[Kroatien-Austausch]: Die Brücken am Fluss Sprache
Ich habe mich immer selbst gefragt – anstatt Experten zu fragen –, ob alle gehörlosen Menschen durch die Bewegungen ihrer Hände dauerhaft in einem universalen Verständnis vereint sind, sodass sie keine Simultan- oder Konsekutivdolmetscher benötigen, ob sie von Geburt an mit einem unermesslichem Sinn für das Verstehen, für das grenzenlose Kommunizieren gesegnet sind.
Manchmal denke ich, wir werden durch einen Zufall, oder durch das Schicksal im goldenen Käfig unserer Muttersprache geboren, und so zwitschern wir mehr oder weniger lieblich mit unseren eigenen Leuten, krächzen mit den anderen, nebulös und unverständlich bemühen wir uns, Begeisterung oder Zorn auszudrücken, oder versuchen erfolglos in der „Fremde“ den Weg vom Bahnhof zum Theater oder zu einer einfachen Kantine oder einer öffentlichen Toilette zu finden.
Wir leben in einer Welt, die wie ein unwegsamer Archipel verstreut ist, bauen sprachliche Brücken, um die floskelhafte Ebene des Begriffs Brüderlichkeit zwischen den Völkern zu überwinden. Dabei stolpern wir manchmal, geraten andauernd an Unvorhergesehenes, an etwas außerhalb des sprachlichen Geistes, den wir heraufbeschwören und verbal präsentieren wollen, aber in erster Linie auch geistig, wir rotieren in eine Symmetrie hinein, die uns durch einen Zauber in dieses andere namens „Fremdsprache“ übersetzen kann. Es gibt aber Dinge, die einfach unmöglich sind. Denn jede Sprache ähnelt in einigen Segmenten einer entlegenen Gegend, wo lokaltypische seltsame Schnabeltiere leben, die in anderen entlegenen Gegenden nicht einmal einen Namen haben. Weil es sie dort nicht gibt. Das ist so ähnlich wie die Witze über Mujo und Haso (manchmal ist auch Fata dabei), die ich in einem tadellosen Französisch meinen neuen Freunden in Belgien zum Besten geben wollte. Volle acht Jahre lang. Als ich lange Jahre auf Witze, die mir Lachtränen in die Augen trieben, von meinen belgischen Freunden ein säuerliches, aber eigentlich freundliches Lächeln erntete, begriff ich (und ich brauchte lange dazu), dass Dinge, die man von einem kulturellen Kontext in einen anderen verpflanzt, ganz einfach nicht funktionieren. Das ist so, wie wenn wir einen Seestern aus dem Schatten des tiefblauen Meerwassers herausholen und auf einen paradiesischen Strand legen. Der Stern krepiert einfach und beginnt zu stinken. Gesetzt den Fall, dass er sogar mit Erfolg trocknet und seine ursprüngliche Farbe halbwegs beibehält – er ist nicht mehr das, was uns in der Meerestiefe bezaubert hat.
Hand aufs Herz, auch ich habe lange gebraucht, um die derben Witze der Franzosen über die Belgier zu verstehen und darüber zu lachen. Vieles verstand ich lange Zeit nicht, die Oden von Jacques Brel über den Nordwind, der einem bis in die Knochen hineinkriecht, den Schnee, der auf die allzu graue, trübe Stadt Liège fiel, die Begeisterung für Bier, Käse und das frenetische Grillen zwischen zwei Regengüssen. Es dauerte sehr lange, bis ich mental in der belgischen Tradition ankam, bis ich alles der Reihe nach liebgewann. Selbst die allzu graue Stadt Liège, die im dreisprachigen Belgien gar drei Namen trägt: einen französischen, einen niederländischen und einen deutschen.
Eine Sprache zieht wesentlich mehr nach sich als banale grammatikalische Gebrauchsregeln.
DEM FLUSSBETT ENTLANG
Bis zu einem gewissen Punkt wächst die Welt immer weiter, aber irgendwann schrumpft sie plötzlich, sie implodiert.
