch Konsum. Und zweitens, und hier bin ich mir sicherer: Gewohnheiten schaffen Heimat.
Der Erzählband, an dem ich gerade arbeite, spielt im Frankfurter Osten, quasi bei mir „vor der Haustür“. Luisa kommt darin wieder vor: Jetzt arbeitet sie an der Universität als Kunsthistorikerin und in ihrer Freizeit führt sie den Hund spazieren, der ihr am Ende des Romans quasi als Gruß aus der Fremde mitgegeben wird; sie ist sesshaft geworden, und ihr Zuhause wird durchaus als „Heimat“ vorgestellt.
„Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter, freistehender Einfamilienhäuser und ein einziges Mietshaus, in dem die Leute aus rätselhaften Gründen kommen und gingen – vielleicht hatten sie sich auch irgendwo was gekauft. Im dritten Gebäude, dem weißen Bungalow mit dem verdorrten, von Unkraut überwucherten Kräuterbeet davor, gingen die Rolläden um Punkt sieben Uhr früh hoch, obwohl es Sonntag war. Luisa machte ihre Runde und fing dabei, wie immer mit den Wohnzimmerfenstern zum Garten hinaus an. Benno, der Mischlingshund, lief erwartungsvoll hinter ihr her. Er war gelblich bis auf ein paar schwarze Flecken und mit einem guten Jahr praktisch ausgewachsen. Genauso lange wohnten Luisa und Christopher inzwischen hier.
‘Vor dem Haus ist Stadt, und dahinter beginnt das Land, wir haben beides’, hatte Luisa entzückt gesagt, als sie das Haus, das Christopher von seiner Großmutter geerbt hatte und am liebsten sofort verkauft hätte, zum ersten Mal besichtigt hatten. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Christopher zu überzeugen, das wäre genau das richtige neue Heim für sie. Es war ja wirklich nicht weit bis in die Innenstadt und die lebendigeren Frankfurter Stadtteile wie Bornheim oder das Nordend, wo sie vorher ihre viel zu kleinen Altbauwohnungen gemietet hatten.“
Aber das Idyll hat Grenzen. Ein deutsches Sprichwort sagt: Es kann keiner in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Dieses Böse in der Straße Kuhlmühlgraben wird verkörpert von den Nachbarn Eisen und Emmerich:
„Sie waren immer zu zweit anzutreffen, Herr Eisen und Herr Emmerich, ein homosexuelles, ausgesprochen unattraktives Paar in den Fünfzigern. Beide waren klein, hatten Bierbäuche und Schnauzbärte. Auf ihren Gesichtern leuchteten feine Netze roter Äderchen, ihre Augen waren leer und grausam, und ihre Stimmen unangenehm quäkend. Alle anderen Mieter im Haus am Kuhlmühlgraben 97 hatten Angst vor ihnen.“
Die Beschreibung ihres Äußeren und ihres Alltags gipfelt in der Aussage: „Sie hatten kein nennenswertes Gefühlsleben, das einzig Vitale an ihnen war ihre Bösartigkeit.“
Die anderen Mieter ziehen reihenweise aus dem Haus wieder aus, da sie – wegen Eisen und Emmermann – keine Heimat finden können; sie werden permanent von den selbst ernannten Herrn Blockwarten schikaniert. In dieser Erzählung, die ich „Männer, die pfeifen“ genannt habe, findet zum Schluss poetische Gerechtigkeit statt. Es war mir ein Bedürfnis, sie stattfinden zu lassen, da die Konstatierung des Bösen meines Erachtens pointenlos ist und keine befriedigende Erzählung darstellt. Emmermann dreht am Ende durch, im wahrsten Sinne des Wortes, weil seine Pläne, die bis hin zum Vergiften des störenden Hundes gehen, keinen Erfolg zeitigen und er sich ausgerechnet von einem jungen, hundeliebenden, neuen Nachbarn sexuell angezogen fühlt. Diese Erzählung ist – dies sein ausnahmsweise aus der Werkstatt geplaudert – nach einer wahren Begebenheit entstanden; die echten bösen Nachbarn leben und schikanieren weiter. Im Text konnte ich Gott spielen, einen Gott Zufall, der den Krieg verhindert. In Wirklichkeit hat, leider, auch das Böse seine Heimat, und es verteidigt sie. Unerbittlich. All das macht den Begriff, dieses Wort „Heimat“, für mich so doppelbödig.
