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05.05.2015, 12:30 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte

Die Schriftstellerin Andrea Heuser über eine Welt ohne Pegida

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© Juliane Brückner

Am 9. März fand im Café Lost Weekend eine große Lesung Münchner Autoren statt, bei der das Literaturportal Bayern als Kooperationspartner mitwirkte. Motto des Abends war: „But you’re welcome – eine Initiative gegen Fremdenhass“. Wo sind wir selbst fremd? Wie hängen Fremdsein und Schreiben zusammen? Fragen wie diesen ging vor fast 100 Besuchern eine Reihe namhafter Autoren nach: Steven Uhly, Lena Gorelik, Daniel Jaakov Kühn, Andreas Unger, Sandra Hoffmann, Margarete Moulin, Jürgen Bulla, Katja Huber (der wir auch für Mitschnitt und Nachbearbeitung danken!), Daniel Grohn, Emel Ugurcan, Andrea Heuser und Dagmar Leupold. Es moderierten Maximilian Dorner und Fridolin Schley, für den musikalischen Rahmen sorgte Daniel Grohn.

Wer den Abend verpasst hat – oder ihn auffrischen möchte – kann die Texte im Literaturportal Bayern noch einmal nachlesen und nachhören. Die gesammelten Texte werden im Sommer als Buch im P. Kirchheim Verlag erscheinen. Heute vorab: die Lyrikerin und Romanautorin Andrea Heuser.

 

Schaff Deinen Hintern auf den Mars

Oder: „Mars One“, eine neue Welt ohne Pegida?

von Andrea Heuser

 

Wer wünscht sich manchmal nicht weit, weit fort? Und dazu braucht es nicht einmal Hiobsbotschaften der Superlative wie die jüngsten Terroranschläge in Paris, die einen hilflos das letzte bisschen Schulfranzösisch hervorkramen lassen: „Je suis, je suis …“ Auch nicht die hartnäckige Verzweiflung, die jene blinden Winkel, die Flüchtlingsunterkünfte in unseren Städten und Vorstädten, ausstrahlen. Oder den Umstand, dass die meisten von uns ukrainische, europäische Städte wie Lugansk oder Donesk nicht durch das neugierige Stöbern in Reiseführern entdecken, sondern durch die aktuelle Kriegsberichterstattung. Das junge 21. Jahrhundert, eine geisterhafte Kopie jener längst vergangenen Zeit der Glaubenskriege? Nichts als eine üble Neuauflage der Konflikte um Territorien und Ressourcen? Mag sein. Nur, bereits das ganz banale Alltagskarussell mit sogenannten ‚flexiblen’ Arbeitszeiten, Kinderbetreuungsplatzsuche, Mietpreis- & Lebensmittelpreiserhöhungen, Infekten, Behördenformularen, innerer Desorientierung und burn out-Drohung reicht oftmals schon aus, um, wenn schon kein Transparent vor sich herzutragen, so doch wenigstens mal laut, ganz laut aufschreien zu wollen: „Ich bin dann mal weg!“

Neuanfang – gibt’s das überhaupt? Immerhin, jedes mittelmäßige Technikgerät heutzutage besitzt eine Reset-Taste oder wenigstens die Option auf einen Kaltstart. Und wir?!  

Also, bei mir war neulich wieder so eine Woche, in der ich gerne weit, weit weg gewesen wäre: trotzig verschleppte to do-Listen und Grippesymptome, drängende Arbeitstermine, Watte im Kopf, Konto-Ebbe, durchwachte Nächte am Kinderbett, Streit, verkümmerte Zimmerpflanzen (als Symbol für den eigenen inneren Zustand klar erkannt) – ja, und dann las ich in der FAZ die folgende Überschrift: Himmelfahrtskommando. Das Projekt ‚Mars One’ nimmt Gestalt an: Hundert Menschen wollen zum Roten Planeten, dort leben und – sterben.

Ich nahm die im Widerstand gegen den fortschreitenden Tag lümmelnden Füße vom Küchentisch und setze mich kerzengerade auf. Das war er doch, der Neuanfang! Keine Plot-Zusammenfassung der neuesten Science-Fiction-Serie, keine (Himmel, bewahre!) Satire, sondern der neueste Stand eines von langer Hand geplanten Vorhabens. Ein Bericht, geadelt und autorisiert von einer angesehenen Tageszeitung, der Frankfurter Allgemeinen.

