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01.10.2012, 17:31 Uhr
Ivana Bodrožić
Text & Debatte
Vom 16. bis 19. Mai 2012 reisten sechs bayerische Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach Kroatien, um kroatische KollegInnen kennen zu lernen. Das Blog des Literaturportals Bayern veröffentlicht die Berichte der TeilnehmerInnen des Austauschs in loser Folge.

[Kroatien-Austausch]: Über Heike Geißlers Roman „Rosa“

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Ivana Bodrožić © Vladimira Spindler

Der Roman Rosa kam mit der Post. Ein kleines Päckchen, eingewickelt in hartes Packpapier, ein unauffälliges Buch, nicht besonders dick. Von der Autorin hatte ich noch nie etwas gehört. Man hatte uns zusammengebracht, so wurde es mir erklärt, weil wir uns einer ähnlichen Poetik bedienten, und meine Aufgabe bestand nun darin, den Roman zu lesen und mich beim bayerischen Literaturabend mit der Autorin Heike Geißler darüber zu unterhalten.

Ich riss den Umschlag sofort auf und las den Klappentext. Das genügte mir, um dem Buch tagelang aus dem Weg zu gehen. Es lag am Rande der Bartheke zwischen Wohnzimmer und Küche, ab und zu warf ich im Vorbeigehen einen Blick darauf und schob das Lesen immer wieder hinaus. Gänzlich unaufdringlich, aber einprägsam hatte sich die Hauptprotagonistin in meinem Kopf eingenistet, eine junge Frau, die ihr Neugeborenes verlässt, weil sie das Gefühl hat, die Kontrolle über das eigene Leben und ihre Wünsche zu verlieren; eine Frau, die vor dem Muttersein flüchtet, sich in weit entfernten Städten auf die Suche nach ihrem Glück und ihrer Identität begibt, während ihr Körper sie unbarmherzig daran erinnert, was sie hinter sich gelassen hat. Einige Tage später nahm ich, nachdem ich die Kinder in den Kindergarten gebracht hatte, das Buch wieder zur Hand, und es stellte sich heraus, dass meine vagen Zweifel und mein Instinkt im Hinblick auf den Roman mich nicht betrogen hatten. An diesem Tag blieben die Kinder ohne Mittagessen, ich aber schwelgte im höchsten literarischen Genuss, verschlang das Buch in wenigen Stunden und bekam außerdem etwas, das noch wichtiger oder vielleicht das Allerwichtigste ist, was wir von Literatur bekommen können. Dieses Allerwichtigste lässt sich nicht einfach erklären. Ein Erklärungsversuch könnte die Art und Weise sein, wie ich diesen durchweg persönlichen Text über ein literarisches Werk begonnen habe zu schreiben; dieses Allerwichtigste – man könnte es auch ein Eintauchen in sich selbst nennen, das nicht ausbleibt, wenn man echte Literatur in die Hände kriegt, dieses Allerwichtigste – wie eine Bewegung, die sich darin äußert, dass man nach einem solchen Buch nicht mehr derselbe ist wie vorher. Ein solches Buch prägt und bereichert. Eine solche Lektüre schenkt dem Leser eine weitere Dimension, um ein höheres Verständnis zu entwickeln, für die eigene Natur, Identität und die Welt, in der man lebt.

Rosa also. Vor dem entscheidenden Moment, in dem wir ihr auf ihrem Weg zum Leipziger Bahnhof begegnen, wissen wir noch nicht viel über sie, nur so viel, dass man sie zu Hause vermissen wird, dass ihre Familienmitglieder sich eine Zeitlang fragen werden, wo sie wohl geblieben sein mag, aber als ihr Ehemann und ihre Mutter, die mit dem Baby im Park sind, begreifen, dass Rosa nicht mehr da ist, wird sie schon vollauf damit beschäftigt sein, ihr neues Leben aufzubauen, sodass sie sich darüber gar keine großen Gedanken machen wird. Rosas konkreter Gedanke, der sich hauptsächlich durch Naivität auszeichnet und sich konsequent durch jede weitere Entscheidung Rosas bis zum Ende des Romans durchzieht, der sie sogar bis nach New York bringt, gibt uns auf den ersten Blick das Recht auf ein beinahe unsichtbares verächtliches Lächeln, während wir ihren „Weg in den immer tiefer werdenden Abgrund“ mitverfolgen, sofern wir berücksichtigen, dass es sich keineswegs um eine Person mit verminderten Kapazitäten handelt. Die Naivität, die sich auf das Vergessen und auf einen Neuanfang stützt und die in diesem Buch zuweilen bis zur Groteske bloßgelegt wird, versetzt uns gerade auf Grund dieser Handlung in die Position der Besseren und Klügeren, in die Position jener, die nicht in einem solchen Maße wie Rosa der grausamen Welt ausgeliefert sind und mit Problemen besser fertigwerden als sie.