Weitere Kapitel:
In meinem im Frühjahr veröffentlichten Roman Shanghai Performance habe ich ausführlich das Gegenteil von Heimat beschrieben: die globalisierte Welt. Die Protagonistin Luisa ist die Assistentin der international bekannten Performancekünstlerin Margot Winkraft; das Zweiergespann verbringt viele Monate in fremden Städten. Doch während Margot ihr mobiles Leben genießt, macht Luisa sich durchaus ihre Gedanken, vor allem, seit sich ihr Freund Christopher von ihr getrennt hat – sie sei ja immer unterwegs, wie solle da Zukunft stattfinden, wirft er ihr vor.
Zwei Textabschnitte möchte ich zitieren, die das Problem „Heimat“ dennoch behandeln, sozusagen ex negativo. Einmal ist da der Besuch, den die Ich-Erzählerin Luisa im sehr touristischen Stadtteil Xian Tian Di macht, ein Stadtteil mit nachgemachten Shikumen-Häusern, in denen Chinesinnen in nachgemachten Qipaos Teeservices, Püppchen und Fächer verkaufen. Luisa sagt: „Ich hatte mich an die existenzielle Fremdheit in Shanghai gewöhnt, eine Fremdheit, die vor allem aus meinem Gefühl herrührte, in die Zukunft katapultiert worden zu sein. Aber diese Gegend war mir nicht fremder als die rekonstruierten Bauernhöfe im Schwarzwald in der Gegend, aus der ich kam, als die gusseisernen Töpfe in den engen, dunklen Küchen und die rostigen, unhandlichen Pflüge in den Scheunen. Es war, als wäre der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden plötzlich aufgehoben, weil die Fremde sich in Kuschel-Folklore bei der eigenen Vergangenheit bediente und dabei zu gefallen suchte.“ Heimat, so scheint es meiner Protagonistin, biedert sich nicht an.
An einer anderen Stelle – Luisa hat gerade gehört, dass sie länger in Shanghai bleiben, aus dem Hotel in ein Apartment ziehen soll – versucht sie, sich auf etwas unbeholfene Art und Weise ein Stück „Heimat“ zu schaffen: Sie geht in einen Alldays Supermarkt und sucht ein paar Vorräte zusammen. An der Kasse stellt sie fest, dass sie gekauft hat, was sie immer kauft: Wein, Chips, Niveacreme: „ – mit anderen Worten, ich hatte exakt die Dinge gekauft, die ich auch zu Hause in Frankfurt im Laden um die Ecke geholt hätte, um mich auf einen Abend allein zu Hause vorzubereiten. Auf einmal widerte mich meine Phantasielosigkeit an. Ausgerechnet hier, in dieser Hyper-Metropole, fiel mir nichts anderes ein, als meine ewiggleichen Vorlieben und Abneigungen zu bedienen. Wie hilflos war ich eigentlich meinen Ritualen ausgeliefert, dass mir nichts anderes in den Sinn kam, als eine raubkopierte, amerikanische DVD einzulegen und mich hinter einem Buch zu verschanzen und bei Chips und Weißwein meine üblichen Gewohnheiten weiter zu pflegen. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, meinen Geist zu erweitern, hielt ich ihn in seinen Grenzen – als ob es mir möglich wäre, eine unübersichtliche Welt dadurch wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, dass ich mich wie ein Automat benahm.“
Daraus lässt sich, so meine ich, eventuell ableiten, dass sich Heimat erstens künstlich schaffen lässt durch Konsum. Und zweitens, und hier bin ich mir sicherer: Gewohnheiten schaffen Heimat.
Der Erzählband, an dem ich gerade arbeite, spielt im Frankfurter Osten, quasi bei mir „vor der Haustür“. Luisa kommt darin wieder vor: Jetzt arbeitet sie an der Universität als Kunsthistorikerin und in ihrer Freizeit führt sie den Hund spazieren, der ihr am Ende des Romans quasi als Gruß aus der Fremde mitgegeben wird; sie ist sesshaft geworden, und ihr Zuhause wird durchaus als „Heimat“ vorgestellt.