Als Kind machte ich mir keine Gedanken über die Sprache. Nicht wirklich. Ich sprach einfach. Ohne Scham und Schüchternheit ging ich auf den Stränden von Biograd oder Split auf Touristen zu, damals waren es meistens Italiener und Deutsche, und plapperte ihnen etwas in einer für sie unverständlichen, wie ich später erfuhr, kroatischen Sprache vor. Mir war nicht klar, wie jemand anders sprechen konnte als ich, wie es sein konnte, dass jemand mich nicht verstand. Ebenso wenig verstand ich den räumlichen Begriff von Stadt, Staat, Kontinent, Kontinenten auf einer Kugel, auf der einige Menschen doch ganz offensichtlich auf dem Kopf stehen mussten.
Die Drava, fotografiert von Heike Geißler; Ivana Šojat-Kuči und Dagmar Leupold während ihres Gesprächs
Die Drava war mein einziger Fluss. Ein von zwei mir bekannten Gewässern. Das andere Gewässer war das Meer. Eines vom anderen klar getrennt: das eine schlammig und süßlich, das andere krankhaft salzig und bläulich. Das ging so lange, bis die Donau sich einmischte. In der Nähe von Aljmaš. Die große, riesige, graue, träge, mächtige Donau. Ich war mir nicht einmal dessen bewusst, dass ich an jenem Tag, es war Mariä Himmelfahrt des Jahres 1976, einen Schritt weiter gegangen war, dass meine Welt größer geworden war, dass sie dabei war, wie eine Amöbe in alle Richtungen zu zerfließen. Über die Menschen drüber.
Für mich waren Menschen erstaunlich lang „nur“ Menschen. Allmählich kamen Etikettierungen dazu, von außen unsichtbare Eigenschaften jenseits der Hautfarbe. Die Menschen erhielten eine nationale, religiöse, politische und soziale Zugehörigkeit. Sie wurden dumm, verbohrt, geizig, faul und allerlei sonst. Nach und nach verschanzten sie sich in Schubladen, machten mich wahnsinnig, verwirrten mich. Auch mit ihrer Sprache.
Die trägen, pannonischen Flüsse, die sich ihr Flussbett durch die Ebene gebahnt hatten, machten diese Ebene zu einer Kreuzung des Handels, der Eroberungen, der ruhmreichen Schlachtfelder, auf denen sich alle ehrenvoll aufplustern konnten, von der Infanterie, über die Kavallerie, bis hin zur Panzerdivision. Auch die Sprache plusterte sich auf, vermischte sich, wurde stur, einzigartig. Wie ein hungriges Kind im Gemischtwarenladen verschlang und verdaute sie problemlos etwas vom Ungarischen, Deutschen, Kroatischen und Türkischen, und trieb die Sprachwissenschaftler, die sie hübsch verpackt in einer Schublade sehen wollten, in den Wahnsinn. Auch alles andere sollte in eine Schublade gepresst werden. Die Menschen ebenso. Damit alles seine Ordnung habe. Wie in einer Apotheke.
ZURÜCK
Ich bin in einem Fundus für Theaterrequisiten geboren. Das habe ich endlich begriffen. In einer Stadt, in der wie auf einer großen Bühne Diktaturen, Absolutismen, Demokratien und Totalitarismen ihren Vorhang aufgehen und wieder zugehen ließen, in der sie ihre jeweiligen Inszenierungen aufstellten, die Schauspieler zum Schafott schickten und ihre jeweiligen Trends aufzwangen. In einer Stadt, die wohl den bestmöglichen Weg durch die kollateralen und direkten Dummheiten der „großen Geschichte“ gewählt hat: Sie nahm von allem das Beste und sicherte so ihr Überleben. Wie eine Erinnerung, die neben uns her läuft, auch dann, wenn wir sie nicht an der Hand halten. Während wir über die Straße gehen.
Menschen sind anders. Das weiß ich. Ich weiß, es gibt feine Fäden, die uns sogar über große, geographische Räume hinweg miteinander verbinden. Nichts geschieht zufällig. So auch nicht die Begegnung von Dagmar Leupold und mir in Osijek. Ihr Roman Nach den Kriegen ist wie ein Zwillingsbruder meines Romans Unterstadt. Ihre Gedichte sind oneirische Schwestern meiner Verse. Alles ist ganz in der Nähe, das wusste ich, als ich ihre Werke las. Obwohl sie in einer anderen Sprache verfasst sind. Der Zweite Weltkrieg, jeder Krieg, sogar der „allerkleinste“, hinterlässt tiefe Wunden, bleibende Narben, die wir hartnäckig kollektiv hinter den Schleiern eines scheinbaren Vergessens verstecken. Als könnte sich all das nicht wiederholen, endlos oft wiederholen. Bloß mit anderen Menschen, die „anders“ sind in den Viehwaggons und vor den Erschießungskommandos. Wir machen uns vor, in der Welt würden nicht nach wie vor jene vorwärts marschieren, deren Phantasie sich vom Szenario einer Massenexekution anregen lässt.
