Beschleunigter Herzschlag im Halbschlaf: Erster Teil
Ich bin nach einem Taugenichts benannt. Wurde ich als Kind nach der Bewandtnis meines eigentümlichen Vornamens gefragt, berichtete ich stets mit verborgenem Stolz – als sei ich so nicht nur bezeichnet, sondern ausgezeichnet und ein gelungener Lebensweg mir vorbestimmt – meine Mutter habe in der Nacht meiner Geburt eine romantische Novelle Joseph von Eichendorffs gelesen und mir am Morgen den Namen der Hauptfigur gegeben, die, einem frisch geborenen Säugling nicht unähnlich, in die Welt geworfen werde, um dort durch Fügung und Geschick schließlich ihr Glück zu finden. So gewiss wähnte ich mich jahrelang als Wiedergänger dieses Helden einer lang vergangenen Epoche, so unsichtbar privilegiert unter meinen Freunden, die allesamt nur Thomas, Andreas oder Florian hießen, und so geschützt und geleitet von der geheimen Losung meines Namens, dass es mich kaum erstaunte, ja mir ganz folgerichtig erschien, als uns der Deutschlehrer in der neunten Klasse eines Tages Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts als Lektüre ankündigte und bald darauf die gelben Reclam-Bändchen auf die Pulte verteilte. Ich spürte, meine eigentliche Taufe stand nun bevor, die Begegnung mit meinem romantischen Zwilling würde meine glanzvolle Bestimmung endlich für jedermann enthüllen, hier in diesem Klassenzimmer musste mein neuer Weg, musste meine Wanderung beginnen. Und so las ich mit erwartungsvoller Rührung rasch die ersten Seiten unter der Bank, wurde aber, als mein Name nirgends fiel, zunehmend ungeduldig, übersprang bald Zeilen und ganze Absätze, blätterte wie ein Bestohlener blindwütig durch die Kapitel, im Unterleib das flaue Gefühl aufsteigender Panik, und als der Lehrer mich wegen der raschelnden Unruhe auf meinem Platz anfuhr, was denn los sei, was ich denn da so hektisch suche, brachte ich mit brechender Stimme nur hervor: „Ich kann mich nicht finden.“
Illustrationen von Philip Grot Johann and Edmund Kanoldt
Die Mutter, die ich gleich am Mittag zu Hause in der schwachen Hoffnung zur Rede stellte, sie könne durch eine schlüssige Auflösung, durch eine überraschende Wende den gellenden Spott, dem mich mein Ausbruch in der Klasse ausgeliefert hatte, doch noch in einen späten Triumph auflösen, beteuerte erschrocken ob meiner Verfassung noch einmal die Wahrheit um die Geschichte meines Namens, aber als ich sie ans Bücherregal drängte und sie schließlich ihren längst vergilbten und am Buchrücken schon brüchig gewordenen Band des Taugenichts hervorzog, fand sie zwar auf der ersten Seite noch ihre kaum mehr leserliche Bleistifteintragung Aschheim, Okt. 1976, doch so lang sie auch die Zeilen überflog, dabei immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte und flüsterte, das sei seltsam, sehr seltsam, der Taugenichts blieb auch in ihrer Ausgabe ein einsamer Zolleinnehmer ohne Namen, und mit jeder weiteren umgewendeten Seite verstärkte sich das grauenvolle Gefühl in mir, von jeher nicht mehr als ein falsches Versprechen gewesen zu sein.
(c) Literaturportal Bayern
Jahre später lüftete sich das Geheimnis, als ich während meines Filmstudiums durch Zufall auf den Film Der Taugenichts stieß, einen Stummfilm von Carl Froelich aus dem Jahre 1921, den meine Mutter, wie sich nun herausstellte, tatsächlich kurz vor meiner Geburt im Münchner Filmmuseum gesehen hatte und dessen Hauptfigur Fridolin ihre Erinnerung offenbar in den Roman Eichendorffs hatte übergehen lassen. Mich überkam augenblicklich ein merkwürdig heftiges Gefühl der Erleichterung angesichts des Rätsels Lösung, als sei ich unverhofft von einer schweren Anklage freigesprochen. Und doch bin ich eine diffuse, tief in mir verankerte Furcht vor Entwurzelung seit jenem Kindheitserlebnis nie ganz losgeworden. Letztlich, so glaube ich, habe ich allein deshalb mit dem Schreiben begonnen, aus einer romantischen Sehnsucht nach Identität heraus, denn Schreiben bedeutet Selbstbestimmung auch im ganz wörtlichen Sinne, und noch heute kann ich nicht anders, als bei jedem neu erschienenen Buch von mir zunächst lang den Namen auf dem Umschlag zu betrachten und mich zu fragen, ob ich all diese Seiten wirklich selbst geschrieben haben könne oder nicht doch möglicherweise einem neuerlichen Betrug aufsitze.
