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10.03.2015, 12:31 Uhr
Fridolin Schley
Text & Debatte
Die romantische Erzählung Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ übt bis heute eine große Faszination aus. Der Münchner Autor Fridolin Schley kann dazu eine ganze eigene Geschichte erzählen.

Beschleunigter Herzschlag im Halbschlaf: Dritter Teil

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Natürlich ist auch das Schreiben eine Kunst des Doppelgängertums, denn erst dort auf der Nachtseite des Vertrauten, wo man sich selbst unheimlich wird, im Verließ des Schlosses, in der Tiefe des Waldes oder in jenem einsamen Haus, das der Taugenichts nur bei Dunkelheit finden kann, an diesen Seelenorten der Romantik, wo Sinne, Triebe und Erkenntnis zu Schatten und huschenden Schlaglichtern verschmelzen, keimt die Hoffnung auf Erlösung; auf das, was unser Held die Sternenklarheit des Herzens nennt und der heutige Schriftsteller vielleicht schlicht: einen wahren Satz. Nur dem, der bereit ist, die Augen zu schließen, können auch die Morgenstrahlen auf die Lider fallen, wie der Taugenichts sagt, so „dass mir's innerlich so dunkelhell war“. In diesem dunkelhellen Zwielicht finden die Sätze am Schreibtisch mit der gleichen zwingenden Zufälligkeit zueinander wie dem Taugenichts alle ersehnten Menschen auf seiner Reise unverhofft wieder begegnen und nach einem sanften Gesetz ineinandergreifen, um schließlich ihre Masken lüften; erst dann wird auch er als ganzer Mensch anerkannt. Es ist das bläuliche Licht einer Welt zwischen Wachen und Träumen, zwischen Tag und Nacht; es gleicht dem Licht, das blaue Blumen an Gebirgsquellen umgibt, und jenem matten Glimmen, das wie jetzt am späten Nachmittag von draußen in den Lesesaal der Staatsbibliothek dringt, kurz bevor die Tischlampen angehen, wie von Geisterhand entzündet. Draußen vor den Fenstern verdunkeln schon große Schwärme von Raben den Himmel und kreisen unter minutenlangem Krähen, das die Stille der Bibliothek bis in den hintersten Regalwinkel anfüllt, über den Baumwipfeln, um sich dann zu Tausenden auf ihnen niederzulassen und aus kalten schwarzen Augen regungslos zu uns hinab zu starren. Für einen Moment herrscht vollkommene Ruhe, nichts bewegt sich mehr in dem riesigen Saal, keine Seite wird umgeblättert, auf keiner Tastatur getippt. Ein alter Foliant, der soeben noch nachlässig von einer Tischkante gekippt wurde, als sei seine Lehre lang vergessen, schwebt wie eine Feder in der Luft, alles blickt angststarr und demütig hinaus auf die in der aufziehenden Abendbrise sich wiegende Kreatur, und erst als nach langer Zeit der Foliant zu Boden getaumelt ist und mit einem leisen Geräusch so sachte aufschlägt wie wenn ein Fingerknochen an die Türe pocht, löst sich mit rauhem Klingen seines Schnabels ein einzelner Rabe aus der wabernden Masse, schießt hernieder und zerschellt mit einem gewaltigen Klirren an der Glasfront. Da erhebt sich die Schwärze aus den Wipfeln, und nur Augenblicke später ist sie über uns. Alles ist Krachen und Tosen und heulende Nacht. Scheiben bersten in funkelnden Trichtern, die purpurnen Vorhänge bauschen sich auf zu blähenden Segeln, und Scherben prasseln auf die stets begehrten Fensterplätze herab, dringen durch Hälse und Schenkel, ragen in grotesken Winkeln aus Köpfen und Nacken. Kaum einer versucht zu fliehen; die wenigen Verzweifelten stolpern über einander auf den blutschmatzenden Teppichboden, bis ein Schwarm sie bedeckt und gierig an ihnen frisst. Irgendwo brüllt jemand den Namen Lenore, doch die Schreie gehen rasch unter im anschwellenden, bald ohrenbetäubenden Kreischen der Raben. Den ersten, der auf mich niedergeht, wehre ich noch träge ab, etwas gibt knackend in seinem Inneren nach, als meine Handkante ihn im Sturzflug trifft, dann liegt er auf meinem Schoß und windet sich wie eine schläfrige Katze. Ich wundere mich noch, wie groß er ist, wie aus Sagenzeiten her. Zuerst gehen sie auf Hals und Augen. Mein Sitznachbar ist nach vorne gekippt, seine leeren Höhlen klaffen über einem Stapel Manuskriptblätter, als brüte er auf samtenem Kissen über dem Ungewissen seines Werks, einer fast abgeschlossenen Arbeit zu Edgar Allan Poe. In seinem Ohr steckt noch ein Schaumstoffstöpsel. Da versinke auch ich in einem Gewitter aus Gefieder, einem sich überschlagenden Picken und Reißen und Flattern; doch bin ich seltsam müde. Etwas riecht nach Weihrauch. Die Augen, denke ich, nur nicht die Augen, und schlage die Hände vors Gesicht. Als sie mein Trommelfell durchstoßen, ist es endlich ruhig und dunkel, es ist alles, alles gut.

 

Illustrationen von Philip Grot Johann and Edmund Kanoldt

Erst beim Aufsteigen wage ich, die Hände zu senken. Ich staune, wie wenige Raben nötig sind, um mich anzuheben und empor zu tragen bis unter das Dach und sanft durch eines der gesprengten Fenster. Unter mir sehe ich die Sitzreihen sich langsam entfernen, die Tischlampen brennen inzwischen und werfen schwere scheele Schatten auf die den gesamten Boden bedeckende, schwarz pulsierende Decke aus Flügeln und Federn, die sich nun langsamer bewegt, nur hier und da noch kleine Wellen schlägt. Ein einzelner grimmer Rabe ragt auf der blassen Pallas-Büste über dem Eingangsgesims und überblickt das wimmelnde, sich selbst gebärende und verzehrende Drängen. Draußen gleiten wir durch die frische Abendluft, schweben hoch über die Münchner Dächer, doch je weiter wir uns von der Erde entfernen, desto deutlicher scheine ich alles unter mir erkennen zu können, den Odeonsplatz und die zu einer Veranstaltung strömenden Besucher des Literaturhauses, die Glyptothek und die Lichter von Schwabing, bis hin zum Olympiadorf, und dann steigen wir immer höher und hinein in Plutos Nacht, in der ich, wie die Wörter in einem geglückten Satz, schwerelos und sicher aufgehoben bin.

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