Dagmar kämpft aber. Nicht gegen die Erinnerungen, sondern für Erinnerungen mit einer Stimme, die wir anhören werden, für Erinnerungen, mit denen wir uns aussöhnen können wie im Christentum, auf dass wir weitergehen können, gereinigt und erneuert. In der Zukunft. Denn Erinnerungen sind keine Gewichte, jedenfalls sollten sie es nicht sein. Sie sind wie die Athene, die Kopfgeburt des Zeus. Weise und gelehrt, vollkommen. Mitunter jedoch zornig.
Dagmar hat mich daran erinnert, dass nichts in der Schublade bleiben kann, dass wir nicht zerrissen und in alle Himmelsrichtungen verstreut sind wie mit einem alten Fluch belegte Knochen. Wir sind alle miteinander verbunden. Alle unterschiedlich, aber verbunden. Und wir haben Brücken. Subtile, feine Fäden, die uns auch dann verbinden, wenn wir uns auf den Ruinen des Turms zu Babylon gegenseitig nicht verstehen können, auf immer neuen Ruinen, nach den Kriegen, am Rande von all jenem, das uns bekannt ist.
[Aus dem Kroatischen von Mascha Dabić]
Ivana Šojat-Kuči wurde 1971 in Osijek, Kroatien, geboren, wo sie heute, nach längerem Aufenthalt in Belgien, wieder lebt. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband Hiperbole. Ihm folgten weitere Gedichtbände, Kurzgeschichten, Essays und 2009 der Roman Unterstadt (Originaltitel), der sich mit dem Schicksal der Deutschen in Osijek im 20. Jahrhundert befasst. Außerdem hat sie als literarischer Übersetzerin zahllose Bücher aus dem Englischen und Französischen ins Kroatische übersetzt.
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Ich habe mich immer selbst gefragt – anstatt Experten zu fragen –, ob alle gehörlosen Menschen durch die Bewegungen ihrer Hände dauerhaft in einem universalen Verständnis vereint sind, sodass sie keine Simultan- oder Konsekutivdolmetscher benötigen, ob sie von Geburt an mit einem unermesslichem Sinn für das Verstehen, für das grenzenlose Kommunizieren gesegnet sind.
Manchmal denke ich, wir werden durch einen Zufall, oder durch das Schicksal im goldenen Käfig unserer Muttersprache geboren, und so zwitschern wir mehr oder weniger lieblich mit unseren eigenen Leuten, krächzen mit den anderen, nebulös und unverständlich bemühen wir uns, Begeisterung oder Zorn auszudrücken, oder versuchen erfolglos in der „Fremde“ den Weg vom Bahnhof zum Theater oder zu einer einfachen Kantine oder einer öffentlichen Toilette zu finden.
Wir leben in einer Welt, die wie ein unwegsamer Archipel verstreut ist, bauen sprachliche Brücken, um die floskelhafte Ebene des Begriffs Brüderlichkeit zwischen den Völkern zu überwinden. Dabei stolpern wir manchmal, geraten andauernd an Unvorhergesehenes, an etwas außerhalb des sprachlichen Geistes, den wir heraufbeschwören und verbal präsentieren wollen, aber in erster Linie auch geistig, wir rotieren in eine Symmetrie hinein, die uns durch einen Zauber in dieses andere namens „Fremdsprache“ übersetzen kann. Es gibt aber Dinge, die einfach unmöglich sind. Denn jede Sprache ähnelt in einigen Segmenten einer entlegenen Gegend, wo lokaltypische seltsame Schnabeltiere leben, die in anderen entlegenen Gegenden nicht einmal einen Namen haben. Weil es sie dort nicht gibt. Das ist so ähnlich wie die Witze über Mujo und Haso (manchmal ist auch Fata dabei), die ich in einem tadellosen Französisch meinen neuen Freunden in Belgien zum Besten geben wollte. Volle acht Jahre lang. Als ich lange Jahre auf Witze, die mir Lachtränen in die Augen trieben, von meinen belgischen Freunden ein säuerliches, aber eigentlich freundliches Lächeln erntete, begriff ich (und ich brauchte lange dazu), dass Dinge, die man von einem kulturellen Kontext in einen anderen verpflanzt, ganz einfach nicht funktionieren. Das ist so, wie wenn wir einen Seestern aus dem Schatten des tiefblauen Meerwassers herausholen und auf einen paradiesischen Strand legen. Der Stern krepiert einfach und beginnt zu stinken. Gesetzt den Fall, dass er sogar mit Erfolg trocknet und seine ursprüngliche Farbe halbwegs beibehält – er ist nicht mehr das, was uns in der Meerestiefe bezaubert hat.
