[Kroatien-Austausch]: Über Ivana Bodrožić
In Vorbereitung der Austauschreise nach Kroatien las ich Ivana Bodrožićs Text Hotel Nirgendwo. Es ist ein mutiges Buch, denn es ist weitgehend nicht aus der Perspektive einer erwachsenen, reflektierten Frau erzählt, sondern aus der Perspektive eines Mädchens, einer Heranwachsenden. Ivana Bodrožić erzählt vom Alltag des Flüchtlingslebens, oft von profanen Dingen. Sie schildert Wirklichkeit und ist uneitel genug, dem Leser eine Protagonistin vorzuführen, die sich für Chucks und Levi's und Jungs interessiert, als gäbe es in einem Buch, das zugleich vom Verschwinden des Vaters im von Serben besetzten Vukovar erzählt, tatsächlich keine Verpflichtung zur Schwere, zur Gewichtigkeit jedes Gedankens, jedes Wunsches, jeder Handlung. Ich staunte beim Lesen darüber, wie unverfremdet, ungeschönt Ivana Bodrožić zu erzählen schien. Manche Szenen kamen mir fast kitschig vor, klischiert, bekannt; die an edleren Gefühlen interessierte Leserin in mir tat ein wenig überheblich.
Ich lernte Ivana Bodrožić in Zagreb kennen, sie stand rauchend vor dem Staatsarchiv, es regnete leicht. Ich mochte sie auf Anhieb. Ich hatte das Glück, dass auch sie mich und mein Buch mochte. Wenn man jemanden trifft, den und dessen Buch man mag, trifft man sich sehr umfänglich. Wir plauderten, als hätten wir uns schon ewig gekannt. Ich zeigte ihr die Stellen in Hotel Nirgendwo, die mich am meisten beschäftigt und bewegt hatten. Eine sinnentleerte Handlung, denn was sollte sie mit meinem Tippen auf die deutschen Absätze anfangen. Vielleicht kam mir unsere Verkehrssprache Englisch wie eine Verkleidung vor, wie das Jackett, das zu gegebener Stunde endlich abgelegt werden darf, um dann zum bequemeren Teil zu kommen. Leider kam ich während dieser Veranstaltung im Staatsarchiv nicht dazu, Ivana Bodrožić zu ihrem Buch zu befragen, denn es ging um mein Buch, so wie es auch um die Bücher der anderen deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen ging, mit denen zusammen ich an dieser Reise teilnahm.
Es war seltsam, aus meinem ersten, zehn Jahre alten Buch zu lesen. Seltsam, darüber zu sprechen. Ich sah nicht mehr das Literarische des Textes, ich sah nur noch meine Versuche, mit dem Schreiben dieses ersten Buches mein Leben zu ordnen, mich zu retten, so übertrieben das auch klingen mag. Vor zehn Jahren hätte ich nie sagen können, wie wichtig dieses Buch für mich gewesen war. Wie die Literatur, das Literarische des Textes eher Resultat des zu ordnenden Lebens als eines konkreten literarischen Konstruktionswillens waren. Aber an diesem Abend mit Ivana Bodrožić als meiner Verbündeten neben mir, also einer Autorin, die die Geschichte ihres eigenen Heranwachsens erzählt hatte, erschien es mir leicht zu sagen, wie viel dieser Text mit mir zu tun hatte. Das war gewissermaßen die Überwindung einer professionellen Haltung, die ich vorher immer benötigt hatte, um zu sagen, und mich dabei zu schützen: Das ist alles nur erdacht.
Ivana Bodrožićs Buch greift an mit der Stoßkraft des Lebens, es fuhr mir ein, wie man so sagt. Das Buch machte mir Rückenschmerzen, und wenngleich ich es gelesen hatte, hatte ich es nicht ausgehalten, was damit zu tun hat, dass dieses Buch ein Realitätsprodukt ist, das Resultat eines Krieges.