Mehr als 200.000 Interessenten haben sich laut FAZ für dieses Projekt der niederländischen Stiftung „Mars One“ beworben. Für einen Flug zum Mars ohne Rückkehr, der in zehn Jahren, im Jahre 2024/25 stattfinden soll. Wer, fragte ich mich unwillkürlich, wer ist so waghalsig, so verzweifelt, so wissbegierig, so naiv, so einsam, so mutig, so ruhmsüchtig, um solch einen ungeheuren Schritt wirklich zu wagen? Das Problem meiner verkümmerten Zimmerpflanzen jedenfalls schien mir sogleich eine andere Dimension zu bekommen: Was lässt sich auf dem Mars überhaupt anpflanzen?!

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Doch zurück zu den Menschen. Waren es in Douglas Adams' Per Anhalter durch die Galaxis noch Friseure, Unternehmensberater und Versicherungsvertreter, die die Bewohner von Golgafrincham loswerden wollten und die sie daher Richtung Erde schickten, haben sich nun wohl auffallend viele Akademiker für diesen one way-Flug beworben. Die FAZ nennt Juristen und Ärzte, nur sechs der hundert finalen Kandidaten sind arbeitslos. Fünfzig Frauen und Männer, keine Paare. Tatsächlich starten werden zunächst 24 Personen, eingeteilt in sechs Gruppen. Zuvor wird das nötige technische Gerät verschifft. ‚Bio-Reaktoren’, die den nötigen Sauerstoff auf dem Mars erzeugen, das heißt mittels Cyanobakterien Kohlendioxid in Atemluft verwandeln sollen. Erster ernsthafter Schritt einer dauerhaften Besiedlung. Übrigens, die Freiwilligen stammen von allen Kontinenten. Sechs Milliarden soll allein der Flugtransport der ersten vier Raumfahrer kosten. Eingespielt werden sollen die Kosten, man ahnt es, durch den Verkauf der Fernsehrechte an den Vorbereitungen und der Reise.

Ob man dies nun für realistisch hält oder nicht, „Mars One“ löst jedenfalls eine Menge Fragen aus. Mir zumindest wurde sogleich die Nichtigkeit meines eigenen Berufes bewusst: Schriftstellerin auf dem Mars? Bestenfalls skurril. Immerhin, wir waren es, Mr. Adams & Co, die Künstler und Spinner, die das alles schon mehrfach ‚vorhergeschrieben’ haben. Ha! „Schaff deinen Hintern auf den Mars“, tönte Arnold Schwarzenegger etwa in Total Recall aus dem guten alten Jahr 1990.

Fantastisch unwirklich wirkt das „Mars One“-Projekt auf mich und zugleich seltsam vertraut. Es zeigt mir, dass alles, was Menschen sich hartnäckig erdenken oder erträumen, eines Tages auch Wirklichkeit werden wird. Was möglich ist, ist wirklich; im Guten wie im Grausamen.

Newtopia – all die Auswanderer früherer Jahrhunderte, ob als ehemalige Kriegsgefangene, als Flüchtlinge der Hungersnot und der Armut, ob als Forscher oder Abenteurer, sie waren bereit, alles hinter sich zu lassen, große Entbehrungen auf sich zu nehmen, in der Hoffnung auf jenen zwiespältigen Segen, den das Unbekannte zu spenden vermag. Wir scheinen das wohl zu brauchen, wir Menschen. Immer wieder unsere Grenzen zu erproben, das Unerreichbare erreichbar zu machen, das Unmögliche möglicher. Ist es das, was Überleben, inneres wie äußeres, eigentlich bedeutet?

Das Abendland, bedroht oder nicht, mit all seinen Nöten, seiner historischen Bedeutung scheint aus dem Blickwinkel von „Mars One“ ein seltsam provinzielles Gebilde zu sein. Pegida? Nicht auf dem Mars. Oder? Klar, dass bereits auf der jahrelangen Reise dorthin alles Mögliche schiefgehen kann. Aber ebenso ist es möglich, dass es funktioniert. Was dann? Wird in ein paar Generationen der Rote Planet eine Art Erde sein, nur mit verminderter Schwerkraft? Also doch Terror und Konflikte um Ressourcen, um Atemluft und Komfort?

Die größte Entdeckung bei der Mondlandung war nicht der Mond, sondern die Erde – ein weiser Satz. Erstmals war den Menschen ein Standpunkt von außerhalb, ein Blick auf ihren eigenen Planeten möglich. Werden wir durch den Mars die Erde neu entdecken? Und die, die dort geboren werden eines Tages? Weder Mozart noch der Holocaust werden ihnen etwas sagen. Wie klingt überhaupt Musik auf dem Mars? Wie schnell heilen dort Wunden? 

„Mars One“ – ein Siebenmeilenstiefelschritt für die Menschheit? Fragt sich:

Andrea Heuser

 

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