Hand aufs Herz, auch ich habe lange gebraucht, um die derben Witze der Franzosen über die Belgier zu verstehen und darüber zu lachen. Vieles verstand ich lange Zeit nicht, die Oden von Jacques Brel über den Nordwind, der einem bis in die Knochen hineinkriecht, den Schnee, der auf die allzu graue, trübe Stadt Liège fiel, die Begeisterung für Bier, Käse und das frenetische Grillen zwischen zwei Regengüssen. Es dauerte sehr lange, bis ich mental in der belgischen Tradition ankam, bis ich alles der Reihe nach liebgewann. Selbst die allzu graue Stadt Liège, die im dreisprachigen Belgien gar drei Namen trägt: einen französischen, einen niederländischen und einen deutschen.
Eine Sprache zieht wesentlich mehr nach sich als banale grammatikalische Gebrauchsregeln.
DEM FLUSSBETT ENTLANG
Bis zu einem gewissen Punkt wächst die Welt immer weiter, aber irgendwann schrumpft sie plötzlich, sie implodiert.
Als Kind machte ich mir keine Gedanken über die Sprache. Nicht wirklich. Ich sprach einfach. Ohne Scham und Schüchternheit ging ich auf den Stränden von Biograd oder Split auf Touristen zu, damals waren es meistens Italiener und Deutsche, und plapperte ihnen etwas in einer für sie unverständlichen, wie ich später erfuhr, kroatischen Sprache vor. Mir war nicht klar, wie jemand anders sprechen konnte als ich, wie es sein konnte, dass jemand mich nicht verstand. Ebenso wenig verstand ich den räumlichen Begriff von Stadt, Staat, Kontinent, Kontinenten auf einer Kugel, auf der einige Menschen doch ganz offensichtlich auf dem Kopf stehen mussten.
Die Drava, fotografiert von Heike Geißler; Ivana Šojat-Kuči und Dagmar Leupold während ihres Gesprächs
Die Drava war mein einziger Fluss. Ein von zwei mir bekannten Gewässern. Das andere Gewässer war das Meer. Eines vom anderen klar getrennt: das eine schlammig und süßlich, das andere krankhaft salzig und bläulich. Das ging so lange, bis die Donau sich einmischte. In der Nähe von Aljmaš. Die große, riesige, graue, träge, mächtige Donau. Ich war mir nicht einmal dessen bewusst, dass ich an jenem Tag, es war Mariä Himmelfahrt des Jahres 1976, einen Schritt weiter gegangen war, dass meine Welt größer geworden war, dass sie dabei war, wie eine Amöbe in alle Richtungen zu zerfließen. Über die Menschen drüber.
Für mich waren Menschen erstaunlich lang „nur“ Menschen. Allmählich kamen Etikettierungen dazu, von außen unsichtbare Eigenschaften jenseits der Hautfarbe. Die Menschen erhielten eine nationale, religiöse, politische und soziale Zugehörigkeit. Sie wurden dumm, verbohrt, geizig, faul und allerlei sonst. Nach und nach verschanzten sie sich in Schubladen, machten mich wahnsinnig, verwirrten mich. Auch mit ihrer Sprache.