„Am Kuhlmühlgraben hieß die letzte noch zum Stadtteil gehörende Straße im Osten, eine lange Reihe gepflegter, freistehender Einfamilienhäuser und ein einziges Mietshaus, in dem die Leute aus rätselhaften Gründen kommen und gingen – vielleicht hatten sie sich auch irgendwo was gekauft. Im dritten Gebäude, dem weißen Bungalow mit dem verdorrten, von Unkraut überwucherten Kräuterbeet davor, gingen die Rolläden um Punkt sieben Uhr früh hoch, obwohl es Sonntag war. Luisa machte ihre Runde und fing dabei, wie immer mit den Wohnzimmerfenstern zum Garten hinaus an. Benno, der Mischlingshund, lief erwartungsvoll hinter ihr her. Er war gelblich bis auf ein paar schwarze Flecken und mit einem guten Jahr praktisch ausgewachsen. Genauso lange wohnten Luisa und Christopher inzwischen hier.
‘Vor dem Haus ist Stadt, und dahinter beginnt das Land, wir haben beides’, hatte Luisa entzückt gesagt, als sie das Haus, das Christopher von seiner Großmutter geerbt hatte und am liebsten sofort verkauft hätte, zum ersten Mal besichtigt hatten. Sie hatte nicht lange gebraucht, um Christopher zu überzeugen, das wäre genau das richtige neue Heim für sie. Es war ja wirklich nicht weit bis in die Innenstadt und die lebendigeren Frankfurter Stadtteile wie Bornheim oder das Nordend, wo sie vorher ihre viel zu kleinen Altbauwohnungen gemietet hatten.“
Aber das Idyll hat Grenzen. Ein deutsches Sprichwort sagt: Es kann keiner in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Dieses Böse in der Straße Kuhlmühlgraben wird verkörpert von den Nachbarn Eisen und Emmerich:
„Sie waren immer zu zweit anzutreffen, Herr Eisen und Herr Emmerich, ein homosexuelles, ausgesprochen unattraktives Paar in den Fünfzigern. Beide waren klein, hatten Bierbäuche und Schnauzbärte. Auf ihren Gesichtern leuchteten feine Netze roter Äderchen, ihre Augen waren leer und grausam, und ihre Stimmen unangenehm quäkend. Alle anderen Mieter im Haus am Kuhlmühlgraben 97 hatten Angst vor ihnen.“
Die Beschreibung ihres Äußeren und ihres Alltags gipfelt in der Aussage: „Sie hatten kein nennenswertes Gefühlsleben, das einzig Vitale an ihnen war ihre Bösartigkeit.“
Die anderen Mieter ziehen reihenweise aus dem Haus wieder aus, da sie – wegen Eisen und Emmermann – keine Heimat finden können; sie werden permanent von den selbst ernannten Herrn Blockwarten schikaniert. In dieser Erzählung, die ich „Männer, die pfeifen“ genannt habe, findet zum Schluss poetische Gerechtigkeit statt. Es war mir ein Bedürfnis, sie stattfinden zu lassen, da die Konstatierung des Bösen meines Erachtens pointenlos ist und keine befriedigende Erzählung darstellt. Emmermann dreht am Ende durch, im wahrsten Sinne des Wortes, weil seine Pläne, die bis hin zum Vergiften des störenden Hundes gehen, keinen Erfolg zeitigen und er sich ausgerechnet von einem jungen, hundeliebenden, neuen Nachbarn sexuell angezogen fühlt. Diese Erzählung ist – dies sein ausnahmsweise aus der Werkstatt geplaudert – nach einer wahren Begebenheit entstanden; die echten bösen Nachbarn leben und schikanieren weiter. Im Text konnte ich Gott spielen, einen Gott Zufall, der den Krieg verhindert. In Wirklichkeit hat, leider, auch das Böse seine Heimat, und es verteidigt sie. Unerbittlich. All das macht den Begriff, dieses Wort „Heimat“, für mich so doppelbödig.