Ich nehme Texte gern für bare Münze. Als aber unsere Reisegruppe zwei Tage nach der Lesung im Staatsarchiv in Vukovar eintraf, jener Stadt, in der Ivana Bodrožićs Vater verschleppt und ermordet worden war, ihrer Heimatstadt, fiel mir auf, wie sehr ich mir – wider besseres Wissen – gewünscht hatte, ihr Text beruhe nicht auf tatsächlichem Leben, erst recht nicht auf tatsächlichem Tod. Ich hatte sehr gehofft, doch nur eine Fiktion gelesen zu haben; ich war der Konfrontation nicht gewachsen. Es war eine Begegnung mit dem Krieg, vor allem aber eine Begegnung mit Ivana Bodrožićs Vater, mit den Mutmaßungen und dem Wissen darüber, was ihm widerfahren war. Es kam mir vor, als beginge ich einen Verrat an dieser Protagonistin Ivana Bodrožićs, die da im Buch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder jahrelang auf Nachricht vom Vater wartet, als hätte ich dieser – aber wie nur – verraten müssen, dass sie auf den Vater nicht warten müsse, war er doch mit Sicherheit tot. Und ich dachte auch, es gehöre sich nicht, in Vukovar zu sein, und es nicht lassen zu können, den Ursprung des Textes in den Mahnmalen, in den Einschusslöchern zu sehen und zu wissen, eines der für die bisher noch Vermissten Toten vorbereiteten Gräber auf dem Gedenkfriedhof ist für Ivana Bodrožićs Vater reserviert.
Am Abend im Staatsarchiv jedoch standen Ivana Bodrožić und ich als Kolleginnen, künftige Freundinnen; sie trug meinen kleinen Sohn, der mich auf der Reise begleitete, und sie sagte, wie ähnlich er ihrem Sohn sehe, he looks the same. Sie zog ihre Geldbörse aus der Tasche und zeigte mir das Passbild ihres Sohnes, das links neben dem Passbild der älteren Tochter steckte. Look, sagte sie, und ich lachte, denn sie sahen sich gar nicht ähnlich, sie waren nur beide babyspeckdick.
[Kroatien-Austausch]: Über Ivana Bodrožić>
In Vorbereitung der Austauschreise nach Kroatien las ich Ivana Bodrožićs Text Hotel Nirgendwo. Es ist ein mutiges Buch, denn es ist weitgehend nicht aus der Perspektive einer erwachsenen, reflektierten Frau erzählt, sondern aus der Perspektive eines Mädchens, einer Heranwachsenden. Ivana Bodrožić erzählt vom Alltag des Flüchtlingslebens, oft von profanen Dingen. Sie schildert Wirklichkeit und ist uneitel genug, dem Leser eine Protagonistin vorzuführen, die sich für Chucks und Levi's und Jungs interessiert, als gäbe es in einem Buch, das zugleich vom Verschwinden des Vaters im von Serben besetzten Vukovar erzählt, tatsächlich keine Verpflichtung zur Schwere, zur Gewichtigkeit jedes Gedankens, jedes Wunsches, jeder Handlung. Ich staunte beim Lesen darüber, wie unverfremdet, ungeschönt Ivana Bodrožić zu erzählen schien. Manche Szenen kamen mir fast kitschig vor, klischiert, bekannt; die an edleren Gefühlen interessierte Leserin in mir tat ein wenig überheblich.
Ich lernte Ivana Bodrožić in Zagreb kennen, sie stand rauchend vor dem Staatsarchiv, es regnete leicht. Ich mochte sie auf Anhieb. Ich hatte das Glück, dass auch sie mich und mein Buch mochte. Wenn man jemanden trifft, den und dessen Buch man mag, trifft man sich sehr umfänglich. Wir plauderten, als hätten wir uns schon ewig gekannt. Ich zeigte ihr die Stellen in Hotel Nirgendwo, die mich am meisten beschäftigt und bewegt hatten. Eine sinnentleerte Handlung, denn was sollte sie mit meinem Tippen auf die deutschen Absätze anfangen. Vielleicht kam mir unsere Verkehrssprache Englisch wie eine Verkleidung vor, wie das Jackett, das zu gegebener Stunde endlich abgelegt werden darf, um dann zum bequemeren Teil zu kommen. Leider kam ich während dieser Veranstaltung im Staatsarchiv nicht dazu, Ivana Bodrožić zu ihrem Buch zu befragen, denn es ging um mein Buch, so wie es auch um die Bücher der anderen deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen ging, mit denen zusammen ich an dieser Reise teilnahm.