Die trägen, pannonischen Flüsse, die sich ihr Flussbett durch die Ebene gebahnt hatten, machten diese Ebene zu einer Kreuzung des Handels, der Eroberungen, der ruhmreichen Schlachtfelder, auf denen sich alle ehrenvoll aufplustern konnten, von der Infanterie, über die Kavallerie, bis hin zur Panzerdivision. Auch die Sprache plusterte sich auf, vermischte sich, wurde stur, einzigartig. Wie ein hungriges Kind im Gemischtwarenladen verschlang und verdaute sie problemlos etwas vom Ungarischen, Deutschen, Kroatischen und Türkischen, und trieb die Sprachwissenschaftler, die sie hübsch verpackt in einer Schublade sehen wollten, in den Wahnsinn. Auch alles andere sollte in eine Schublade gepresst werden. Die Menschen ebenso. Damit alles seine Ordnung habe. Wie in einer Apotheke.
ZURÜCK
Ich bin in einem Fundus für Theaterrequisiten geboren. Das habe ich endlich begriffen. In einer Stadt, in der wie auf einer großen Bühne Diktaturen, Absolutismen, Demokratien und Totalitarismen ihren Vorhang aufgehen und wieder zugehen ließen, in der sie ihre jeweiligen Inszenierungen aufstellten, die Schauspieler zum Schafott schickten und ihre jeweiligen Trends aufzwangen. In einer Stadt, die wohl den bestmöglichen Weg durch die kollateralen und direkten Dummheiten der „großen Geschichte“ gewählt hat: Sie nahm von allem das Beste und sicherte so ihr Überleben. Wie eine Erinnerung, die neben uns her läuft, auch dann, wenn wir sie nicht an der Hand halten. Während wir über die Straße gehen.
Menschen sind anders. Das weiß ich. Ich weiß, es gibt feine Fäden, die uns sogar über große, geographische Räume hinweg miteinander verbinden. Nichts geschieht zufällig. So auch nicht die Begegnung von Dagmar Leupold und mir in Osijek. Ihr Roman Nach den Kriegen ist wie ein Zwillingsbruder meines Romans Unterstadt. Ihre Gedichte sind oneirische Schwestern meiner Verse. Alles ist ganz in der Nähe, das wusste ich, als ich ihre Werke las. Obwohl sie in einer anderen Sprache verfasst sind. Der Zweite Weltkrieg, jeder Krieg, sogar der „allerkleinste“, hinterlässt tiefe Wunden, bleibende Narben, die wir hartnäckig kollektiv hinter den Schleiern eines scheinbaren Vergessens verstecken. Als könnte sich all das nicht wiederholen, endlos oft wiederholen. Bloß mit anderen Menschen, die „anders“ sind in den Viehwaggons und vor den Erschießungskommandos. Wir machen uns vor, in der Welt würden nicht nach wie vor jene vorwärts marschieren, deren Phantasie sich vom Szenario einer Massenexekution anregen lässt.
Dagmar kämpft aber. Nicht gegen die Erinnerungen, sondern für Erinnerungen mit einer Stimme, die wir anhören werden, für Erinnerungen, mit denen wir uns aussöhnen können wie im Christentum, auf dass wir weitergehen können, gereinigt und erneuert. In der Zukunft. Denn Erinnerungen sind keine Gewichte, jedenfalls sollten sie es nicht sein. Sie sind wie die Athene, die Kopfgeburt des Zeus. Weise und gelehrt, vollkommen. Mitunter jedoch zornig.
Dagmar hat mich daran erinnert, dass nichts in der Schublade bleiben kann, dass wir nicht zerrissen und in alle Himmelsrichtungen verstreut sind wie mit einem alten Fluch belegte Knochen. Wir sind alle miteinander verbunden. Alle unterschiedlich, aber verbunden. Und wir haben Brücken. Subtile, feine Fäden, die uns auch dann verbinden, wenn wir uns auf den Ruinen des Turms zu Babylon gegenseitig nicht verstehen können, auf immer neuen Ruinen, nach den Kriegen, am Rande von all jenem, das uns bekannt ist.
[Aus dem Kroatischen von Mascha Dabić]
Ivana Šojat-Kuči wurde 1971 in Osijek, Kroatien, geboren, wo sie heute, nach längerem Aufenthalt in Belgien, wieder lebt. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband Hiperbole. Ihm folgten weitere Gedichtbände, Kurzgeschichten, Essays und 2009 der Roman Unterstadt (Originaltitel), der sich mit dem Schicksal der Deutschen in Osijek im 20. Jahrhundert befasst. Außerdem hat sie als literarischer Übersetzerin zahllose Bücher aus dem Englischen und Französischen ins Kroatische übersetzt.