Deshalb können wir bei diesem Buch scheinbar ohne Risiko im Lesegenuss schwelgen, die Lektüre gefährdet uns nicht, nichts von Rosas Irrsinn und Unglück geht uns etwas an, in gewisser Weise genießen wir das alles sogar ein wenig. Wenn wir allerdings zumindest einen Augenblick lang ehrlich zu uns selbst sind, erzählt Rosas Flucht vor ihrem Kind mehr über Menschen, Zeit, Elternschaft und Verantwortung, als wir in der Lage sind zuzugeben. Entscheiden wir uns für diese Ehrlichkeit, dann ist das, was uns bei Rosa so stark trifft, schmerzt und bezaubert eine literarisch hervorragend ausgeführte und extrem zugespitzte Fluchtgeschichte. Eine Geschichte über die tausende von kleinen Fluchten, die wir uns in der realen Welt tagtäglich leisten können und müssen. Auf diese Weise fast bis zur Unkenntlichkeit erzählt, erscheint es uns zuweilen, es sei bloß die Geschichte einer jungen Mutter, die sich nicht zurechtfinden konnte; natürlich ist es das auch, aber keineswegs nur das. Neben dem universalen Thema, das sich nur schwer „einfangen“ lässt, strotzt dieses Buch dermaßen vor konzentriertem Talent, dass ich dachte, nach diesem Buch könne man über dieses Thema, das eigentlich eine Vielzahl von Themen ist, nichts Neues mehr sagen. Ein weiterer unfehlbarer Hinweis, dass alle echten Schriftsteller auf der Welt seit der Antike bis heute, in allen Literaturen, großen und kleinen, eigentlich das gleiche Buch schreiben. Der Grund, warum wir uns alle so gut verstehen können, obwohl wir geneigt sind, an unsere Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu glauben, liegt gerade darin, dass wir in diesem Leben alle die gleichen Dinge durchlaufen, Höhepunkte und Tiefpunkte des menschlichen Lebens. Die reiche Vorstellungskraft der Autorin, die, als sie diesen Roman schrieb, noch keine Erfahrung als Mutter hatte, lässt sich mit jenen großen Autoren der Weltliteratur messen, die allerschönste Romanseiten über entlegene und exotische Gegenden verfassten, ohne jemals die eigene Stadt zu verlassen. Darin waren sie außerordentlich kreativ und überzeugend, weitaus stärker als jene Weltenbummler, die mehrmals die Erdkugel umkreist haben, ohne jemals in sich selbst innezuhalten. Neben allen anderen Qualitäten, die den Rahmen dieses Textes sprengen würden, und die ich daher nicht einzeln herauspicken will, möchte ich doch eine weitere nennen: das Fehlen einer tendenziösen oder prätentiösen Erzählweise. Rosa verlangt nichts von uns, am allerwenigsten will sie uns ihre Welt als die einzig richtige aufdrängen, und das ist etwas, das weitaus prätentiösere gescheiterte Gestalten weitaus bekannterer Autoren nie begriffen haben. Gerade weil Rosa nichts von uns verlangt, erobert sie uns vollends.

Cover der kroatischen Ausgabe von Heike Geißlers Roman Rosa; Heike Geißler in Vukovar, der Geburtsstadt von Ivana Bodrožić, aus der diese als Kind vor dem Krieg fliehen musste.

An diesem Abend, als ich Heike kennenlernen und mit ihr über den Roman, das Schreiben und das Leben sprechen sollte (denn diese Dinge gehören immer zusammen), tat es mir am meisten leid, dass wir uns nicht in der gleichen Sprache unterhalten konnten, dass ich nicht in der Lage sein würde, auch nur einen Bruchteil von dem zu vermitteln, was ihr Roman mir gegeben hatte. Aber im Laufe des Abends stellte sich heraus, dass manchmal die Sprachbarriere nichts ausmacht, dass eine dritte Vermittlersprache genügt, ein Spaziergang mit ihrem sieben Monate alten Sohn vor dem Raum, in dem die Lesung stattfand, ein lebendiges, immer wieder unterbrochenes Gespräch über das Schreiben, während wir uns Mühe gaben, den kleinen Jungen zu unterhalten, eine Verschmelzung und Überlappung von Welten, über die man in den Zeitungsberichten über den „Kroatisch-bayerischen Literaturaustausch“ nichts lesen wird.

Ich denke, der Literaturaustausch als solcher wurde ursprünglich genau so konzipiert wie unsere literarischen Begegnungen. Solche Begegnungen sollten auf allen Ebenen stattfinden, und es ist gut, dass es sie gibt, aber nur ganz wenige sind wirklich echt und schaffen es, Grenzen zu verschieben. Vielleicht verhält es sich so wie mit Platons Ideen – Ausführungen gibt es jede Menge, aber nur eine Idee ist die echte. Zum Abschluss dieses Projekts kann ich nur noch sagen, dass ich den Menschen, die den Kontakt zwischen uns hergestellt haben, unendlich dankbar bin, dass ich viel mehr bekommen habe, als ich mir erhofft hätte, und das gilt auch für die Menschen in meinem Umfeld, die durch Rosas Welt bereichert wurden. Es war mir aufrichtig eine große Ehre, an einem solchen Austausch teilzunehmen, in der Gesellschaft von Heike Geißler.

[Aus dem Kroatischen von Mascha Dabić]

Ivana Bodrožić, geboren 1982 in Vukovar/Kroatien. Ihre Lyrik wurde in internationalen Literaturmagazinen und Anthologien abgedruckt. Für ihr Romandebüt Hotel Zagorje erhielt sie mehrere Preise, u.a. den Kiklop-Preis für den besten Roman des Jahres 2010. 2012 erschien der Roman auf Deutsch (übersetzt von Marica Bodrožić) unter dem Titel Hotel Nirgendwo im Zsolnay Verlag, München/Wien.