Es war seltsam, aus meinem ersten, zehn Jahre alten Buch zu lesen. Seltsam, darüber zu sprechen. Ich sah nicht mehr das Literarische des Textes, ich sah nur noch meine Versuche, mit dem Schreiben dieses ersten Buches mein Leben zu ordnen, mich zu retten, so übertrieben das auch klingen mag. Vor zehn Jahren hätte ich nie sagen können, wie wichtig dieses Buch für mich gewesen war. Wie die Literatur, das Literarische des Textes eher Resultat des zu ordnenden Lebens als eines konkreten literarischen Konstruktionswillens waren. Aber an diesem Abend mit Ivana Bodrožić als meiner Verbündeten neben mir, also einer Autorin, die die Geschichte ihres eigenen Heranwachsens erzählt hatte, erschien es mir leicht zu sagen, wie viel dieser Text mit mir zu tun hatte. Das war gewissermaßen die Überwindung einer professionellen Haltung, die ich vorher immer benötigt hatte, um zu sagen, und mich dabei zu schützen: Das ist alles nur erdacht.
Ivana Bodrožićs Buch greift an mit der Stoßkraft des Lebens, es fuhr mir ein, wie man so sagt. Das Buch machte mir Rückenschmerzen, und wenngleich ich es gelesen hatte, hatte ich es nicht ausgehalten, was damit zu tun hat, dass dieses Buch ein Realitätsprodukt ist, das Resultat eines Krieges.
Ich nehme Texte gern für bare Münze. Als aber unsere Reisegruppe zwei Tage nach der Lesung im Staatsarchiv in Vukovar eintraf, jener Stadt, in der Ivana Bodrožićs Vater verschleppt und ermordet worden war, ihrer Heimatstadt, fiel mir auf, wie sehr ich mir – wider besseres Wissen – gewünscht hatte, ihr Text beruhe nicht auf tatsächlichem Leben, erst recht nicht auf tatsächlichem Tod. Ich hatte sehr gehofft, doch nur eine Fiktion gelesen zu haben; ich war der Konfrontation nicht gewachsen. Es war eine Begegnung mit dem Krieg, vor allem aber eine Begegnung mit Ivana Bodrožićs Vater, mit den Mutmaßungen und dem Wissen darüber, was ihm widerfahren war. Es kam mir vor, als beginge ich einen Verrat an dieser Protagonistin Ivana Bodrožićs, die da im Buch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder jahrelang auf Nachricht vom Vater wartet, als hätte ich dieser – aber wie nur – verraten müssen, dass sie auf den Vater nicht warten müsse, war er doch mit Sicherheit tot. Und ich dachte auch, es gehöre sich nicht, in Vukovar zu sein, und es nicht lassen zu können, den Ursprung des Textes in den Mahnmalen, in den Einschusslöchern zu sehen und zu wissen, eines der für die bisher noch Vermissten Toten vorbereiteten Gräber auf dem Gedenkfriedhof ist für Ivana Bodrožićs Vater reserviert.
Am Abend im Staatsarchiv jedoch standen Ivana Bodrožić und ich als Kolleginnen, künftige Freundinnen; sie trug meinen kleinen Sohn, der mich auf der Reise begleitete, und sie sagte, wie ähnlich er ihrem Sohn sehe, he looks the same. Sie zog ihre Geldbörse aus der Tasche und zeigte mir das Passbild ihres Sohnes, das links neben dem Passbild der älteren Tochter steckte. Look, sagte sie, und ich lachte, denn sie sahen sich gar nicht ähnlich, sie waren nur beide babyspeckdick.