Fortsetzung folgt ...
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Ich bin nach einem Taugenichts benannt. Wurde ich als Kind nach der Bewandtnis meines eigentümlichen Vornamens gefragt, berichtete ich stets mit verborgenem Stolz – als sei ich so nicht nur bezeichnet, sondern ausgezeichnet und ein gelungener Lebensweg mir vorbestimmt – meine Mutter habe in der Nacht meiner Geburt eine romantische Novelle Joseph von Eichendorffs gelesen und mir am Morgen den Namen der Hauptfigur gegeben, die, einem frisch geborenen Säugling nicht unähnlich, in die Welt geworfen werde, um dort durch Fügung und Geschick schließlich ihr Glück zu finden. So gewiss wähnte ich mich jahrelang als Wiedergänger dieses Helden einer lang vergangenen Epoche, so unsichtbar privilegiert unter meinen Freunden, die allesamt nur Thomas, Andreas oder Florian hießen, und so geschützt und geleitet von der geheimen Losung meines Namens, dass es mich kaum erstaunte, ja mir ganz folgerichtig erschien, als uns der Deutschlehrer in der neunten Klasse eines Tages Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts als Lektüre ankündigte und bald darauf die gelben Reclam-Bändchen auf die Pulte verteilte. Ich spürte, meine eigentliche Taufe stand nun bevor, die Begegnung mit meinem romantischen Zwilling würde meine glanzvolle Bestimmung endlich für jedermann enthüllen, hier in diesem Klassenzimmer musste mein neuer Weg, musste meine Wanderung beginnen. Und so las ich mit erwartungsvoller Rührung rasch die ersten Seiten unter der Bank, wurde aber, als mein Name nirgends fiel, zunehmend ungeduldig, übersprang bald Zeilen und ganze Absätze, blätterte wie ein Bestohlener blindwütig durch die Kapitel, im Unterleib das flaue Gefühl aufsteigender Panik, und als der Lehrer mich wegen der raschelnden Unruhe auf meinem Platz anfuhr, was denn los sei, was ich denn da so hektisch suche, brachte ich mit brechender Stimme nur hervor: „Ich kann mich nicht finden.“
Illustrationen von Philip Grot Johann and Edmund Kanoldt
Die Mutter, die ich gleich am Mittag zu Hause in der schwachen Hoffnung zur Rede stellte, sie könne durch eine schlüssige Auflösung, durch eine überraschende Wende den gellenden Spott, dem mich mein Ausbruch in der Klasse ausgeliefert hatte, doch noch in einen späten Triumph auflösen, beteuerte erschrocken ob meiner Verfassung noch einmal die Wahrheit um die Geschichte meines Namens, aber als ich sie ans Bücherregal drängte und sie schließlich ihren längst vergilbten und am Buchrücken schon brüchig gewordenen Band des Taugenichts hervorzog, fand sie zwar auf der ersten Seite noch ihre kaum mehr leserliche Bleistifteintragung Aschheim, Okt. 1976, doch so lang sie auch die Zeilen überflog, dabei immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte und flüsterte, das sei seltsam, sehr seltsam, der Taugenichts blieb auch in ihrer Ausgabe ein einsamer Zolleinnehmer ohne Namen, und mit jeder weiteren umgewendeten Seite verstärkte sich das grauenvolle Gefühl in mir, von jeher nicht mehr als ein falsches Versprechen gewesen zu sein.
(c) Literaturportal Bayern
Jahre später lüftete sich das Geheimnis, als ich während meines Filmstudiums durch Zufall auf den Film Der Taugenichts stieß, einen Stummfilm von Carl Froelich aus dem Jahre 1921, den meine Mutter, wie sich nun herausstellte, tatsächlich kurz vor meiner Geburt im Münchner Filmmuseum gesehen hatte und dessen Hauptfigur Fridolin ihre Erinnerung offenbar in den Roman Eichendorffs hatte übergehen lassen. Mich überkam augenblicklich ein merkwürdig heftiges Gefühl der Erleichterung angesichts des Rätsels Lösung, als sei ich unverhofft von einer schweren Anklage freigesprochen. Und doch bin ich eine diffuse, tief in mir verankerte Furcht vor Entwurzelung seit jenem Kindheitserlebnis nie ganz losgeworden. Letztlich, so glaube ich, habe ich allein deshalb mit dem Schreiben begonnen, aus einer romantischen Sehnsucht nach Identität heraus, denn Schreiben bedeutet Selbstbestimmung auch im ganz wörtlichen Sinne, und noch heute kann ich nicht anders, als bei jedem neu erschienenen Buch von mir zunächst lang den Namen auf dem Umschlag zu betrachten und mich zu fragen, ob ich all diese Seiten wirklich selbst geschrieben haben könne oder nicht doch möglicherweise einem neuerlichen Betrug aufsitze.
Fortsetzung folgt ...